Thomas Fischer

Ein Abschied in der Dunkelheit

Es war ein schwülheißer Sommerabend. Es wurde langsam dunkel und der Biergarten leerte sich. Ich saß da, ein volles Bierglas vor mir; frisch gezapft. Ich starrte auf das Glas. Die Plätze neben mir und gegenüber waren bereits leer. Es war ein Donnerstagabend. Wie jede Woche war ich mit Kollegen hier, um ein Feierabendbier zu trinken. Die Hälfte der Kollegen kannte ich nicht und die andere Hälfte wollte ich gar nicht kennen.

Aber diese gemeinsamen Abende gaben mir die Gelegenheit in Gesellschaft und ohne schlechtes Gewissen zu trinken. Wenn ich daheim alleine trank, hatte ich immer ein schlechtes Gewissen. Denn alleine tranken nur Alkoholiker. Ich hielt mich natürlich nicht für einen Alkoholiker. Ja, klar, ich trank die meisten Abende und es blieb dann auch nicht bei einem Glas Bier; meist wurden es zwei oder drei. Ich betrank mich jedoch nicht sinnlos. Ich trank nur, um mich zu betäuben und um zu vergessen. Valide Gründe also. Außerdem sind Alkoholiker abhängig und ich war nicht abhängig. Ich konnte jederzeit aufhören. Ich hatte doch auch Abende, an denen ich keinen Tropfen anrührte. Dann lag ich aber anschließend die halbe Nacht schlaflos im Bett, wälzte mich von einer Seite auf die andere und wenn ich doch einschlief, träumte ich. Das war schlimmer, als schlaflos im Bett zu liegen. 

Am nächsten Abend trank ich dann wieder. Aber ich war kein Alkoholiker und auch nicht abhängig. Beim Feierabendbier konnte ich trinken, auch mal mehr. Es war ja in Gesellschaft. Das war akzeptiertes Verhalten. Ich wurde durch Alkohol weder laut, noch wurde ich aggressiv. Ich wurde meist einsilbig und wenn ich merkte, dass es genug war, dann sagte ich tschüss und ging heim. Dort trank ich weiter. Meist noch ein paar Bier, um schlafen zu können. Vor allem aber um traumlos zu bleiben. Nun saß ich also hier vor meinem Bier und redete mir ein, kein Alkoholiker zu sein und wollte dann auch gleich aufbrechen. 

Da trat jemand an den Platz mir gegenüber. Oh Gott, bloß nicht. Ich will jetzt keine Gesellschaft, dachte ich mir. Zieh Leine. Geh weiter. Ich will meine Ruhe. “Hallo Mats.” Die Stimme. Ich blickte hoch. Da stand Sarah. Ich blickte in ihr Gesicht. Ihre tiefblauen Augen. Die Augen, in die ich nie lange schauen konnte, denn ich hatte immer Angst, mich darin zu verlieren und nie wieder herauszufinden. Da stand sie. “Sarah”, sagte ich. Sie lächelte mich an. “Darf ich mich setzen”, fragte Sarah. Ich schaute sie ungläubig an. Ich wusste nicht, ob ich daheim im Bett lag und einen der Träume hatte, die ich mit Alkohol unterdrücken wollte oder ob ich einfach schon deutlich mehr getrunken hatte, als ich sollte. Ich schaute sie an. Ihre Augen. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. “Darf ich mich setzen”, fragte Sarah erneut. Ich fand meine Stimme wieder. “Klar.” Kurz und bündig.

Sie setzte sich mir gegenüber. “Wir haben uns lange nicht gesehen”, sagte Sarah. Das war richtig. Obwohl wir im selben Unternehmen abeiteten, waren wir schon lange nicht mehr in der selben Abteilung. Da konnte man sich aus dem Weg gehen und ich bin Sarah aus dem Weg gegangen; so gut es ging. “Ja, lange”, sagte ich lahm und starrte auf mein Glas. “Wie geht es Dir, Mats”, wollte Sarah wissen. “Na, wie soll es mir schon gehen? Passt schon! Muss ja”, antwortete ich mit deutlich gereiztem Unterton und bereute es sofort wieder. Sarah reagierte mit einem “Sorry” und machte Anstalten sich zu erheben. Ich legte meine Hand kurz auf ihre Hand, nahm sie aber gleich wieder weg und sagte: “Du musst nicht gehen. Es tut mir leid. Mir geht es nicht gut.” Ich blickte sie an. “Bleib bitte.” Ich wusste nicht, warum ich sie bat zu bleiben. 

“Du warst lange nicht mehr beim Feierabendbier”, sagte ich wieder ziemlich lahm, nur um etwas zu sagen und damit sie blieb. Sie schaute mich an, blieb aber sitzen. “Ich war mir nicht sicher, ob Du mich dabeihaben möchtest”, sagte sie schließlich. “Ich verstehe“, erwiderte ich, blickte sie kurz an, um dann wieder auf mein Bier zu starren. “Es tut mir leid”, sagte Sarah und schaute mich an. Dann starrte sie selbst auf ihr Bier. “Es gibt nichts, das Dir leid tun müsste”, entgegnete ich leise. “Es war mein Fehler”, fuhr ich fort. Ich blickte sie traurig an. “Ich wollte mehr, als Du bereit warst zu geben”, sagte ich weiter. “Ich habe mich unfair verhalten”, entgegnete sie. “Nein. Du wolltest mir einfach nicht weh tun”, sagte ich zu Sarah. Dann starrte ich wieder auf mein Bierglas, hob es und nahm einen großen Schluck. 

“Du hasst mich jetzt”, sagte Sarah unvermittelt. Ich stellte das Glas ab und schaute sie jetzt doch an. Ungläubig. Überrascht. Hassen? Wie kam sie darauf? Ich blickte ihr direkt in die Augen. Ich wusste, dass ich mich verlieren würde, aber es war mir egal. Ich wollte noch einmal in diese Augen sehen. Mich tatsächlich noch ein einziges Mal, ein allerletztes Mal in ihnen verlieren. Dieses eine Mal und dann nie wieder. „Sarah, Du wirst es nie verstehen”, sagte ich, den Kopf schüttelnd. “Es wäre so viel leichter, wenn ich Dich hassen könnte. Ich hasse Dich nicht. Habe ich nie”, fuhr ich traurig fort. 

Ich legte noch einmal kurz meine Hand auf ihre Hand, blickte sie an und sagte: “Es war schön, Dich wiederzusehen, Sarah. Du fehlst mir.” Dann stand ich auf, um zu gehen. Aber ich hielt kurz inne und drehte mich noch einmal zu ihr, schaute sie ein letztes Mal an und sagte leise: “… und ich hasse Dich nicht.” Dann drehte ich mich wieder um und während mir die Tränen über die Wangen liefen, ging ich in die Dunkelheit. 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.05.2025. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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