Seit dem 8.Mai 1945 sind 80 Jahre vergangen, seit die Geschichte ihr Urteil über Nazideutschland sprach. Ich nehme das zum Anlaß, mich noch einmal an die Zeit, die diesem Datum vorausging, zu erinnern.
Es war mitten im Krieg. Auf den Schlachtfeldern wurde seit Jahren gestorben. Die deutsche Wehrmacht hielt große Teile Europas besetzt. Auf unseren Wohnort wirkten sich die Kriegshandlungen noch nicht unmittelbar aus. Wir spürten die bedrohliche Lage vor allem durch die zunehmende Zahl der trauernden Familien, die Väter oder Söhne an der Front verloren hatten. Die Bombenangriffe beschränkten sich noch auf Berlin und westdeutsche Großstädte wie Köln, Hamburg und Bremen, Immer mehr ausgebombte Familien kamen in unsere Stadt.
Zu Schuljahresbeginn übernahm ein anderer Lehrer unsere Klasse. Der wollte, daß wir nach der Meldung durch den „Klassenführer“ ein Lied singen. Er deutete auf mich. Ich sollte das Lied anstimmen. Er wollte natürlich zackige HJ-Lieder hören und nannte als Beispiel „Es zittern die morschen Knochen“. Ich mußte darüber lachen, denn ich kannte diese Art Lieder nicht und dachte, der Lehrer mache einen Witz. Der war jedoch sehr erbost und ernannte einen anderen Vorsänger. Heute weiß ich, wie das Lied endet: „Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt, denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“. Ja, die Welt fiel in Scherben, aber sie gehört glücklicherweise nicht ihnen.
Wie so oft war ich wieder einmal mit dem Fahrrad unterwegs. Vor einer geschlossenen Bahnschranke mußte ich warten. Auf den Gleisen stand ein langer Güterzug. Es herrschte beklemmende Stille. Niemals werde ich die blassen Gesichter vergessen und die hoffnungslos verzweifelten Augen hinter den mit Stacheldraht gesicherten Luken der Viehwaggons. Diese Menschen kehrten nie zurück. Ich würde ihnen gern an diesem Ort der Begegnung ein Denkmal setzen, bestehend aus miteinander verschweißten Eisenbahnschienen, die so angeordnet sind, daß aus allen Richtungen ein von Stacheldraht durchflochtener Davidstern zu sehen ist.
Das Frühjahrshochwasser hatte die Uferbefestigung eines Baches zerstört. Täglich wurden sowjetische Kriegsgefangene durch den Ort getrieben. Sie mußten bis zum Bauch in eiskaltem Wasser stehend mit bloßen Händen das angeschwemmte Geröll entfernen. Abends führten sie einen zweirädrigen Tafelwagen mit sich, auf dem sie Kameraden, die den Strapazen nicht gewachsen waren, zurück ins Lager brachten. Ich weiß nicht ob diese noch lebten oder tot waren. Wieso sah ich all diese schrecklichen Dinge, von denen andere später nichts gewußt haben wollten?
Der Krieg kam immer näher. Die deutsche Wehrmacht hinterließ auf ihrem Rückzug verbrannte Erde. Sie sprengte Industrieanlagen, sprengte Brücken und zerstörte in den besetzten Ländern das Schienennetz. Die alliierten Truppen überschritten schließlich die deutschen Grenzen. Täglich überflogen große Bomberverbände die Stadt. Zu dieser Zeit suchten die Menschen nicht mehr im Luftschutzkeller Schutz. Allzu viele waren unter den zusammenstürzenden Häusern begraben worden oder sind im Rauch der brennenden Gebäude erstickt. Die Leute standen auf der Straße und blickten gebannt nach oben. Der Angriff konnte schließlich auch uns gelten. Ein deutsches Jagdflugzeug schoß einen der Bomber in Brand. Die Menschen neben mir jubelten triumphierend. Der Pilot konnte das stürzende Flugzeug noch einmal abfangen und in schneller Folge sprangen kleine Punkte aus der Maschine. Ich kannte die Zahl der Besatzungsmitglieder dieses Flugzeugtyps und zählte stumm die sich öffnenden Fallschirme. Es waren elf. Alle konnten sich retten.
Ich war mit dem Fahrrad in der von Bomben größtenteils zerstörten Nachbarstadt unterwegs als die Sirenen einen erneuten Luftangriff ankündigten. Gleich anderen suchte ich mich durch Flucht aus dem Stadtgebiet in Sicherheit zu bringen. Ich trat kräftig ins Pedal. Neben mir bemühte sich eine junge Frau, Schritt zu halten. Sie beklagte sich über die Grausamkeit Angloamerikanischer Bombenangriffe. Ich hielt entgegen, daß zuerst deutsche Bomben das englische Coventry und London zerstört hätten und die deutsche Luftwaffe laut deutscher Propaganda ganz England „coventrisieren“ wollte. Ich habe das genau so wenig vergessen, wie die bange Ungewißheit der Bombennächte, in denen deutsche Städte zu Staub zerfielen.
Die Rote Armee hatte einen langen und opferreichen Weg zurückgelegt. Von Leningrad und Stalingrad war sie über die Grenzen Deutschlands vorgedrungen. Das Ende des Kriegs nahte. Die Naziführung agierte immer gereizter. Ich habe die Todesmärsche erschöpfter KZ-Häftlinge gesehen und die Knüppel mit denen sie vorwärts getrieben wurden. Pioniersoldaten errichteten Straßensperren und bereiteten Brücken zur Sprengung vor. Durch Wiederbelebung der Legende vom „Werwolf“ sollte die Bevölkerung für den Fall der Besetzung zu konspirativem Widerstand aufgestachelt werden. Viele Jugendliche meines Alters fanden noch im April 1945 in sinnlosen Kämpfen den Tod. Um all dem zu entgehen flüchteten wir zu Fuß in das Dorf, in dem meine Großmutter wohnte. Dort erlebten wir die letzten Wochen des Kriegs.
Einer der Bauern des Dorfes hatte einen polnischen Zwangsarbeiter über Jahre hinweg drangsaliert. Als er ihn wieder einmal mit der Mistgabel bedrohte, setzte sich dieser zur Wehr. Der Pole wurde verhaftet. Ein Standgericht verurteilte ihn zum Tode. In einem nahegelegenen Steinbruch wurde er aufgehängt. Ich sah das Hinrichtungskommando auf einem Lastwagen durchs Dorf fahren. Zur Abschreckung mußten die polnischen Zwangsarbeiter aus den umliegenden Dörfern Zeugen der Hinrichtung sein. Ein Schwager des ermordeten Polen, der mit Vergeltung gedroht hatte, wurde erschossen. Die Dorfbewohner befürchteten nun, daß die Ermordung der polnischen Zwangsarbeiter katastrophale Folgen haben könnte. Die letzten Trupps deutscher Soldaten zogen durch das Dorf. Sie hatten den Befehl, keine Gefangenen zu machen und befürchteten, daß dieser Befehl auf sie zurückwirken wird. Einer von ihnen, ein neunzehnjähriger Soldat, hatte Tränen in den Augen als er davon berichtete. All das verbreitete ein Gefühl der Angst und der Ohnmacht.
Schließlich näherte sich die Front. Eines Morgens kamen sie. Ich sah verstohlen aus dem Fenster. Männer in erdbraunen Uniformen sprangen, mit der Maschinenpistole nach allen Seiten sichernd, von Deckung zu Deckung. Später durchkämmten sie die Häuser. Ich hörte Schritte auf der Treppe. Schließlich klopfte es an die Tür. Ich öffnete. Vor der Tür stand ein russischer Soldat mit der Maschinenpistole im Anschlag. Er fragte mich: „Ponimeisch po russky?“. Sinngemäß richtig doch grammatisch falsch echote ich: „ Ne ponimeisch po russky!“ Das waren die ersten russischen Worte, die ich in meinem Leben sprach. Der Soldat wiederholte mit belustigter Miene meinen Fehler: „Ne ponimeisch“. Still lächelnd drehte er sich um und polterte die Treppe hinunter. Der Vorfall zeigt, daß Völkerverständigung nicht so sehr darauf beruht, daß man die Sprache des anderen beherrscht, sondern darauf, daß man einander versteht und einander Respekt erweist. Er hat tatsächlich angeklopft, etwas nachdrücklich zwar, und gewartet, bis ihm aufgetan wurde.
Draußen herrschte naßkaltes Wetter. Die von schwerem Kriegsgerät durchpflügten Wege waren kaum passierbar. Deutsche Artilleriegranaten schlugen im Dorf ein. Im Haus hatte sich ein Trupp Rotarmisten einquartiert. Sie nahmen, was ihnen wertvoll erschien. Es war ratsam, ihnen dabei nicht im Weg zu stehen. Einer der Rotarmisten trat auf uns zu. In der Hand hielt er ein Paar abgetragene Schnürstiefel, die er in irgendeiner Ecke gefunden hatte. Er deutete auf seine lehmverkrusteten Stiefel, bei denen sich die Sohlen teilweise vom Oberleder gelöst hatten, und auf mich. Wir begriffen, daß er die Schuhe bitter nötig hatte und wissen wollte, ob ich die Schuhe noch brauchte oder ob er sie haben könnte. Die bittende Geste war in dieser Situation so unerwartet, daß sie uns zu Tränen rührte. Der Soldat verstand unsere Tränen wohl falsch, denn er versuchte, uns die Schuhe mit beschwichtigender Gebärde zurückzugeben. Erst nach langem Zureden war er bereit, sie als Geschenk anzunehmen. Diese ausgetretenen Schuhe sind für mich das wohl wertvollste Geschenk, das ich je in meinem Leben machen durfte. Ich hoffe, daß es ihm vergönnt war, trockenen Fußes in seine Heimat zurückzukehren.
Am 8. Mai 1945 ging der Krieg mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands zu Ende. Diejenigen, die sich allein an erfahrenem Leid orientieren und weniger an dem Leid, das durch sie oder mit ihrer Duldung anderen zugefügt wurde, bleibt es ein Tag der Niederlage Für mich war es ein Tag der Befreiung.
Das letzte Aufgebot
Sie sollten Hitlers Tross entsetzen,
Granaten rissen sie in Fetzen,
sie waren noch halbe Kinder
und starben, offen die Münder
zum letzten Schrei nach der Mutter.
Sie waren Kanonenfutter.
So starben sie den frühen Tod
als Hitlers letztes Aufgebot.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.05.2025.
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