Istvan Hidy

In vino veritas

In vino veritas – Eine Betrachtung über Riesling und Schöpfung

Im Alter sind wir zu zweit geblieben: der Wein und ich. Zwei alte Freunde, die nicht mehr fragen, sondern schweigend nebeneinander sitzen – zeitlos, versunken. Auf meinen langen Reisen erkannte ich: Es sind die Weinlandschaften dieser Welt, in denen ich mich am meisten zu Hause fühle. Wo Reben wachsen, scheint die Landschaft friedlicher, der Himmel weiter, die Luft milder. Wo Wein gedeiht, wirkt das Leben selbst vollkommener.

Wandere durch die Hügel von Bordeaux, folge den Windungen der Mosel, erklimme die Steillagen am Neckar – und wohin auch immer dich dein Weg führt, umfängt dich ein einziges Gefühl: Es ist gut, zu leben. Die sanft geschwungenen, grasbewachsenen Pfade zwischen den Weinstöcken führen wie stumme Bäche zu einer stillen Gelassenheit. Vor den Kellertüren stehen alte Walnussbäume, deren weiser Schatten selbst an den heißesten Tagen dem Durstigen Schutz bietet. An solchen Orten bleibt man einfach stehen, setzt sich – und sagt: „Hier bleibe ich.“ Vielleicht würde man es nicht einmal bemerken, wenn einen genau dort der Tod ereilte. Denn was vollkommen ist, das ist schon ganz – und im Ganzen gibt es nichts mehr zu suchen.

Die Welt des Weins ist ein eigenes Universum. Farbe, Duft, Geschmack, Körper – sie gleichen menschlichen Charakteren: unendlich vielfältig in ihren Nuancen. Es gibt blonde, helle, rubinrote Weine, trockene, herb-maskuline und süße, weiblich-verführerische. Manche sind leise, andere klangvoll: Soprane, Altstimmen, Tenöre, tief tönende Bässe – einstimmig oder mehrstimmig, wie eine orchestrierte Symphonie. Jeder Wein verlangt nach Unterscheidung, nach feiner Aufmerksamkeit – wie sie nur der wahre Liebhaber aufbringt.

Doch unter allen Weinen ist es der Riesling, der mich am tiefsten berührt. Er ist der solare Bariton – Licht und Erde zugleich. Ein männlicher, symphonischer Wein, der den Geschmack göttlicher Schöpfung in sich trägt – von einzigartiger Dichte und Reinheit. Und obwohl Wein ein geselliges Getränk ist – das Klirren der Gläser, das Klingen des Lachens, das Gewebe der Gespräche –, ist der Riesling auch ein Wein der Einsamkeit. Ein Getränk für stille Nachmittage, ruhige Abende, für Momente, in denen die Außenwelt verstummt und das Innere lauscht. Riesling fließt über von der berauschenden Kraft der Schöpfung – und das erträgt nur, wer auch in sich selbst zur Balance gefunden hat.

Riesling ist der Wein der Weisen – derer, die nicht mehr nach Antworten suchen, sondern nach heiterer Stille, nach jenem letzten, tief pulsierenden Sinn des Glücks. Ein persönliches Bekenntnis: Einer der größten Momente meiner Reisen entlang der Mosel war jener, als ich mit einem Glas Schiefer Riesling Feinherb in der Hand plötzlich spürte – ich bin etwas Uranfänglichem ganz nah. Etwas, das jenseits aller Worte und Gedanken liegt – jener reifen Heiterkeit und Weisheit, in der die Welt geboren wurde.

Das Trinken folgt denselben Gesetzen wie die Liebe: jederzeit, überall, auf jede erdenkliche Weise – doch auch hier ist alles eine Frage des Moments. Der Wein verlangt nach Jahreszeit, Tageszeit, Stimmung – nach Gesellschaft oder nach deren Abwesenheit. Es gibt lümmelnde Weine, kokette, erzählende und tragische. Grober Taktfehler ist es, bei einem fröhlichen Familienmittag einen dramatischen Wein zu reichen – ebenso geschmacklos, bei einem formellen Bankett einen lasziven. Der Geist des Weins ist empfindlich, launisch – sein Bestes schenkt er nur, wenn auch der Moment würdig ist.

Bist du allein und draußen, suche stets einen Punkt mit Aussicht. Der Wein liebt die Höhe, die Weite des Blicks. Ein dunkler Winkel, ein Kellerraum – das ist nichts für ihn. Er gehört zum Licht, zur Horizontlinie. Und wichtig: Iss zuvor etwas Öliges – ein paar Nüsse, Oliven, ein Stück Antipasti. Erst auf dem öligen Geschmack entfaltet der Wein sein wahres Inneres.

Letztlich liebt der Wein keine geraden Linien. Und so ist es, dass der, der reichlich von ihm getrunken hat, sich nicht schwankend, sondern tanzend bewegt. In wirbelnden Bewegungen, in Parabeln und Hyperbeln schreitet er dahin. Man sagt: Er habe das Gleichgewicht verloren, er taumele. Doch das stimmt nicht. Es ist kein Schwanken – es ist Tanz. Die Bewegung des Weins – und des Menschen durch ihn – ist Teil einer sakralen Choreografie, in der sich die tausendfältige Anmut des Lebens spiegelt.

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