Ingrid Grote

KOPFBAHNHÖFE, Teil 35 - BERGE, BURGEN, BOLZPLATZ


Wenn ich nach Daarau fahre, sehe ich immer in der Ferne den Großen Eberstein auftauchen und neben ihm seinen kleinen Bruderberg. Auf dem Gipfel des Großen Ebersteins liegt ein gewaltiger Geröllhaufen, der ehemals eine Burg war, errichtet von den Rittern von Eberstein. Ich war immer schon fasziniert von diesem Berg und den Sagen, die sich um ihn rankten und immer noch ranken. Es ging um Mord und Totschlag. Die Ritter von Eberstein waren die Bösen und ihre Widersacher, die Ritter von Holzeberg waren die Guten. Im nachhinein kann man kaum feststellen, wer nun die Guten waren und wer die Bösewichte.
Auch auf dem Gipfel des Holzebergs finden sich riesige Steinblöcke, die Überreste einer Burg sein könnten. Der Holzeberg sieht harmlos aus, aber auf der dem Dorf abgewandten Seite fällt er steil ab und war bestimmt gut zu verteidigen. Angeblich soll es einen unterirdischen Gang geben, der beide Burgen miteinander verbunden hat. Egal, immer wenn ich den Großen Eberstein sehen kann, weiß ich, dass mich nur 15 Kilometer von Georg trennen. Und jeder gefahrene Kilometer macht mich glücklich, denn dann bin ich fast schon bei Georg.
Und es ist mir egal, dass noch Prüfungen anstehen. Als erstes werde ich Georgs Schwester kennenlernen bei diesem Fußballspiel. Es ist am Sonntag. Ich bin wirklich gespannt auf sie. Und wenn sie nur ein bisschen was von Georg hat, dann werde ich sie lieben.

 *-*-*-*-*-*-
Die Leute in Daarau sind zwar nicht sehr religiös, aber der Sonntag ist ihnen heilig. Und  deshalb trage ich ein dezentes schwarzes T-Shirt und dazu eine dezente helle Leinenhose.
Georg ist schon weg, als seine Schwester Dagmar eintrifft. Sie ist groß, hübsch, in meinem Alter und seit zwei Jahren mit einem Freund ihres Bruders verheiratet. Sie drückt mich kurz an sich.
„Die Küche ist große Klasse“, sage ich, denn es war Dagmar, die sie ausgesucht hat. „Ich hab ja gedacht, sie wäre für eine andere Frau bestimmt, aber Georg wollte mich nur veräppeln.“
„Tja, mein Brüderchen ist schon einer, aber kein schlechter.“
„Im Ruhrgebiet würde man sagen: Datt ist kein Schlechten, aber auch kein Guten.“
Dagmar fängt an zu kichern. Tja, wenn alle Frauen im Dorf so wären wie sie, dann würde ich mir nicht den Kopf drüber zerbrechen. Was meinte mein Vater einst zu mir: 'Tony, zerbrich dir nicht den Kopf, du hast nur einen.' Ansonsten hat er sich in meiner Erziehung zurückgehalten und sie meiner Mutter überlassen. Mit den bekannten Folgen.
Dagmar und ich machen uns auf dem Weg zum Fußballplatz - er liegt um die Ecke wie alles im Dorf - und sie fängt an: „Du hast also meine Eltern schon kennengelernt?“
„Oh ja“, sage ich. „Dein lieber Bruder hat mich da unverhofft reingeworfen.“ Ich seufze auf und spreche weiter: „Es lief aber ganz gut ab. Und du bist echt zu faul zum Kinderkriegen?“
„Ach das ... Mutter ist etwas ungeduldig in dieser Beziehung. Ich will erst noch mein Eheleben genießen. Und wie steht's mit dir?“
„Ich hab mir noch keine Gedanken drüber gemacht - und lasse dir gerne den Vortritt.“
„Vielleicht sollten wir es gleichzeitig machen, dann könnten wir die Blagen abwechselnd versorgen - oder sie bei Verwandten auslagern, da gibt es jede Menge Tanten, die sich um unsere Sprösslinge streiten würden.“
Ich muss lachen. „Ich fange an dich zu lieben, meine zukünftige Schwägerin.“
Dagmar lacht auch, sieht mir interessiert ins Gesicht und fragt dann: „Woher kennst du meinen Bruder?“
„Ich kenne ihn schon seit Ewigkeiten“, gebe ich zu. „Ich war zwölf und er vielleicht vierzehn, da hat er mich geküsst und dann angespuckt. Es war mitten auf einer Wiese.“
„Kann ich mir gut vorstellen. Er war immer schon ein frühreifer Bengel, hat alle Chancen genutzt bei den Mädels und später bei den Frauen.“
Ich schaue sie frustriert an und sage: „Das gefällt mir nicht besonders.“
„Ist vorbei seit einiger Zeit, er ist erwachsen geworden. Und ich glaube, er war schon als Junge ein bisschen verliebt in dich. Aber was sollte er machen, du warst ja immer schnell weg.“
„Das stimmt“, muss ich zugeben. „Aber jetzt werde ich hierbleiben, ich habe zwar große Angst davor, aber ich ...“, ich kann nicht weitersprechen, weil ich es nicht gewohnt bin, Gefühle auszudrücken.
Doch dann bezwinge ich mich: „Ich werde hierbleiben, weil ich ihn liebe, Himmel, er ist das Beste in meinem Leben und ich will ihn einfach nur glücklich machen.“
Dagmar drückt kurz meine Hand - und schon sind wir auf dem Fußballplatz, oder eher an den Rändern des Platzes.
Die anderen Mädels sind auch schon da und Dagmar stellt mich ihnen vor: „Das ist meine zukünftige Schwägerin, sie heißt Antonie - kurz Tony genannt. Und ich möchte, dass ihr sie freundlich begrüßt.“
Das tun sie dann auch. Dagmar gibt mir kurz Auskünfte über die Mädels, so was wie: Die da heißt Sophie und ist mit dem Torwart verheiratet, die Blonde da hinten heißt Stephanie und hat den unsäglichen Bäckermeister zum Mann.
Bäckermeister? Das weckt unangenehme Erinnerungen in mir. Ich verdränge die fürs Erste. Ich sollte nur die Namen von den Mädels behalten können und mir Eselsbrücken dazu bauen.
Wir stehen gespannt am Spielfeld, denn dort laufen gerade die Mannschaften auf. Oder ein? Georg sieht natürlich am besten aus in seinem Fußballtrikot. Der Rest der Spieler ist vollkommen uninteressant, egal in welcher Mannschaft sie spielen und welche Putzlappen sie anhaben.
Kleine Fläschchen werden verteilt und obwohl deren Inhalt nicht hochprozentig ist, trägt doch die heiße Sonne und die Begeisterung für die eigene Mannschaft viel dazu bei, um locker zu werden.
Ich jubele und klatsche in die Hände, als Georg das erste Tor schießt. Was für ein Mann! Und er ist mein!
„Beim nächsten Mal bringe ich die Getränke mit“, verspreche ich den anderen Mädels. Die freuen sich natürlich.
In der Halbzeit steht es 2:0 für Daarau. Das ist gut, aber noch besser ist, dass Georg zu mir kommt. Er ist verschwitzt und riecht nach Mann, aber auf eine gute Art. „Komm her, mein Stern“, sagt er. Ich lasse mich willig greifen, lasse mich von ihm küssen und umarme ihn zaghaft. Ich will auf keinen Fall die Lüsterne aus der Großstadt sein, aber ich werde dabei wohl rot im Gesicht aus Lust oder aus Verlegenheit. Und das genügt meinen neuen Freundinnen.
„Ihr seid ja richtig süß zusammen.“
„Ich wünschte, mein Verlobter wäre auch so.“
„Der ist ja echt verliebt in dich.“
„Ich könnte neidisch werden bei diesem Anblick!“
„Halte ihn gut fest, der liebt dich!“
Ich liebe ihn ja auch. Wie könnte ich ihn nicht lieben? Das Spiel gewinnt übrigens die Mannschaft von Daarau mit 3:1 Toren. Und ich verabrede mich mit Dagmar für den nächsten Samstag, dann geht es nämlich ins Gemeindezentrum. Eventuell wieder eine Art Prüfung für mich?
Aber bis jetzt ist doch alles gut gelaufen.
 *-*-*-*-*-*-
Ich will den Platz schon verlassen, aber eine Frau steuert direkt auf mich zu. Es ist die Blonde, die Frau vom Bäckermeister. Sie ist hübsch, viel hübscher als ich und sie sieht mich provozierend an. Was will sie von mir?
Und dann quillt es aus ihr hervor: „Du hast meinen Mann angemacht vor ein paar Jahren und seitdem ist alles anders geworden!“
Wie meint sie das? Ist es besser oder schlechter geworden? Und Mann angemacht? Jetzt kommt es mir wieder in den Sinn: Ich und Schwesterchen in Daarau zu Besuch. Ich total besoffen, lernte jemanden in der Kreisstadt-Disco kennen, habe ihn natürlich  nicht geküsst, aber er war fasziniert von meinem blöden Geschwätz. Hinterher erzählte meine Schwester mir, dass seine Frau direkt hinter uns gesessen hätte. Furchtbar peinlich war das. Vor allem, weil der Typ am nächsten Morgen vor Vaters Tür stand. Ich hatte ihm irgendwas versprochen, wusste aber nicht mehr was. Aua! Also verkroch ich mich in meinem Bett und schämte mich. Scheiß Alkohol!
Ich sage zaghaft: „Ja, ich kann mich noch dran erinnern. Es tut mir leid, ich wusste doch nicht, dass er verheiratet war. Ich war damals ziemlich verzweifelt und wollte ein bisschen flirten nach langen beschissenen Jahren, in denen kein Mann mich angeschaut hat.“
„Warum sollte ich dir das glauben?“
„Himmel, ich hab auch viel Scheiße erlebt. Und Männer ... ich weiß immer noch nicht, ob man ihnen vertrauen kann. Ich hoffe es aber.“
„Das tröstet mich jetzt kein bisschen!“
Wir sind mittlerweile am äußersten Rand des Spielfelds angekommen, dort wo uns keiner sehen und auch keiner hören kann.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.04.2025. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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