Marias Ankunft

Stobenheimer sank auf die Knie. Endlich war es soweit! Endlich! All die Jahre des Wartens, Hoffens und des Selbstzweifels waren vorbei. Der Augenblick der Offenbarung war gekommen! Andächtig faltete Stobenheimer seine Hände zum Gebet. Sein Blick richtete sich mit Tränen der Freude auf die riesige Marienstatue, der er sein leben lang all seine geheimsten Wünsche anvertraut hatte. Endlich würde sie ihm antworten! Dem Herrn sei’s gedankt! Halleluja!

Hatte der Herr Pfarrer es nicht selbst gesagt? Hatte er nicht in seiner letzten Predigt verheißen, dass sich Maria den Wartenden offenbaren würde? So oder ähnlich waren doch seine Worte? Und hatte er nicht auch den Tag und selbst die Uhrzeit genannt, an dem Maria ihr Schweigen brechen würde? Stobenheimer sah noch einmal auf die Uhr. Der Pfarrer hatte gesagt, dass etwa gegen zwanzig Uhr Maria erschien würde, um ihre Tätigkeit zu beginnen.

Maria! In allen Stunden seiner gequälten Gedanken war Stobenheimer in die Kirche gekommen, um vor der Marienstatue niederzuknien. Ganz still und leise hatte er ihr von seinem Leben erzählt, hatte sie in seine intimsten Geheimnisse eingeweiht und hatte sie immer und immer wieder um Rat gefragt. Nie bekam er die Antworten, auf die er so geduldig wartete. Immer wieder sagte er sich, dass Maria sehr wohl wusste, wie es um ihn bestellt sei. Wenn es denn an der Zeit war, ihm zu antworten, würde sie es schon tun. Nur der Geduldige erhält Antworten, Ungeduld aber ist eine Eigenart, die im krassen Gegensatz zu Marias heiligem Verständnis von göttlicher Wahrheit stand.

Er war geduldig! So viele Jahrzehnte. Bis heute! Und heute war der tag gekommen, der sein leben ein für alle male verändern sollte! Heute! Gegen zwanzig Uhr! Natürlich hatte Maria bestimmt viele weitere Verpflichtungen, als sich nur um ihn zu kümmern. Keine Ungeduld! Beharrlich darauf warten, dass der Moment der Offenbarung nicht mehr weit ist...!

Zwanzig Uhr und zehn Minuten.

Stobenheimer schmerzten die Knie. Unverwandt starrte er auf die Marienstatue. Sie würde kommen! Gewiss würde sie kommen! Der Herr Pfarrer hat es höchstpersönlich verkündet! Und was ein Pfarrer von der Kanzel verkündet, ist verbindlich! Punktum! Zweifler werden niemals zu den auserwählten Menschen gehören, die Maria von Angesicht zu Angesicht begegnen werden!

Stobenheimer hörte Schritte hinter sich. Er wagte es nicht, seinen Blick von der Marienstatue abzuwenden. Herr im Himmel! Sie könnte es sein! Mit einer klitzekleinen Verspätung fand er sich doch allemal ab.

Aus seinen Augenwinkeln sah er den Schatten, der sich langsam neben ihm aufbaute. Herr im Himmel! Sollte er sich umdrehen oder nicht? Konnte er einfach Maria ins Antlitz sehen – ohne dadurch seinen Verstand verlieren zu müssen? Nein! Er würde sie nicht ansehen, bevor sie ihn nicht dazu aufforderte! Stattdessen wollte er ein paar freundliche Worte an sie richten, um ihr seine tiefe Demut zu demonstrieren:

„Maria! Heilige Mutter unseres Herrn! Vor Dir verneige ich mein Haupt und bete, dass Du mich von meinen Qualen erlösen kannst. Ich danke Dir, dass Du meine Gebete erhört hast, Maria! Danke! Nochmals danke, Maria...!“

„Du hier Pfarrer? Ich Maria. Neue Putzhilfe für Kirche. Du mir sagen, wo Raum ist, wo mich umziehen? Hier viel Dreck. Maria gleich anfangen, saubermachen! Ist schon viel spät...!“

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