https://youtu.be/_VlDLl75640?si=-q0W9npduXu32Gsr
Man begegnet ihm in der Stadt oder im nahen Park auf einer Bank sitzend. Manch einer nennt ihn Stadtstreicher oder Penner.
Manchmal, wenn er durch die Hauptgeschäftsstrasse läuft, sieht er sich um, blickt in das eine oder andere Schaufenster, lächelt und schüttelt den Kopf. Was auffällt ist seine Kleidung. Sie hat bestimmt schon einige Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte auf dem Buckel. Nicht, dass er ungepflegt erscheint. Nein, seine Klamotten sehen sauber aus, Hose und Hemd sind gebügelt. Auch sonst scheint dieser alte Herr eine gepflegte Person zu sein, und mir würde niemals der Gedanke kommen, ihn als Stadtstreicher zu bezeichnen. Wie krank doch das Wahrnehmungsvermögen mancher Menschen ist.
Eines Morgens, ich sitze im Sommergarten eines Eiscafes, setzt er sich zu mir. Ich grüße und er lächelt mich an und sagt: „Guten Morgen, mein Herr. Sie genießen die ersten Sonnenstrahlen?“
„Nun ja“, sage ich. „Ganz so viele gab es in diesem Jahr noch nicht. Aber Sie haben Recht. Es ist wirklich ein Genuss bei diesem Wetter hier draußen zu sitzen.“
Er bestellt ein Glas Mineralwasser und nickt der Kellnerin freundlich zu. „Vielen Dank für ihre Mühe!“
Sein Gesicht ist glatt rasiert, sein Haar ordentlich gekämmt. Was mir besonders ins Auge sticht, sind seine gepflegten Hände. Körperlich schwer gearbeitet hat mein Gegenüber in seinem Leben wohl noch nicht. Er trinkt einen Schluck, fragt mich dann: „Sie sind berufstätig?“
„Ja“, erwidere ich. „Bin dankbar, dass ich einen einigermaßen krisensicheren Job habe. Und Sie, was haben Sie beruflich gemacht?“
Es dauert eine Weile bis er antwortet.
„Tja, was habe ich gemacht? Arzt war ich, vierzig Jahre lang habe ich in verschiedenen Kliniken gearbeitet.“ Ich bin erstaunt, damit hatte ich nicht gerechnet. „Oft habe ich den Leuten gesagt, sie sollen dieses oder jenes loslassen. Dann würden sie wieder gesund. Aber das ist für uns Menschen wohl das Schwerste überhaupt, dieses Loslassen.“
„Ich verstehe nicht so ganz was Sie meinen, mein Herr.“, sage ich.
„Ach ich plappere mal wieder was daher. Entschuldigung, ich will Sie nicht in ihrer Stille stören.“
„Das ist nicht so. Mich stört es ganz und gar nicht.“ Er lacht.
„Hören Sie die Lieder der Singvögel? Ein jedes ist eine besondere Komposition.“ Er schließt die Augen, legt seinen Kopf in den Nacken und lauscht eine Weile dem fröhlichen Klang eines Vogelliedes, das aus dem grünen Blätterdach einer Birke, seine Noten in die Welt schickt.
„Wissen Sie, junger Mann, wir werden geboren und bringen nichts, außer uns selbst, mit auf diese Welt und wenn wir sie wieder verlassen, können wir nichts mitnehmen. Während unseres Daseins auf dieser Erde, verhalten wir uns allerdings so, als könnten wir alles unverändert behalten. Dieser Irrglaube führt zur Begierde, zu Machtstreben und natürlich zu der Angst, das Erreichte wieder zu verlieren. Oft macht dieses Verhalten krank. Immer wieder habe ich solche Situationen erlebt. Der Zustand der Psyche überträgt sich auf die Materie des Körpers. Wie der Buddha schon richtig erkannt hat, ist das Begehren die Ursache allen Leidens.“
„Ja, guter Mann, da mögen Sie wohl recht haben aber wo fängt Begehren an und wo hört es auf?“ „Sehen sie meine Kleidung? Manches Stück, zum.Beispiel diese Jacke hier, ist schon zwanzig Jahre alt. Macht aber nichts, denn solange sie ihren Zweck erfüllt, sauber und ohne Löcher ist, genügt sie mir voll und ganz. Dieses ganze „Mithalten können“, das heute schon in den Kindergärten anfängt, führt viele Menschen in die Einsamkeit, löst aber auch Neid und Aggressionen aus. Den Kindern wird vieles beigebracht nur das, was Leben bedeutet, wird meistens zu fabulös definiert.“
„Da ist schon etwas dran“, sage ich. „Da sollte man doch so manches Mal Kompromisse schließen.“ "Quatsch, Kompromisse schließen! Bei einem Kompromiss bekommt niemand das, was er eigentlich will! Wenn wir den stillen Weg betreten, der von Liebe und Frieden begleitet zur Wahrheit führt, wird uns manches Elend erspart bleiben. Aber Schluss jetzt. Ich möchte hier keinen missionarischen Vortrag halten. Auf Wiedersehen und einen schönen Tag noch.“ Er zahlt und geht. Ein Morgen in einem Eiscafe. Eine halbe Stunde saß dieser nette Herr bei mir. Eine halbe Stunde, die dazu beiträgt, meinem Leben eine andere Richtung zu geben.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.04.2025.
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