Inga Nielsen

Lichter der Nacht

Es ist Nacht. Die Zeitspanne, die zwei Lichtperioden voneinander trennt. Die Zeit der Dunkelheit. Die Zeit in der alle Menschen schlafen. Die Zeit in der ich wach bin.
Ich bin nun 17 Jahre alt. Seit etwa 13 Jahren habe ich es aufgegeben mich nachts hin und her zu wälzen. Ich habe in meinem ganzem Leben noch keine einzige Minute geschlafen. Niemand anderes weiß etwas davon. Diejenigen, denen ich es erzählt habe, die glauben mir nicht. Es ist anomal, das weiß ich, ich habe ja schließlich 17 Jahre in einer Gesellschaft gelebt, in der jedes Wesen nachts schläft. Nachts gehen die Lichter aus, nachts wird es still.
Ich weiß nicht, wie ich mir Schlaf vorstellen kann, aber in einem Buch habe ich gelesen, dass jeder Mensch täglich beziehungsweise nächtlich sechs Stunden Schlaf benötigt. Schon nach 17 Stunden ohne Schlaf reagiert ihr Körper, als hätte er 0.5 Promille Alkohol zu sich genommen. In den letzten 13 Jahren, die ich damit verbracht habe herauszubekommen, was mit mir los ist, habe ich mehrere Theorien entwickelt, die vielleicht erklären würden, warum ich nicht schlafe.
Etwa für drei Jahre war ich fest davon überzeugt, ich wäre so etwas wie ein Vampir. Als ich mit 10 Jahren einen Science-Fiction-Film gesehen habe, hat dies mein ganzes Leben verändert. Die Theorie, die sich bei mir jetzt schon über sechs Jahre gehalten hat ist die, dass ich eine Außerirdische bin. Um das herauszufinden fehlt mir nur noch eine Antwort: Bin ich von meinen Eltern adoptiert worden? Ich traue mich nicht meine Eltern das zu fragen und es wird wohl auch noch eine Weile dauern, bis ich es tun werde.
Ich habe jedenfalls, trotz aller Fragen mehrere große Vorteile. Ich habe sehr lichtempfindliche Augen. Das mag nicht unbedingt ein Vorteil sein, wenn die Sonne scheint, aber dafür gibt es ja Sonnenbrillen. Der Vorteil dabei ist eigentlich, dass ich nachts mehr sehe.
Ein weiterer Vorteil ist, dass ich in Hamburg lebe. Im Süden würde öfter die Sonne scheinen, viel öfter. Das Klima hier in Norddeutschland ist perfekt.
Es ist schade, dass um drei Uhr morgens niemand Lust hat, mit mir etwas zu unternehmen, aber ich kann es eigentlich auch niemandem Übel nehmen. Ich bin um diese Uhrzeit meistens ziemlich aufgedreht.
Die meiste Zeit der Nächte verbringe ich jedoch damit, vor meinem Computer zu sitzen und einen Roman zu verfassen. Einen Science-Fiction-Roman. Ein Roman über mein Leben. Oder ich habe am nächsten Tag eine wichtige Prüfung, kann mich also am Tag davor mit Freunden treffen und dann in der Nacht lernen.
In den letzten Jahren jedoch missfiel mir meine „Begabung“ immer mehr. Ich fühlte mich nachts einsam. Es war zu still. Viel zu still.
Immer mehr Nächte verbringe ich einfach nur damit an meinem Fenster zu sitzen und hinauf in die Sterne zu sehen. Ich weiß nicht genau, warum, aber ich habe das Gefühl mit ihnen verbunden zu sein. Sie gehören zu mir und seltsamer Weise fühle ich mich nicht mehr ganz so einsam, wenn ich sie sehe.
Für viele sind die Sterne einfach nur Lichtpunkte in einer sonst schwarzen und langweiligen Leere. Für mich sind sie viel mehr. Sie sind wie ich: einsam unter vielen. Seit einiger Zeit beschäftige ich mich daher intensiv mit Wissenschaften, wie Astronomie oder Kosmologie. Es fällt mir erstaunlich leicht, zu verstehen, was in den Büchern steht, die mir mein Physiklehrer inzwischen zur Verfügung stellt. Einige Dinge jedoch sind in sich nicht schlüssig und es kommt mir so vor, als hätten einige Wissenschaftler nicht das richtige Gefühl für das Gebiet, auf dem sie arbeiten. Es ist schade, dass man in den letzten Jahren nur noch auf der Jagd nach der Formel für das Universum ist. Auf der Jagd nach der großen, vereinheitlichten Theorie.
Einige der begabtesten Wissenschaftler wollen noch immer nicht akzeptieren, dass es doch so selbstverständlich ist, dass es noch Leben außerhalb dieses Planeten gibt.
Vielleicht werden die Menschen eines Tages oder eines Nachts auf ihre Antwort stoßen. Der oder diejenige wird sich wundern, wie einfach im Grunde Komplexität ist und wie geordnet das Chaos.
Mich wird jedoch nur eines zufrieden stellen - der Blick in die Sterne. Besonders nach dem Ereignis gestern Abend. Ich sah hinauf zu meinem Lieblingsstern Beteigeuze, der dort friedlich, rot schimmernd an seinem Platz im Sternenbild Orion stand und in mir seltsame Gefühle auslöste. Wie schon gesagt, habe ich schon oft eine Verbindung zu den Sternen gespürt, doch nicht so intensiv wie gestern Abend. Das Gefühl ist noch immer da, aber ich schätze, ich habe mich inzwischen daran gewöhnt und es erscheint mir deshalb nicht mehr so stark.
Es kommt mir vor, als wolle dieses Licht mit mir sprechen. Nicht durch Worte, sondern durch Gefühle teilt er sich mir mit. Es sind starke Gefühle. Zwischen Angst, Verzweiflung und Erleichterung. Ich bin mir sicher, das was dort mit mir spricht, es lebt! Es ist sehr alt und es lebt nicht mehr lange.
Wenn ich jetzt jedoch in den glitzernden Himmel hinauf sehe, dann kann ich ihn ganz deutlich erkennen. Nicht, dass sein rotes Licht heller wäre, als sonst. Nein! Ich bräuchte ihn nicht zu sehen um seine Gegenwart zu spüren. Er spricht und er spricht mit mir.
Es ist eindeutig - er stirbt. Er will, dass ich ihm zuhöre. Und das tue ich. Ich kann eigentlich gar nicht anders.
Dieses Wesen hat eine stake Persönlichkeit, aber es kommt mir vor, als würde es schwächer und das bilde ich mir nicht ein. Seine Gefühle schwanken nun zwischen Angst, Hoffnungslosigkeit und Trauer, großer Trauer. Er hat etwas verloren und dies ist schon lange her. Er war nicht immer allein und er sehnt sich zurück nach der Zeit der Gesellschaft und der Freude.
Im Moment würde ich diese Verbindung am liebsten lösen. Ich versuche ihm zu antworten, doch ich glaube nicht, dass er mich hört. Er reagiert nicht auf meine Gefühle, auf meine Worte. Er wird immer stiller und stiller.
Zwar kann ich ihn jetzt noch von den anderen unterscheiden, aber nur, weil ich seine Gefühle verfolge.
Nun spüre ich ihn kaum noch, es kommt mir fast so vor, als wäre er verschwunden, doch irgend etwas sagt mir, dass er noch lebt. Er hat mir noch etwas zu sagen. Ich weiß nicht woher ich das weiß, aber ich habe das bestimmte Gefühl, ich werde es bald erfahren.
Es kommt mir jetzt eigenartig vor, wenn ich mich in meinem dunklem Zimmer umsehe. Mein ganzes bisheriges Leben erscheint mir auf einmal so unwichtig und ich komme mir gefangen vor. Gefangen in meinem Körper auf einem kleinem unwichtigem Staubkorn namens Erde. Wenn ich etwas hasse, dann ist es Gefangenschaft!
Über den Häuserdächern draußen sind einige Sterne zu sehen. Beteigeuze steht wie immer im Sternenbild Orion und in diesem Augenblick scheint alles friedlich. Eine Katze maunzt irgendwo ein oder zwei Straßen weiter, ein Hund bellt in unschätzbarer Entfernung. Doch trotz dieses Friedens, der plötzlich über mich hereinbricht, merke ich die Veränderung.
Das glänzende Licht von Beteigeuze nimmt an Helligkeit zu. Fast unmerklich wird diese mondlose Nacht in ein silbernes, kaltes Licht getaucht. Allmählich setzt Beteigeuze zu seinem letzten Aufschrei an. Er wird heller und heller und muss sich nun auch für Menschen deutlich von dem Rest der Sterne unterscheiden. Er ist so hell, wie ein erleuchteter Vollmond und er blendet mich.
Ich empfange nun etwas von ihm. Keine Gefühle. Oder doch? Ich sehe Bilder vor meinen geschlossenen Augen. Ich sehe mich selbst, ich sehe Beteigeuze, ich sehe einen Fremden, der mir irgendwie vertraut vorkommt, ich höre Worte einer Sprache, die ich nicht zuordnen kann, aber die ich verstehe. Sie erzählen mir etwas. Sie zeigen mir etwas. Eine Landschaft. Eine Stadt. Einen Planeten. Einen Mann, eine Frau. Der Fremde ist es, der zu mir spricht. Er sagt, er sei mein Bruder. Er sagt, wenn das Licht erloschen ist, solle ich bereit sein. Ich werde gehen - nach Hause.

Es ist nun zwei Monate her, dass ich das sonderbarste Erlebnis meines Lebens hatte, und dass die Nachricht, dass der Stern Beteigeuze in einer Supernova aufgegangen ist durch die Medien ging.
Seit zwei Monaten hat die Erde tagsüber zwei Sonnen. Nachts ist es beinahe taghell, bis Beteigeuze untergeht. Doch das Licht wird schwächer und ich erwarte den Moment, an dem es vollkommen erloschen sein wird. Aber auch, wenn der Stern an Helligkeit verliert, wird er noch sichtbar sein. Noch Tausende von Jahren, wenn nicht länger. Vielleicht werde ich eines Tages oder eines Nachts zurückkehren und den wunderschönen planetarischen Nebel bewundern, der bald ein Viertel des irdischen Nachthimmels erfüllen wird und ein Gefühl der Fremde über die Menschen hereinbrechen lassen wird.
Meine Zeit auf dieser Welt hier ist jedenfalls vorerst beendet. Ich habe hier mit meinem Leben abgeschlossen und warte auf die Nacht, in der ich in der Lage sein werde die anderen Sterne im Sternenbild Orion zu erkennen. Ich warte auf die Nacht in der ich endlich nach Hause kommen werde.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.12.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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