Michael Kothe

Hinterm Deich und stundenweise

„Hinnerk Hansen, Deichweg 14, Kleinsüderbrarup.“ Über den Verkaufstresen hinweg strahlt ihn die junge Frau an. „So, nun habe ich all Ihre Daten. Noch schnell die Eingabetaste gedrückt, und hier haben Sie den Ausdruck mit Ihren Zahlen und Ihrer Spielernummer.“

„Keine Kontonummer, keine PIN?“

„Nee, Herr Hansen, Ihre Lottozahlen werden zwar alle in den Computer eingegeben, aber Sie wollen den Lottoschein ja immer noch bar bezahlen. Namen und Anschrift habe ich nur erfasst, damit Sie künftig einfach mit Ihrer Spielernummer tippen können.“

„Fein, dass wir nu‘ auch hier hinnerm Deich endlich unsere eigene Lottostelle haben! Aber wie können Sie denn davon leben, Frau … Henning?“, setzt er hinzu, nachdem er das obligatorische Namensschild neben der Zeitschriftenauslage entdeckt hat, das eine Martina Henning als Kioskbetreiberin ausweist. „So groß ist Kleinsüderbrarup nu‘ auch wieder nich‘. Zumal Sie ja nich‘ jeden Tag kommen und dann auch nur stundenweise.“

„Da machen Sie sich mal keine Sorgen! Das ist eben die Zeit, zu der sich meine Schwiegermutter bereit erklärt hat, auf die Kinder aufzupassen. Und das Risiko ist überschaubar. Der Gewerbeschein hat einmalig 40 Euro gekostet, die Pacht für den Kiosk kostet nicht die Welt, und die Zeitungen und Zeitschriften laufen auf Kommission. Das heißt, unverkaufte Exemplare gehen als Remittenden an den Verlag zurück. Kleinsüderbrarup ist zwar klein, hat aber ein großes Einzugsgebiet, denn die nächste Lotto- und Totoannahmestelle ist zwanzig Kilometer weit weg. Wenn nur ein paarhundert Leute mittwochs und samstags wie Sie für zehn Euro tippen, bleibt für mich genug an Gebühren hängen, um passabel über die Runden zu kommen.“

„Und Ihr Mann da drüben? Der könnte Sie doch die restliche Zeit vertreten.“

„Nee, der muss in die Arbeit. Er hilft mir nur heute am Eröffnungstag. Und Ihnen wünsche ich viel Glück.“ Schalkhaft zwinkert sie ihm zu. „Vielleicht ist Ihnen als meinem ersten Kunden die Lottofee ja besonders hold.“

 

Seit einer halben Stunde sind die Lottoqouten der Samstagsziehung bekannt. Der Laptop auf dem Küchentisch ist noch aufgeklappt, und das Display mit der Excel-Tabelle strahlt mit der Küchenlampe darüber um die Wette. Ein Name in der Tabelle wird durch eine große Zahl dahinter in Fettdruck hervorgehoben.

Hart setzt die junge Frau ihr Bierglas auf der Tischplatte auf, sie kämpft mit den Tränen. Tränen der Wut und der Verzweiflung. „So ein verfluchter Mist!“ Kratzend schabt ihr Stuhl über die Fliesen, als sie ihn brüsk zurückschiebt, denn im Sitzen hält sie es nicht länger aus. Mit einem Ruck stemmt sie sich hoch, geht die wenigen Schritte zur Küchentür und lehnt sich an den Rahmen. Heftig schlägt sie mit der flachen Hand ein paarmal gegen die Wand. „Eine Viertelmillion! Da ist dieser Hinnerk Hansen mein erster Lottokunde, und dann tippt er gleich sechs Richtige!“

Besänftigend legt ihr Mann ihr seine Hand auf die Schulter. „Andrea, beruhige dich! Es ist nichts passiert. Dieser Hansen kennt dich als Martina Henning. Unser Geschäftsmodell hast du ihm ja erklärt, auch wenn du verschwiegen hast, dass wir seinen Einsatz behalten, weil die Lottozentrale in Kiel nichts von uns weiß. Wenn, wie du ihm gesagt hast, nur ein paarhundert Leute tippen, bleiben uns immer noch einige tausend Euro im Monat. Davon können wir die Kleingewinne locker auszahlen. Das mit dem Volltreffer gleich zu Beginn war eben Pech.“ Er legt ihr beide Hände auf die Schultern, dreht sie zu sich herum und legt zärtlich seine linke Wange an ihre. Beruhigend dringt seine Stimme an ihr Ohr. „Noch mal: Es ist nichts passiert. Kleinsüderbrarup müssen wir abschreiben, na und?“ Er drückt seine Arme durch, sodass Andrea ihm nun direkt in die Augen sehen muss. Sein Grinsen ist breit und aufmunternd. „Aber unsere übrigen sechs Lottokioske laufen doch prächtig!“

 

Bild zu Hinterm Deich und stundenweise

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Michael Kothe).
Der Beitrag wurde von Michael Kothe auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.04.2025. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

Bild von Michael Kothe

  Michael Kothe als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Entscheidung am Bahnhof Zoo von Yvonne Habenicht



Die Geschichte spielt im Berlin der 90er Jahre.

Den beiden Freundinnen Andrea und Sigrid hat im Laufe weniger Monate das Schicksal übel mitgespielt. Mit dem Weihnachtsfest scheint sich eine positive Wende anzukündigen. Andreas Beziehung zu Wilfried Ruge, die anfangs unter keinem guten Stern zu stehen schien, festigt sich. Auch ihre Freundin glaubt in Wilfried ein verlässlichen Kameraden zu sehen. Beide Frauen nehmen ihr Schicksal optimistisch in die Hand.

Sie ahnen nicht, dass der Mann, dem sie vertrauen, ein gefährlicher Psychopath ist und insgeheim einen schaurigen Plan verfolgt. Auch, als sich Warnungen und Anzeichen häufen, wollen die Frauen die Gefahr, die von dem Geliebten und Freund ausgeht, noch nicht wahrhaben. Ausgerechnet Sigrids behinderte Nichte wird folgenschwer in den Strudel der schrecklichen Ereignisse gerissen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Sonstige" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Michael Kothe

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Marion wieder besser v***** können! von Michael Kothe (Humor)
MANCHMAL GIBT ES NOCH KLEINE WUNDER von Christine Wolny (Sonstige)
Musikunterricht á la Ganther von Norbert Wittke (Schule)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen