…hätte es werden sollen. Es war alles geplant. Er wollte ausschlafen, ein wenig aufräumen und dann beginnen, seinen Bau auszubessern – nichts Großes, nur ein paar Triebe entfernen, die sich in die Gänge gedrückt haben.
Stattdessen quält er sich unruhig in seinem Nest aus Moos und feinen Wurzeln. Nach einer unangenehmen Nacht des Herumdrehens, Strampelns und gegen die Decke Schnüffelns würde er im Moment nichts lieber tun, als so richtig gemütlich und kuschelig – und vor allem schmerzfrei – weiterzuschlafen.
Seit Tagen und Nächten hatte er nicht mehr richtig geschlafen, konnte auch gar nicht einschlafen. Nicht einmal, wenn er dem trägen Gezapple der kopflosen Regenwürmer drüben in seiner Vorratskammer zuhörte. In deren kreisenden Bewegungen meinte er das unermüdliche, gleichmäßige Pochen in seinem Zahn wiederzuerkennen.
Hätte er nur einen Stein, mit dem er sich diesen schmerzenden Zahn aus dem Maul herausschlagen könnte. Dieser Zahn, dieser dumme Zahn! Wie einfach wäre es, ihn zu zerschlagen – so, dass die Splitter wie verrückt in seinem Mund herumsausen, aber der Schmerz endlich Ruhe gibt.
„Unverzüglich“, sagt Blauohr laut und fordernd zu sich selbst. Es bedeutet, dass es an der Zeit ist, dem Leiden ein Ende zu bereiten.
Blauohr schleicht durch seinen Schlafraum. Kaum ist er imstande, den Kopf zu heben. Er jammert und klagt.
Kurz wirft er einen Blick hinüber in seine Vorratskammer. Er hält die Nase hinein, schnüffelt – und schon beginnt das panische Herumgezappel der Regenwürmer. Blauohr hat sämtlichen Würmern die Köpfe abgebissen. Ist einfach besser so. Das Geschrei nervt ihn. Und Regenwürmer kommen für eine kurze Zeit auch ohne Kopf gut zurecht.
Sollte er eines dieser bemitleidenswerten Geschöpfe hinunterwürgen?
Wobei … „bemitleidenswert“ – na ja. Er muss schließlich etwas essen. Jeder muss doch irgendetwas essen. Am Leben bleiben.
Aber nein – er mag nicht. Oder besser: Er kann nicht. Zu weh tut ihm alles.
„Unverzüglich“, sagt er ein weiteres Mal laut vor sich hin.
Unter normalen Umständen folgt Blauohr einem strengen Tag-Nacht-Rhythmus. Vier bis fünf Stunden gräbt und frisst er, dann schläft er zwei bis drei Stunden – und danach beginnt alles von vorn. Er genießt seinen geregelten Tagesablauf, versucht stets, das Beste aus jeder Situation zu machen, und meidet jeglichen Kontakt zu Nachbarn oder vorbeiziehenden Fremden, so gut es eben geht. Kurz gesagt: Blauohr ist mit Leib und Seele ein überzeugter Einzelgänger.
Bei idealen Bodenverhältnissen kann er mühelos bis zu sieben Meter lange Gänge pro Stunde graben. In seinem weitverzweigten Tunnelsystem richtet er Ruheräume, Vorratskammern und Wohnhöhlen ein – sein ganz persönliches unterirdisches Reich. Besonders wichtig ist ihm natürlich seine Nesthöhle.
Der Schmerz in seinem Maul lässt einfach nicht nach. Blauohr reibt sich die Wange an einem Stückchen Baumrinde, doch es hilft nichts.
„Vielleicht habe ich einfach zu lange an einem falschen Wurzelstock geknabbert“, überlegt er. „Vielleicht beruhigt sich der Zahn von selbst …“
Aber je mehr Zeit vergeht, desto schlimmer wird es. Ein dumpfes Dröhnen hämmert inzwischen durch seinen Kopf. Das ist nicht normal. Er muss etwas unternehmen. Unverzüglich.
Der bloße Gedanke, sein furchtbares Leiden nicht bald loszuwerden, macht ihn ganz schwindelig. Fast noch schlimmer ist jedoch die Vorstellung, bei grellem Tageslicht seinen schützenden Bau verlassen zu müssen.
Aber welche Möglichkeit hat er sonst?
Er streckt seine Glieder und hüpft vorsichtig aus dem Bau. Die Sonne steht schon hoch am Himmel, doch Blauohr schert sich nicht darum. Der Wind trägt allerlei Gerüche zu ihm heran – feuchte Erde, das harzige Aroma der Bäume, der ferne Duft von Pilzen … aber nichts davon interessiert ihn gerade. Sein Zahn puckert und zieht, und er kann an nichts anderes denken.
Er huscht über das Moos, klettert geschickt einen Ast hinauf und bleibt kurz stehen, um sich zu orientieren. Er schnüffelt herum, wälzt seine Gedanken, hält ein lauerndes Ohr gegen mögliche Fressfeinde – und sträubt seinen bläulich schimmernden Pelz, um größer, stärker zu erscheinen.
Die Neigung seines Kopfes ist nichtsdestotrotz arrogant – wie der bunt gefiederte Vogel dort oben im dicht verschlungenen Geäst. In der Natur ist man gewöhnt, mehr zu sein, als man ist. Keck zu lächeln, wenn es brenzlig wird. Die Lippen hochzuziehen, die Zähne zu zeigen, wenn es ...
Ach du lieber Gott, diese Schmerzen!
Wer könnte ihm bloß helfen?
Komm schon, du hast ’n gehörigen Dickschädel – wird also nicht so schwer sein, eine Lösung für dein Problem zu finden.
Die ständig quasselnde Eule vielleicht? Nein. Sie spricht immer in Rätseln, und in diesem Moment hat er keine Geduld für ihre dummen und langweiligen Geschichten.
Der Dachs? Hm. Er ist stark und kennt sich in allem gut aus. Aber er ist auch brummig – und mag es überhaupt nicht, wenn man ihn bei seinen Tagesschläfchen stört.
Blauohr schüttelt den Kopf. Nein, eigentlich gibt es nur eine wirkliche Option: ein Bär.
Zweifellos kann man sich mit so einem unberechenbaren Bären eine Menge unnötigen Ärger einhandeln. Aber Fakt ist: Ein wirklich weitgereister Bär hat viel gesehen, erschnuppert und gekostet – und all das hat sich tief in seinem gemütlichen Kopf als eine Art sonderbares Wissen festgesetzt.
Und das Wichtigste überhaupt: Ein Bär liebt Honig. Und jeder weiß – Honig beruhigt den Kopf und lindert den Schmerz.
Aber wo in aller Welt sollte Blauohr jetzt einen Bären auftreiben? Und selbst wenn er einen fände – wie sollte er ihm schmeicheln?
Bären haben im Allgemeinen eine eigenartige, fast liebevolle Natur – zumindest, solange sie nicht gerade vorhaben, einen mit Genuß zu verspeisen.
Nein. Bei aller Verzweiflung: Diese Möglichkeit ist wohl besser auszuschließen.
Da erscheint ihm ein anderer Gedanke weit klüger.
Miss Bobbit – die Nachbarin von gegenüber.
Unter normalen Umständen käme es ihm nie in den Sinn Miss Bobbit eine Frage zu stellen. Oder schlimmer noch – sie um Hilfe zu bitten.
Allein der Gedanke daran lässt ihn frösteln.
Er sieht sie schon vor sich, wie sie ihn mit hochgezogenen Augenbrauen mustert, ein übertrieben verständnisvolles „Ach du meine Güte!“ haucht und dann sofort beginnt, wild draufloszuplappern.
Aber was bleibt ihm übrig? Der Schmerz sitzt tief, sein Kopf hämmert, und der Gedanke, noch eine weitere Nacht so zu verbringen, ist schlicht unerträglich.
Also schüttelt er sich kurz, richtet sein Fell, so gut es eben geht, und setzt sich langsam in Bewegung.
Zur Miss Bobbit.
Unverzüglich.
Widerwillig hatte er schon so manches Gespräch mit ihr geführt, über den Straßenrand hinweg, während sie ihn mit ihrer krächzenden Stimme zu sich herüberwinkte. Immer mit ausgebreiteten Pfoten, als wäre er ein verloren gegangenes Baby, das dringend eingesammelt werden musste. Und jedes Mal bot sie ihm etwas an – ein Fitzelchen von einem Käfer, eine halbe Spinne vielleicht?
Aber Blauohr weiß genau, was so in ihrem Kopf vorgeht. Miss Bobbit ist stets ein wenig zu gründlich, viel zu rundlich, ein wenig zu träge und entschieden zu forsch. Doch unterschätzen darf man sie nicht. Oh nein! Wenn es darum geht, etwas Anständiges in ihr Bettchen zu locken, ist sie gewitzter als ein Waschbär mit Aussicht auf Zuckerwürfeln.
Um nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen - und sich sofort wieder in Miss Bobbits mitleidigen Armen wiederzufinden - würde er sich zunächst einmal ganz höflich nach ihrem Befinden erkundigen.
Das erscheint ihm jedenfalls als der vernünftigst Einstieg.
Ob er dabei allerdings ihren wichtigtuerischen, selbstzufriedenen Gesichtsausdruck ertragen kann, ohne seinen Schmerz auf der Stelle preiszugeben, steht auf einem anderen Blatt.
Ein kleines Lächeln von seiner Seite würde womöglich nicht schaden. Aber Blauohr ist sehr eigen in seiner Art, in seinem Auftreten und ganz besonders in seinem Lebensstil.
Zum Beispiel liebt er es, wenn ein feiner Sprühnebel seine Stirn kitzelt, kurz nachdem er kräftig niesen musste.
Und – ob man es nun erwähnen sollte oder nicht – es ist eben so: Er mag es, wenn ihm nach einem deftigen Schmaus ein leiser, befreiender Wind entweicht
Aber ein Lächeln? Ach, herrje …
Wie also sollte er Miss Bobbit gegenübertreten, ohne dass sie ihn als alten Griesgram bezeichnet und gleich wieder nach Hause schickt?
Blauohr weiß genau: Miss Bobbit umgibt sich nur mit fröhlichen Gesellen. Miesepeter haben bei ihr keine Chance.
Doch ebenso sicher ist er sich, dass sie ihn – trotz seiner eher ruppigen Art – auch als eine gewisse Herausforderung betrachtet.
Und Herausforderungen, das weiß ein jeder, kann Miss Bobbit nur schwer widerstehen.
„Was ist denn das?!“ ruft Miss Bobbit erschrocken, als Blauohr sich - so ganz ohne Vorwarnung – quer durch ihren gepflegten Bau wühlt.
Als schließlich seine rosa Nase durch die aufgewühlte Erde lugt und sie seinen vertrauten Geruch erschnuppert, hellt sich ihr Gesicht augenblicklich auf. Hocherfreut – und die Situation gründlich missverstehend – denkt sie bei sich: Wenn man nicht bewundert wird, macht sich auch niemand die Mühe, einen zu besuchen. So sagt sie freudig erregt: „ach, Buzzi, was willst du denn hier?“
Blauohr mag es überhaupt nicht, wenn sie ihn Buzzi nennt.
Aber Miss Bobbit hat nun mal ein feines Gespür für wohlklingende Worte und zarte Geschichten. Sie hält große Stücke auf das Sanfte und Schöne – zeigt allerdings wenig Verständnis dafür, wenn auch andere in Herzensangelegenheiten lieber das Zarte und wenig das gewichtige bevorzugen.
Miss Bobbit neigt den Kopf zur Seite und betrachtet ihren Blauohr mit winzig trüben Augen.
Sie schnüffelt sich durch seinen Pelz und sagt: „Ach, Buzzi, dass du mal bei mir vorbeikommst! Manchmal weiß ich wirklich nicht, was mit dir los ist. Immer wirkst du gereizt und so … ablehnend, wenn ich versuche, dich zu besuchen.“
Der Schmerz in Blauohrs Zahn ist schier unerträglich.Und so sagt er kurz und bündig:
„Ich habe … Zahnschmerzen. Es tut so weh!“
Er versucht sich an einem kleinen Begrüßungslächeln, doch das erschrockene Zucken in Miss Bobbits Gesicht verrät, dass es ihm nicht besonders gut gelingt.
„Zahnschmerzen! Ach du lieber Buzzi! Das wünscht man niemanden“, ruft Miss Bobbit richtiggehend mitfühlend. Und da fügt sie, ganz in ihrem pragmatischen Tonfall, hinzu: „Hast du schon versucht, mit dem Kopf voran gegen eine Wand zu laufen?“
Miss Bobbit ist– sagen wir mal – recht rustikal, wenn es um die Behandlung von Wehwehchen geht.
Blauohr ist von dieser Methode … gelinde gesagt, wenig begeistert.
„Gegen eine Wand?“ fragt er ratlos mit einer Pfote an seiner Wange.
Miss Bobbit kommt näher, legt ihre winzige Pfote auf die seine und sagt bestimmt: „Still jetzt, mein Buzzi. Du musst dir nur einen Schmerz suchen, der schlimmer ist als der jetzige. Hinterher hast du dann bloß Kopfschmerzen.“
Blauohr blinzelt. „Und der Schmerz in meinem Zahn?“
Miss Bobbit lächelt verschmitzt und kneift ihre nachtdunklen Augen zusammen. „Der ist dann weg – so, wie es sich für einen schmerzenden Zahn gehört.“
Sie schüttelt sich, als hätte sie gerade einen besonders brillanten Einfall gehabt, kichert und sagt:
„Oder du schneidest dir einfach ein Bein ab. Hat denselben Effekt.“
Blauohr starrt sie entgeistert an. Er nimmt den Vorschlag erschreckend ernst.
Das wird ja immer schöner, denkt er und bereut im selben Moment zutiefst, überhaupt hergekommen zu sein.
Aber was soll er jetzt tun? Einfach wieder gehen? Der Schmerz wird nur schlimmer, je mehr er versuchte, ihn zu ignorieren. Sein pochender Zahn machte ihm unmissverständlich klar, dass Vergessen in Herzensangelegenheiten vielleicht eine Lösung – aber gegen Zahnschmerzen kaum das richtige Mittel ist.
Ein Auge zusammenkneifend und mit geschäftig verzogenem Schnäuzchen ergreift Miss Bobbit mit bedeutungsvoller Aufrichtigkeit das Wort.
„Da hilft nur eins“, verkündet sie feierlich. „Oder um genau zu sein – da hilft nur einer.“
Sie schüttelt sich, als wolle sie verdeutlichen, wie furchtbar, aber zugleich unvermeidlich ihre nun folgende Enthüllung sein wird.
„So etwas Heikles kann natürlich nicht jeder erledigen“, sagt Miss Bobbit und hebt eine ihrer winzigen Pfoten, als setze sie zu einer gewichtigen Rede an. „Dafür braucht es Gespür, Raffinesse und – ganz entscheidend – ein wenig Mitgefühl und Mut. Für beide - Patient und Arzt.“
Sie läßt diesen Satz einen Moment in der Luft hängen, und eröffnet bedeutungsvoll: „Und ich kenne genau den Richtigen.“
Blauohr verzieht das Gesicht. „Wen denn?“
Miss Bobbit grinst verschmitzt. „Dr. Freud … ein Igel.“ Sie hält inne, schüttelte belustigt den Kopf. „Ach, was sag ich da – ein Igel? Ich Dummerchen! Der Igel! Der Dr. Freud!“
Blauohr runzelt die Stirn. „Ein Igel soll mir helfen können?“
Miss Bobbit nickt eifrig. „Aber natürlich! Buzzi, Dr. Freud ist kein gewöhnlicher Igel. Er ist ein Meister der Heilkunst, ein Kenner der tiefsten Geheimnisse des Schmerzes!"
Blauohr schnaubt skeptisch. „Und du bist sicher, dass er etwas von Zähnen versteht?“
Miss Bobbit zuckt die Schultern. „Wer weiß? Aber er versteht etwas von Köpfen – und dein Problem sitzt immerhin direkt in einem drin.“
Blauohr seufzt tief. Das klingt nicht besonders vertrauenerweckend, aber sein pochender Zahn läßt ihm keine Wahl. „Na schön“, brummt er. „Dann bring mich zu diesem Wunderdoktor.“
Miss Bobbit klatscht begeistert in die Pfoten. "Ach Buzzi du armer", die Heftigkeit dieses Moments zeigt sich deutlich in ihren leicht zitternden Schnurrhaaren.
Dann verstummt das Klatschen, und die beiden bewegen sie sich so leise, als wollen sie vermeiden, ein schlafendes Familienmitglied zu wecken, aus dem Bau hinaus.
Miss Bobbit und Blauohr betreten einen dunklen Gang, an dessen Ende Licht durch eine schmale Ritze im Erdreich fällt. Sie schlüpfen hindurch.
Das Licht erhellt nicht nur den Gang, sondern auch diffus einen kleinen offenen Innenraum, der sich dahinter auftut. Auf einer Seite des Raums erhebt sich eine niedrige Plattform, halb verborgen hinter einem dreifach verschlungenen Wurzelstrunk. Darauf steht eine breite, erhöhte Bank – daneben drei verschieden hohe Hocker, offenbar dazu gedacht, bei Bedarf den Größenunterschied zwischen Arzt und Patient auszugleichen.
Irgendwo trampelt ein panischer Tausendfüßler und klackert wild mit seinen Beinchen. Aus einer verborgenen Ecke plätschert leise eine feine Wasserquelle. Die Luft ist kühl und riecht angenehm nach feuchtem Moos und einem Hauch von Minze.
Die Erde, die Wurzeln – alles ist dumpf und schwarz, zugleich steril sauber, alles kreisförmig angeordnet. Zwei Augen – ebenfalls kreisrund, tiefschwarz wie der Rest der Höhle.
Da ist Freud, Doktor Freud, der nur schaut, vielleicht nicht gestört werden will, sich nun aber doch ächzend auf seiner Bank entrollt, stöhnt und sich zu einem Lächeln zwingt.
„Na, was sagen´S zu meinem wohlig kleinen Diwan?“, fragt der grosse Dr. Freud schläfrig, während er ,nicht ganz wiederwillig, mit ausgestrecktem Arm die Einrichtung präsentiert. „Pipifein, net wahr? I find ja, a Patient braucht a kommods Platzerl zum Liegen – damit er die Annehmlichkeitn einer Behandlung so richtig gut genießen kann.“
In seiner winterlichen Seele – die zweifellos irgendwo in ihm schlummert, versteht er es meisterhaft, selbst die lässig und nonchalant dahingeworfenen Wiener Worte mit einem augenzwinkernden Charme zu begleiten. Es blitzt etwas auf: ein winziger Funke.
Ein Funke, der Miss Bobbit ganz schwummrig vor Verliebtheit werden lässt und Blauohr, trotz allem, eine hoffnungsvolle Röte ins Gesicht treibt.
Es ist, als sei unser Freud direkt dem Geist des wahren Freuds entsprungen. Und er kann – und will – diese Tatsache gar nicht abschütteln.
Auch wenn seine Aussprache, die Wortwahl und der Dialekt sicherlich nicht ganz den Gepflogenheiten des echten Freud entsprechen mögen, so ist er doch – nach eigener, äußerst geschätzter Meinung – ein würdiger Bewunderer.
In seinen Augen genügt es vollauf, die Aura der Weisheit, des Witzes und der tiefgründigen Welterklärung des von ihm so geschätzten echten und wahren Dr. Freud auszustrahlen.
Was sind schon ein paar verschliffene Vokale und ein Hauch ländlicher Derbheit, wenn dafür die große Idee in ihm weiterlebt?
Nach dieser Eröffnung starrt Freud Miss Bobbit und Blauohr mit einem merkwürdig nichtssagenden Blick an. Dann holt er Luft und streckt den beiden jeweils eine Pfote entgegen. Die Arme sind überraschend kurz geraten, fast bedrohlich, und so kommt Blauohr gefährlich nah an die scharfen Stacheln heran.
In starkem, langgezogenem Wiener Dialekt – oder was er für einen Wiener Dialekt hält – sagt Dr. Freud – nun bereits in bester Laune: "Ah, do schau her, zwoa Schea – Maulwurf, Erdwerfer, Buddler ganz eifrige Tunnellgraber aus der Familie der Talpidae di fido. Hatt’ schon mal das Vergnügen. A bissl is her. Zwa Lauser warns. Aufpudelt hams se se. A klane drollige Rauferei halt, nix Dramatisches. Der eine Blutzer hat dem andern a wenig s’Wampal aufgrissen – net allzu bös g’meint, mehr a impulsive G’schicht halt. Dafür hat’s den andern ganz schön d’Ohrwascheln griss´n.
Net schön, das Ganze – na, gar net schön. Vielleicht ja doch a bissl mehr als nur a Ringelgspiel. … dem einen musst ich´s Ohrl abschneiden – ordentlich, mit an saubern Schnitt - so wie si des ghört. Und den andern ..."
Freud schaut Blauohr tief in die Augen, hebt die Pfote und zieht sie langsam über seine eigene Kehle.
„Sie Verstehn?“
Einen Moment lang steht Blauohr wie gelähmt, unfähig zu sprechen. Doch da findet Miss Bobbit – ebenfalls gehörig eingeschüchtert – ihre Stimme wieder:
„Immer diese Rohlinge. Würde mich nicht überraschen, wenn’s mal wieder um eifersüchtiges Herumgeschnappe ging.“
„So iss', meine Gnädigste."
"Da sieht man, wohin sowas führt.“
„Wohin denn, Gnädigste?“, fragt Freud mit schiefgelegtem Kopf.
„Na, sich an jemanden zu binden.“
„Zu bind'n?“
„Hatte selbst mal so ein Prachtexemplar. So ein Fell! So ein Gang! Ein interessantes Spektakel! Schade nur, dass im Kopf nix drinnen war außer Faulheit und – Tuttifrutti.“
„Tuttifrutti?“
„Ach, endlose Balgereien im Bett.“
„Das nennt man narzisstische Kompensation, meine Liebe“, murmelt Freud, blinzelt verschmitzt und kichert leise. „Anbandeln und so ... Nie einen Gedanken dran verschwendet – nein, nie g'habt so was.“
„Niemand könnte jemals wieder Anspruch auf mich erheben – der könnte sich auf was gefasst machen.“
„Na, san Sie nicht ohnehin schon a bissl zu … na ja, fortgeschritten?“
„Mein lieber, liebevoller Herr Doktor – fortgeschritten?“ Miss Bobbit zieht die Augenbrauen hoch und schenkt ihm ein süßliches Lächeln.
„Für Tuttifrutti“, murmelt Freud trocken.
Miss Bobbit seufzt – ein merkwürdiger Seufzer, weich und voller Töne, die irgendwo zwischen Melancholie und Trotz liegen. Etwas schwingt mit, das schwer zu deuten ist. Sehnsucht?
Blauohr glaubt, es ist Sehnsucht.
Er betrachtet sie verstohlen. So verschämt rot hat er ihre Nase noch nie gesehen. Vielleicht liegt es am Licht … oder an diesem seltsamen Gespräch.
Aber was weiß Blauohr schon von Dingen wie Liebe, Verführung – oder Tuttifrutti?
Er kratzt sich verlegen am Ohr – und merkt dabei, dass ihm ausgerechnet das fehlt, was man für solche Themen gut gebrauchen könnte: ein bisschen mehr Mut.
„Ach, Verzeihung, gnä' Frau“, sagt Freud. „Ich wünschte, ich hätt' das jetzt nicht g'sagt.“
„Versteh schon, Herr Doktor, versteh schon“, murmelt Miss Bobbit und blickt sich um.
„Eine hübsche Praxis haben Sie hier, Herr Doktor. Richtig hübsch und gemütlich, als hätte man eine Wagenladung Daunenfedern hier reingeschüttet.“
„Mitnichten. Dass da, meine Beste, sind nur Schmetterlingsflügerl. Hab sie g'sammelt. Und ein wenig den dumpfen Boden damit verschönert.“
Er lächelt stolz.
„So was nennt man Zirkulation, meine Beste – circulatio habitus. Nichts wird verschwendet, verstehen´s? Die Körper: äußerst schmackhaft, zart im Biss. Und was übrig bleibt, wird – mit a bisserl Raffiness – anderweitig verwertet.“
Er verbeugt sich galant und deutet mit einer seiner Pfoten nach hinten.
„Darf ich Ihnen etwa höflichst dort drüben mein kleines Sortiment präsentieren? Ganz hinten – ein Häufchen standhafter Käferfüßlein, ideal zur Zahnreinigung. Und gleich da vorn, ein paar besonders harte Mäuseknöchelchen – bestens geeignet, um meine Stacheln zu schärfen.“
Genug jetzt, denkt Blauohr. Kaum ein paar Minuten in dieser Praxis, und schon verliert sich alles in belanglosem Geschwafel.
Er räuspert sich, lehnt sich leicht nach vorne und fragt mit ungewohnt bestimmtem Ton:
„Aus welchem Bau kamen denn diese beiden Rohlinge? Waren’s Graue oder Blaue?“
Freud, ein wenig irritiert von der doch eher ruppigen Unterbrechung, kratzt den Boden.
„Hm … hab ehrlich gsagt nicht so genau drauf g’schaut, mein Bester. Könnten Blaue gwesen sein … oder vielleicht doch ein Grauer und ein Blauer – ein Revierkampf oder so was. Hm, ein Begattungstanz vielleicht. Wer weiß das schon so genau bei diesem rassisch so entarteten Ges… äh … na ja, lassen wir das.“
Blauohr zieht die Stirn kraus, schon leicht verärgert.
„Und wie geht’s dem einen jetzt? Dem ohne Ohr?“
Freud, viel zu sehr von sich selbst eingenommen, um sich auch nur im Geringsten für seine rüde Anspielung zu schämen, winkt bloß lapidar ab.
„Ach, wissen´s … was für ein Leben wär denn das? Welchen Zweck hätt es denn, so a Leben ganz ohne Ohren?“
Er macht eine Pause und dann – wie zuvor – eine langsame, bedeutungsschwangere Geste mit der Pfote, quer über seinen Hals.
„… s`Löfferl abgebn.“
Dann beugt er sich ein wenig vor, sein Lächeln seltsam mild. „Blauohr, richtig? Und Ihr Titel?“
„Titel?“
„Na Titel, wie ist denn ihr Titel? Niemand heißt doch einfach nur Blauohr! Schaun`s mich an – ich heiß Doktor Freud. Ein wohklingender Name, net wahr? Aber das Doktor ist ja nicht bloß a Wort, sondern a Titel! Ein Zeichen von Rang und Würde! Und – haben Sie auch so an schönen Titel?“
Blauohr schüttelt stumm den Kopf.
Freud klopft sich mit der Tatze an die stachellose Brust und grinste verschmitzt. „Na, das lässt sich ja leicht ändern! Wenn Sie keinen Titel haben, dann verleihe ich Ihnen eben einen. Ganz einfach und obendrein günstig! Als renommierter Doktor steht mir das ohne Weiteres zu.“
Blauohr blinzelt verwirrt. „Sie … Sie können einfach so Titel verleihen?“
Freud nickte eifrig. „Aber natürlich! Ich hab’s ja bei mir selbst so gemacht. Und sehn´s, wo ich heute steh – ganz oben in der Ärzteschaft!“ Er breitete die Arme aus, als wolle er eine unsichtbare Menschenmenge beeindrucken.
"Schaun´s es gibt akademische Titel, Berufstitel, Amtstitel … und dann gibt’s noch sogenannte Nebentitel – nicht ganz so bedeutend, aber immerhin. Sowas wie ‚Amtsassistent‘ – abgekürzt AAss, oder auch OAAss. Wissen Sie, was das heißt? Na? Raten´s mal!“
Er grinst noch breiter.
„Der volle Titel ist natürlich Oberamtsassistent. Beeindruckend, nicht wahr? Aber für uns ist des nichts. So etwas ist nix für unsre Liga – das ist was für die Verwaltung, nicht für uns.“
Er hebt bedeutungsvoll eine einzelne Kralle.
„Für uns nehmen wir etwas von ganz oben. So etwas wie … Hofrat! Studienrat! Hm. Vielleicht wäre sogar Ökonomierat passend.“
Er kratzt sich kurz und ungeniert zwischen den Beinen, dann leuchten seine Augen auf.
„Warten Sie – ich hab’s! Professor! Professor Blauohr – das hat doch einen Klang, nicht wahr?“
Blauohr errötet ein wenig, sagt aber nichts.
„Oder doch lieber etwas mit mehr Prestige?“ Freud legt den Kopf schräg . „Nun, ‚Doktor‘ wäre natürlich eine Hausnummer für sich – aber so weit würde ich jetzt wirklich nicht gehen. Zwei Doktoren in einem Raum? Ich bitt Sie. Nein das geht nicht .... nun, vielleicht ja - ein Baron? Oder ein Graf? Das klingt doch wahrhaft edel, finden´s nicht auch?“
Er mustert Blauohr prüfend, als würde er sich bereits eine goldene Plakette mit Namen und Titel an dessen Haustüre vorstellen. „Na, was derfs denn sein?"
Blauohr weiß nicht so recht, ob er erleichtert oder noch besorgter sein soll. „Und was …würde mich so ein Titel den kosten?“, fragt er vorsichtig.
Freud lächelt verschmitzt. „Ach, nicht viel, sagen wir … a klitzekleine Gefälligkeit. Nix Großes, nur a winzig kleine Untersuchung, worum ich schön bitten dürft.“ Seine Augen funkeln dabei auf eine Weise, die Blauohr gar nicht gefällt.
Er geht ein Stück zurück. „Äh … vielleicht sollte ich doch lieber einfach Blauohr bleiben …“
„Wie´s meinen, ganz wie´s meinen. Man soll ja niemanden zu seinem Glücksvogerl zwingen,“ murmelt der Igel.
Blauohr atmet tief durch und versucht, sich zu beruhigen. „Also gut …“, murmelt er schließlich, doch kaum hat er gesprochen, durchzuckt ihn erneut ein stechender Schmerz, und ein leises Knurren entfährt ihm.
„Na, was haben wir denn für ein Problemchen heut?“ fragt Dr. Freud jetzt ganz unbefangen.
„Furchtbare Zahnschmerzen“, winselte Blauohr.
„Zahnschmerzen? Mei, wie liab, i bin ja mehr der Typ für psychosomatische Verspannungen mit ein bisserl leiden. Aber so a echter Zahnschmerz? Respekt, mein Freund“, sagt der Igel. „Das ist kein bauxerl, wie wir Wiener zu sagen pflegen ... Schmerz – a richtig unguter Begleiter. A Gfrast, der sich bei der Hintertür reinschleicht und dann nicht mehr gehen will. Schmerz fängt immer leise an, und dann – auf einmal – setzt er richtig ein, wie die U-Bahn um fünf in der Früh. Aber Schmerz ist auch philosophisch, verstehn’s, werter Herr Blauohr. Schmerz zwingt einen immer, übers Leben nachzudenken. Ich sag’s Ihnen: Nichts, nichts ist besser zum Grübeln über dies und das – als so ein richtig peinigender Schmerz. Denn bedenken’s: Kaum ist der Schmerz weg, gibt’s auch schon nix mehr zu bedenken. Über’s Leben, über’n Sinn und so. Wissen’s – a Wiener trägt den Schmerz immer mit Fassung. A bissl jammern, ja freilich, das gehört quasi zum Kulturgut. Aber dann – stehst auf, trinkst an G’spritzten, und hoppala – alles ist wieder gut.“
„Ich will doch nur, dass es aufhört …“, lamentiert Blauohr, als hätte er Freuds Vortrag kaum zugehört.
„Aha – Verdrängung! Versteh schon, is einfach a urtypisches Symptom. Also, wissens, werter Herr … mir scheint, Sie tragen an tief sitzenden inneren Konflikt mit sich herum. A Mischung aus existenzieller Müdigkeit und dentalem Weltschmerz – wenn i des so einfach und profan vor mich hin behaupten darf.“
„Alles von eine einzigen Zahn, Herr Doktor. Das ist ja furchtbar.“
„So ist es eben, mein Bester! Man muss das richtig analysieren – leicht ist das nicht, aber dafür bin ja ich da. Das ist schließlich meine Profession, da kenn ich mich aus. Sie können’s mir ruhig glauben: Ich versteh was davon! Meinen Titel hab ich mir ja schließlich nicht grundlos verliehen – da muss man schon ein bissl was im Kopf haben.
Ich kann mit bestem Wissen behaupten, dass jeder Zahn ein Speicherort für unerfüllte Wünsche ist – Sehnsüchte, Träume … wobei Albträume da nicht ausgenommen sind, nein, nein. Es ist alles eine Frage der mentalen Platzierung! Der Zahn, mein Lieber, der Zahn – das ist, na – quasi die Perle in der Auster."
Er zwinkert bedeutungsvoll und sagt: „Sagens, Herr Blauohr – hatten’s denn etwa gar a arg graue Kindheit?“
Freud, dessen kleines, braunes Gesicht mit seinen feinen Zügen beinahe aristokratisch wirkt, legt es in zahlreiche nachdenkliche Falten. Mit bedächtiger Langsamkeit kratzt er sich hinter den Ohren – ausdauernd, mit der Ruhe eines wahren Philosophen, bis er schließlich einen winzigen, heftig zappelnden Floh aus seinem dichten Ohrenpelz hervorzieht.
„Ja, da schau einer her“, murmelt er zufrieden, während seine scharfen Augen das zierliche Insekt begutachten. „Was zum Schmausen.“
Ohne weitere Umschweife steckt er sich den zappelnden Floh in den Mund und beginnt gemächlich zu kauen. Blauohr beobachtet das Schauspiel mit einem Anflug von Ekel – und ist sich fast sicher, einen winzigen, verzweifelten Schrei aus Freuds Maul gehört zu haben.
„Zahnschmerzen, sagen’s? Hmmm… a so a fescher Alpidae di Fido hat vermutlich äußerst selten mit so was Schlimmem zu tun, hab ich nicht recht?“
Blauohr nickt schüchtern. „Ich habe noch nie so Zahnschmerzen gehabt.“
„Aber gehns! So arg? Na, aber wissens, Herr Graf, ich sag nur ein Wort – nämlich, jetzt passens auf: Panik. Wissens, Panik ist das Letzte, was man in so einer Lage gebrauchen kann – oder besser gsagt: das Erste, das man unter keinen Umständen zulassen sollte. Also, Regel Nummer eins: Keine Panik!“
Er strafft seine kleinen Schultern und fährt mit bedeutungsvoller Miene fort: „Das gilt übrigens nicht nur für den Patienten. Selbst ein Arzt von Rang und Ansehen kann hin und wieder von einer kleinen Panikattacke heimgsucht werden. Aber keine Sorg! Bei einem renommierten Fachmann wie mir besteht natürlich keinerlei Grund dafür.“
Dann scheint ihm plötzlich etwas einzufallen. Er reibt sich nachdenklich das Kinn – oder das, was bei einem Igel einem Kinn am nächsten kommt – und fragt: „Hab ich Sie eigentlich schon nach Ihrer Kindheit gfragt? Ja, ich glaub schon … oder etwa nicht? Hm, so etwas vergess ich doch glatt manchmal. Aber egal! Erzähln's mir doch noch einmal, ein bissal. Vielleicht geht der Schmerz dann von ganz allein wieder weg.“
„Meinen Sie wirklich?“ fragt Blauohr skeptisch.
„Ja natürlich!“ ruft der Igel enthusiastisch. „Man muss alles nur gründlich durchleuchten. Wer weiß – vielleicht ist Ihr Schmerz ja rein psychischer Natur! Es ist alles möglich. Sie müssen wissen: Die Wissenschaft ist ja eine Wissenschaft für sich.“
Er winkt ab und ergänzt: „Wir reden ja da nicht von einem einfachen Wehzahngebilde, nein, wir reden da von seelischer Erosion, von traumabedingter Nervenirritation, von der bedauernswerten Vormacht des Schmerzes!“
Er hält inne, dreht sich zu Blauohr um und legt ihm einen leicht gebogenen, dürren Ast quer auf den Kopf.
„Mein Stereoskop“, sagt Freud sachlich, ohne eine nähere Erklärung dazu abzugeben.
„Haben´s oft das Gfühl, übersehen zu werden? In der Erde zu versinken, metaphorisch gesprochen? Oder, äh, ganz wörtlich?“
Blauohr schluckt. „Also, ich ... also, ich wohne nun mal unter der Erde ...“
„Aha! Verdrängung! Klassischer Fall!“, ruft Dr. Freud triumphierend, als hätte er gerade einen besonders kniffligen Knoten gelöst. „Sagen´s, träumen´s manchmal von wüden Zähnen, die lustvoll an Ihren Knocherln kratzen? Schenkte Ihnen Ihre liebe Mama zu wenig Beachtung in Ihrer Kindheit? War Freiheit für Sie nur a verschwommener Fleck in der Ferne? Kam Ihnen jemals der irrwitzige Gedanke, mit Ihrer Mutter zu schnaxln? Mit wie vielen Mäderln haben’s denn unkeuschheut trieben? Und keine Details bei der Antwort auf diese letzte Frage auslassen, bittschön. Wovon träumen´s denn im Frühling? Träumen Sie häufig?
„Ach Gott“, sagt Blauohr leise, „ich wünsche mir doch nur, dass der Schmerz endlich aufhört.“
Freud spitzt die Ohren. „ Na, das ist auch a Traum, mein Lieber. Und Träume sind Botschaften. Man muss sie nur richtig deuten. Aber gut – bevor wir zur Diagonose schreiten, werfen wir vielleicht doch noch an Blick in diesen leidenden kleinen Schlund da. Machen’s mal das Goscherl a bissl auf. Sie werden´s gleich merken, was es ausmacht, von einem renommierten – selbst ausgebildeten – Doktor behandelt zu werden, im Gegensatz zu einem Taugenichts ganz ohne so einen wundervollen Titel.“
„Wir haben's jetzt gleich, meine Verehrteste!“, ruft der Doktor in Richtung des Nebenzimmers, wo Miss Bobbit gemütlich vor sich hindöst, alle Viere von sich streckt und genüsslich an einer würzigen Schmetterlingslarve lutscht.
„Schön zu hören“, antwortet sie träge. „Ist das Problem also bald gelöst?“
„Aber jo, a kleiner gfrastiger Zahn, aber nix, was ich nicht im Handumdrehen erledigen könnt“, prahlt Freud und blinzelt Blauohr mit einem fast verschwörerischen Grinsen an. Dann beugt er sich nah an dessen Gesichtchen heran. „Tuttifrutti“, haucht er bedeutungsschwer.
Bemüht, unbefangen zu wirken, greift Blauohr nach einem kleinen Blatt und beginnt, dessen Linien und Knicke eingehend zu studieren. Doch er spürt den durchdringenden Blick des Doktors, der ihn keine Sekunde aus den Augen lässt.
Angenommen, alles geht schief …, denkt Blauohr bei sich. Angenommen, der Doktor ist gar kein richtiger Doktor …?
Er kratzt sich am Kopf, und plötzlich überkommt ihn ein unkontrollierbares Zittern. Er widersteht der starken Versuchung, sich die Nase zuzuhalten – und vor allem den Mund. Die Ohren jedoch legt er an, sodass er nichts mehr hören kann.
Eine gespenstische Stille legt sich über Blauohr und die Ordination. Dann – dumpf und unerwartet – trifft ihn etwas am Kopf.
„Sie müssen schon zuhören, wenn ich was sag, sonst wird das nix“, ertönt die gereizte Stimme des Doktors. „Also, machen’s a mal das Schnauzerl da ein bisserl auf!“
Der Igel beugt sich nach vor und sagt verschwörerisch: „Freud meinte einmal – also der Freud, versteht sich – 'Vom Schmerz kann man nicht erzählen, ohne ihn je gefühlt zu haben.'“
Er macht eine bedeutungsvolle Pause, dann schiebt er nach: „Also, erzählen´s mal – wie ist er denn, der Schmerz? Ganz genau! Jedes Detail ist wichtig. Beschreiben Sie den Schmerz – is er eher dumpf oder a bissl scharf? Bohrt er, hämmert er, zieht er?“
„Er ist alles auf einmal!", jammert Blauohr, "erst pocht er wie ein Trommelschlag, dann zwickt er wie eine bissige Ameise, und plötzlich fühlt es sich an, als würde mir jemand mit siedendem Wasser im Mund herumsprudeln!“
„Aha, hochinteressant. Eine komplexe Schmerzsymptomatik, äusserst facettenreich! Das bestätigt einmal mehr meine Theorie.“
Blauohr hebt die Brauen. „Welche Theorie?“
Freud schnalzt mit der Zunge.
„Nun, mein Lieber – wie jedem, von uns wohl Gebildeten bekannt, entsteht der kaum auszuhaltende Schmerz nicht im Zahn, sondern im Kopf! Sie verstehn? Ihr Leiden hat womöglich gar nix mit dem Zahn selbst zu tun, sondern mit … Ihrem tiefsten Inneren!“
Er macht eine bedeutungsschwangere Pause, dann legt er die Pfoten aneinander, als bereite er sich auf eine tiefschürfende Analyse vor. Seine Stacheln beben leicht vor gespannter Erwartung.
„Sagen Sie – wie war denn das Verhältnis zur werten Mama? Nur zu, redn´s Sie einfach drauflos, so wie Ihnen der Schnabel gwachsen ist. Nur net gschamig sein!“
Doch Blauohr verzieht das Gesicht. Seine Augen sind halb geschlossen, sein Blick wirkt müde.
„Ich kann nicht mal mehr reden“, murmelt er.
Freud seufzt, tut aber so, als hätte er nichts anderes erwartet.
„Na dann ... legen Sie sich einfach erst mal da auf den Diwan hin, und wir schauen mal, was sich da machen lässt.“
Hoffnungsvoll tapst Blauohr zu der überraschend gemütlichen Couch. Zögernd lässt er sich nieder und nestelt nervös an seinen Bauchhaaren.
„Na, na“, murmelt Freud, während er sich mit einer Hinterbacke auf einen der wackeligen Hocker fallen läßt und voller Vorfreude mit den Krallen über seinen Stachelrücken klickert. „Lassen´s nur los, entspannen Sie sich. Und dann – auf mit dem Goscherl!“
Mit einer schnellen, routinierten Bewegung greift der Igel zu und zieht unter einem leisen Hickup einen langen, dünnen Stachel aus seinem Rücken.
„Hick ... a bisserl brennt's schon“, sagt er.
Der Stachel ist lang, scharf und verdammt spitz – ein perfektes, wenn auch etwas unorthodoxes Instrument.
Blauohr schielt misstrauisch auf den gefährlich schimmernden Dorn. „Und was … genau … haben Sie jetzt damit vor?“
Freud zwinkert vergnügt. „Na, wenn´s halt partout keine tiefenpsychologische Methode wünschen, dann bleibt uns nur die klassische Chirurgie. Keine Sorge – auch da drin bin ich höchst begabt!“
Blauohr weicht zurück. „Sie wollen mir mit diesem Teil an den Zahn?!“
„Wollen tun wir nicht, mein Bester! Aber wir müssen. Was bleibt uns schon anderes übrig, wenn’s von den üblen Schmerzen befreit werden wolln? Aber Sie werdn sehn! Eine schnelle, saubere Sache. Kaum zu spüren! Nun, vielleicht ein kleines bissl …“
Blauohr schluckt. „Äh … also … vielleicht reden wir doch noch ein wenig über meine Mutter?“
Freud blickt auf den Maulwurf hinab und lächelt – ein wenig länger, als Blauohr es sich wünschen würde. Die Augen des Igels scheinen dabei ihre Farbe zu wechseln: vom trüben, erdigen Braun eines regnerischen Herbsttages zu einem klaren, eisigen Blau, wie die letzten Strahlen der Wintersonne.
Freuds Gesicht verzieht sich zu einem freudigen Ausdruck, beinahe übermütig lebhaft. Er strahlt Blauohr an und ruft begeistert:
„Ach, ich liebe Operationen! Ich liebe es, Blut zu sehn! Ich mein – nur wenig! Ach, nur ein ganz kleines bissl Blut, das lässt si leider nicht ganz vermeiden, mein Bester. Ach, wie freu ich mich auf diesen Eingriff!“
Blauohr erstarrt. Sein Nackenfell stellt sich auf, und sein Schwanz zuckt nervös. „Ähm … vielleicht … vielleicht warten wir noch ein bisschen mit der Operation?“
Freud winkt ab. „Aber gehns! Ruck, zuck haben wir das erledigt!“
„Vielleicht ist es ja auch gar nicht so schlimm wie es aussieht. Vielleicht geht der Schmerz ja auch von selbst wieder weg?“
„Das haben wir doch schon alles besprochen, mein Bester“, seufzte Doktor Freud theatralisch und schüttelte den Kopf. „Ach, Herr Baron Blauohr – oder sollte ich sagen: Herr Graf von Blauohr? So viel Zögerlichkeit hätt ich Ihnen gar nicht zugetraut! Aber gut, ich versteh’s ja. Die Angst.“
„Ich hab keine Angst!“ platzt es aus Blauohr heraus, vielleicht ein bisschen zu laut.
Freud hob amüsiert eine Augenbraue. „Na, das is ja wunderbar! Dann gibt’s wirklich kan Grund mehr um zu warten.“
Mit einer geschmeidigen Bewegung schließt er sein zartes Fäustchen um den langen, scharfen Stachel und packt fest zu. Im schummrigen Licht des Raumes glänzt der Stachel unheilvoll.
Blauohrs Augen weiten sich. Sein Herz beginnt wild zu pochen.
Der Igel grinst breit.
„Ein durchaus bewährtes Zahnexktraktionsinstrument, von Generation zu Generation weitergegeben. Tausendfach erprobt, glaubens ruhig, absolut zuverlässig! “
„Äh … aber … also …?“ Blauohr schluckt schwer. Aus den Augenwinkeln sieht er, wie Miss Bobbit im Nebenraum herzhaft gähnt und sich auf ihrem Reisigkissen räkelt.
Auf unwirkliche Weise schießt ihm wieder Tuttifrutti durch den Sinn – es wäre fast lustig, wenn ihm nicht gar so elend zumute wäre.
„Jetzt aber schön das Munderl aufmachen, mein Lieber“, säuselt Freud mit gespielter Sanftheit, „Worte heilen halt keine Zähne.“ Er hält den wirklich furchterregenden Stachel hoch. „Aber dieses Prachtstück hier – das tut es!“
Blauohr schluckt schwer. „Darf ich … also … falls es allzu weh tut … darf ich dann ein wenig schreien? Oder zumindest ein bisschen wimmern?“
Freud zuckt mit den Schultern. „Wüsst nichts, was dagegen spricht. Manche Patienten finden´s sogar befreiend. Mein guter alter Wiener Spezi hatte noch ein weiteres kluges Sprichwort parat: ‚Es tut dem Körper ungemein wohl, sich mal so richtig auszuschimpfen.‘ Also, nur zu! Fluchen´s, zetern´s, lassen´s nur alles raus! Wer weiß – vielleicht sind´s ja so schneller geheilt, als Sie denken.“
Er klopft mit der Tatze ungeduldig auf den Schemel. „Aber vorher müssten’s vielleicht die Güte haben, mir mal einen Blick auf das Malheur zu gestatten.“
Blauohr zögert, dann schließt er die Augen und öffnet endlich den Mund.
Dr. Freud zögert keinen Moment. Er dreht ganz locker den Stachel in seiner Hand herum und klopft mit der dicken Seite erst einmal wahllos gegen einen der unteren Schneidezähne.
„Und? Zwickt's?“
Blauohr schüttelt den Kopf.
Freud klopft auf den Zahn daneben.
„Und zwackt's?“
Wieder schüttelt Blauohr den Kopf.
Wo auch immer das Übel sitzt – für Freud ist das keineswegs so unklar, wie er es nach außen hin erscheinen lässt. Der kaputte, schwarze Zahn ist für ihn glasklar zu erkennen.
Aber: Zu einem renommierten Arzt – oder besser gesagt: Künstler, wie Freud sich selbst sieht – gehört natürlich auch ein wenig Drama. Schließlich kommt nicht jeden Tag jemand mit einem Leiden dieser delikaten Art in seine Praxis.
Genauer gesagt: Blauohr ist sein allererster Zahnpatient.
Und genau deshalb will Freud es jetzt endlich anpacken.
Er kann es kaum noch erwarten
„Ach, werter Herr Graf von Blauohr“, sagt Freud in überschwänglicher Höflichkeit, „könnten Sie mir denn vielleicht sagen, wie spät es ist?“
Es ist eine bewährte Taktik.
Der Patient soll abgelenkt werden – ganz natürlich, ganz beiläufig –, damit er den entscheidenden Moment nicht kommen sieht.
„Na, i hob a kei Uhr“, murmelt Blauohr – und merkt gar nicht, dass er dabei ganz unbewusst Freuds Art zu sprechen kopiert.
„Hab meine zur Matura bekommen“, sagt Freud, „geht aber nicht mehr. Zu alt. Sieht aber immer noch hübsch aus. Genau so ist es auch mit den Zähnen – glänzen wie narrisch, tragen Erinnerungen in sich! Nur leider halt manchmal auch Entzündungen …“
Während Blauohr noch über die Uhr sinniert, hat Freud längst die Schwachstelle in Angriff genommen. Er inspiziert den morschen Zahn, klopft leicht dagegen –
Blauohr stöhnt: „Ooohaaahh...“
Da beugt sich Freud ganz nah an Blauohrs Ohr und haucht ganz zart:
„Ist es sicher?“
Blauohr zuckt zusammen. Er traut seinen Ohren nicht. „Ist es … sicher?“
„Ja, ist es sicher“, wiederholt Freud mit Nachdruck – und klopft dabei noch ein wenig fester mit dem Stachel gegen den Zahn.
„Ich weiß nicht …“, keucht Blauohr.
Freud hebt die Pfote und lässt sie mit spürbarer Lust erneut den furchteinflößenden Stachel auf denselben Zahn niedergehen. Der Schlag ist nun schon deutlich härter als zuvor.
„Ist es sicher?“ fragt Freud noch einmal.
Blauohr wimmert mittlerweile mitleiderregend. „Was denn … was soll denn bitte sicher sein?“ haucht er verzweifelt.
Geblendet von den Tränen des Schmerzes, kann er kaum noch erkennen, wie sich Freud hingegen vor Lachen fast zerkugelt.
„Ach, nicht so wichtig“, prustet dieser, als würde ihn ein kräftiger Hustenanfall schütteln. „Ist eher … eine kleine Hommage. Hab nur kurz dran gedacht – nichts weiter.
Aber die gute Nachricht: Wir haben den Übeltäter identifiziert – den kleinen, schwarzen Teufelsbraten. Backenzahn, hinten rechts.“
Er studiert die Stelle einen Moment, dann steckt er sich den Stachel in den Mund und lutscht gedankenverloren darauf herum.
„Übel, übel“, flüstert Freud. „Da werden wir jetzt gleich was dagegen unternehmen.“
Mit geübter Präzision und voller Entschlossenheit zwingt der Doktor Blauohr, das Mäulchen so richtig weit aufzusperren, und mit genussvoller Ekstase treibt Freud den langen, spitzen Stachel – ein ganzes Stück abseits des fauligen Zahns – tief in Blauohrs weichen, rosaroten Gaumen.
„GAaaahhh!“ Blauohr zuckt zusammen, es hebt ihn gewaltig aus seiner liegenden Position, seine Krallen kratzen hektisch über den weichen Belag der Couch.
„Ah, entschuldigen Sie vielmals!“ ruft Freud hastig, während er den Stachel nachjustiert.
„Aber das muss sein, mein lieber Kommerzialrat! Ohne ein bisserl Aua wird das nix.“
Blauohr japst, sein ganzer Körper bebt.
„Ich... i glau, ich feh erne...“
„Das ist ein ausgezeichnetes Zeichen! Dann sind wir auf dem richtigen Weg.“
Freud betrachtet sein Werk, schnippt mit einer Pfote gegen den Stachel und dreht ihn noch ein kleines Stück weiter in das zarte Fleisch.
„Gleich haben wir’s... nur noch ein klitzekleines bisserl...“
Blauohr wimmert. „Ich i... ich in nich icher, o ich as üerlee...“
„Aber sicher doch!“ Freud zwinkert. „Noch nie ist mir ein Patient einfach so davongestorben. Also... fast nie.“
Blauohrs Augen reißen auf. „aaahh eiß ier as?!“
„Na, na, na – wer wird denn gleich! Mund auf – und am besten jetzt nix reden.
Ein bisserl was muss man schon aushalten... wir hab’n’s ja gleich.“
Von draußen ruft Miss Bobbit, ein wenig konsterniert: „Herr Freud, ist da drinnen alles in Ordnung?“
Freud, der eine Vorderpfote triumphierend in die Höhe streckt, wirft einen zufriedenen Blick auf Blauohr, der mit glasigen Augen und offenem Maul daliegt.
„Aber selbstverständlich, meine Liebe!“ ruft er zurück. „Alles läuft nach Plan!“
Freud dreht sich mit theatralischer Geste zu Blauohr herum, zieht den langen Dorn aus Blauohrs geschundenem Rachen und sagt fröhlich: „Na, was hab ich Ihnen gesagt! Zack, bumm, erledigt! Und – wie fühlen S' sich jetzt, Herr Professor Blauohr?“
Blauohr starrt Freud mit geweiteten Augen an. „Was?! Aber ... aber wie – aber nein, mein Zahn! Er ist immer noch da drin! Das spüre ich genau! Ich meine, er tut immer noch furchtbar weh – und jetzt sogar an zwei Stellen! Es brennt fürchterlich! Das … das kann doch nicht richtig sein!“
Freud zuckt die Schultern und lächelt nachsichtig.
„Hören Sie, Herr Doktor … ich will doch nur, dass der Schmerz weggeht! Können Sie sich nicht einfach darum kümmern und den Zahn rausziehen?“
Freud seufzt theatralisch und schüttelt bedächtig den Kopf. „Ach, mein Lieber, einen Zahn zu ziehen – das wäre doch nur eine rein mechanische Lösung! Aber fragen Sie sich: Wollen Sie das wirklich?“
Blauohr kneift die Augen zusammen. "Schon ... wenn es denn möglich wäre ...?"
„Nun ja … falls es noch nicht offensichtlich ist – i bin Professor des hohen Geistes, mein Guter! Und beileibe kein ordinärer Zahnarzt!“
Blauohrs Ohren werden heiß. Seine Stimme zittert. „Kein Zahnarzt?!“
„Ich bitt Sie! Einen Zahn rauszieh'n kann doch jeder – das is’ doch keine weltbewegende Sache, so was!“ Freud wedelt abwehrend mit der Pfote. „Sie müssen versteh'n, mein Lieber: Ich bin Freud - der Freud – ein Arzt der Seele, ein Meister der Psychoanalyse! Ich behandle die Ursachen, nicht die Symptome! Und Ihr Problem, mein Lieber, ist einfach nicht Ihr Zahn. Es wird nun Zeit, diesen Gedanken endlich zuzulassen – der Schmerz, versteh'n s’, dieser wilde, kaum auszuhaltende Schmerz, der manifestiert sich tief aus Ihrem Innersten heraus ...“
Blauohrs Kiefer klappt auf, diesmal vor ungläubigem Entsetzen. „Aber … aber Sie haben mir doch mit diesem Stachel ins Fleisch gestochen!“
Freud klopft ihm gönnerhaft auf die Schulter. „Ach ja, das … ja, das war ja auch wichtig und richtig. Ein Versuch war’s wert! Meist hilft es, den Schmerz einfach umzulenken, versteh’n S'?“
Miss Bobbit, noch immer im Warteraum, jubiliert: „Zwanzig Mal hab ich’s ihm gesagt! Ach, was – mehr als zwanzig Mal!“
Ihre Worte kullern wie schwere Murmeln zu Blauohr herüber.
„Lauf gegen die Wand, hab ich ihm gesagt! Aber nein, der Herr Nachbar ist ja sooo gescheit …“
Das darf doch alles nicht wahr sein. Blauohr schließt die Augen und zieht scharf die Luft ein. Beinahe scheint es, als verschmelze er mit dem pochenden Schmerz in seinem Zahn – einem bohrenden, unerbittlichen Pochen, das ihn einfach nicht loslassen will.
„Aber gut“, sagt Freud mit einem höflichen Nicken, das gleichzeitig Verständnis und leicht genervte Überlegenheit ausdrückt. „Es steht Ihnen selbstverständlich frei, jederzeit eine zweite Meinung einzuholen.“
Blauohr blinzelt, kämpft sich durch den Schmerz zu einem klaren Gedanken – einer einzigen, winzigen Protestnote gegen diese unerträgliche Tortur.
„Eine zweite Meinung? Was ich brauche, ist ein richtiger Zahnarzt!“, knurrt Blauohr, diesmal mit Nachdruck.
„Kein Problem“, meint Freud gelassen, während er bereits in seinem Hinterteil herumnestelt. „Ich schreib Ihnen eine Überweisung. Eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Warten’s, hier hab ich's – Professor Dr. Dr. Oberarzt Dr. Mengele. Na, wenn das kein Titel ist! So was muss man sich wahrhaftig verdienen.“
Blauohr hebt skeptisch eine Augenbraue. „Und der weiß, was er tut?“
„Und ob! Jahrelange Erfahrung“, sagt Freud. „So, und jetzt muss ich weg, Verpflichtungen und so, verstehns. Machen’s die Tür zu beim Rausgehn.“
Und während unser Dr. Freud sich mit einer eleganten Rückwärtsrolle aus dem Staub macht, hört Blauohr ihn noch rufen:
„Herr Blauohr, aus einer Vielzahl leicht ersichtlicher Gründe wie fehlender Wertschätzung, Unhöflichkeit, Verständnislosigkeit, Wehleidigkeit und – sagen wir’s offen – absoluter Nullbelastbarkeit erkenne ich Ihnen den von mir so großzügigerweise verliehenen und so schätzenswerten Titel nach einstimmigem Beschluss feierlich wieder ab! Habe die Ehre – ich empfehle mich, und servus!“
Blauohr bleibt allein zurück.
Mit pochendem Zahn und dem leisen, aber sehr bestimmten Gefühl, dass an diesem wonnigen Tag etwas ganz gewaltig schiefgelaufen ist.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Walter Strasser).
Der Beitrag wurde von Walter Strasser auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.04.2025.
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