Christopher O.

Das Gesicht im Spiegel

Ein Fremder starrte aus dem Spiegel. Lange schwarze Haare umrahmten ein spitzes Gesicht, dunkelblaue Augen stachen daraus hervor. Das Bild hatte keine festen Umrisse, es war unnatürlich verzerrt und flackerte ununterbrochen wie das Bild auf einem kaputten Fernsehbildschirm. Im Großen und Ganzen wirkte der Fremde nicht bedrohlich, im Gegenteil. Er strahlte eine ruhige Aura aus und erweckte den Eindruck eines seriösen, jungen Mannes. Nur, dass sein Gesicht eigentlich nicht in diesem Spiegel zu sehen hätte sein sollte.
Andreas wandte den Blick ab. Es konnte sich nur um eine Einbildung handeln. Wenn er eine kurze Zeit seine Umgebung betrachtete, würde das Gesicht schon wieder verschwinden.
Er saß auf dem Speicher seines Hauses und wühlte in altem Kram herum, der bereits seit Generationen hier oben herumstand und für den sich niemals jemand interessiert hatte. Außer, wenn die Familie etwas loswerden, es jedoch nicht wegwerfen wollte. „Wir brauchen es vielleicht noch.“ war die viel gehörte Ausrede, die Andreas auch von seiner Frau kannte. Nun war sie gerade mit den Kindern bei ihren Eltern – Menschen, die Andreas nicht einmal besuchen würde, wenn sein Leben davon abhinge – und würde erst heute Abend nach Hause kommen. Und selbstverständlich nutzte er die Chance, hier oben einmal für Ordnung zu sorgen. Eigentlich hatte er erwartet, bis zu ihrer Ankunft mit Aufräumen fertig zu sein, aber der Müllberg hatte sich als größer erwiesen als erwartet.
Um Andreas herum standen geöffnete Kisten – zerrissen, feucht, dreckig – die er zum größten Teil bereits ausgeleert hatte. Im schwachen Licht der wenigen nackten Glühbirnen, die den Speicher erhellten, erkannte er alte Puppen, deren Kleider zerrissen waren, von Motten zerfressene Hosen und Röcke, eine dunkelbraune Ledertasche und die Scherben von Blumentöpfen. Zwischen dem ganzen Krempel standen hölzerne Hocker, lagen Jesusfiguren an Kreuzen und kleine kitschige Marien herum. Eine Kiste voller Weihnachtsschmuck, der wahrscheinlich seit Jahrzehnten keinen Weihnachtsbaum mehr gesehen hatte, stand in einer finsteren Ecke des Speichers. Bilder, die Kinder ihren Eltern vor Jahrzehnten zu Weihnachten oder zum Geburtstag geschenkt hatten, zeigten interessante, aber interpretationsbedürftige Zeichnungen, bunte Kreise und Vierecke, Formen, die entfernte Ähnlichkeit mit Menschen zeigten, gelegentlich auch Objekte, die mit viel Fantasie Hunde sein könnten. Kissen, aus denen die Füllung herausquoll wie Gedärme und auf denen nie wieder jemand schlafen würde (das gleiche galt übrigens für die halb verschimmelte Matratze), Pfandflaschen, deren Etiketten die Namen von Marken trugen, die es seit Jahren nicht mehr gab, und dazwischen dreckige Socken, deren bloßer Anblick schon genügte, Andreas den Magen umzudrehen.
Doch zwischen dem ganzen nutzlosen Gerümpel standen auch halbwegs brauchbare und manchmal sogar interessante oder wertvolle Dinge. So hatte Andreas ein Geschirrservice entdeckt, das für seinen Geschmack zwar ein wenig zu kitschig aussah, das man jedoch sicher verscherbeln konnte. Dann waren da kleine Tierfiguren aus Keramik, ein bisschen Schmuck – ein Paar Ohrringe in Herzform, eine silberne Kette und eine kleine Armbanduhr, die leider nicht mehr funktionierte. Vielleicht konnte man sie reparieren lassen. Er hatte alte Dokumente gefunden, Urkunden aus der Zeit des Nationalsozialismus, auf denen der deutsche Adler würdevoll prangte und die in alter Schrift Weisheiten kundtaten, das Deutsche Vaterland und den Dienst für das Selbige betreffend. Liebesbriefe von Generationen von Andreas’ Vorfahren, Schwarz-Weiß-Fotos, die längst verstorbene Verwandte zeigten und eventuell einmal mit den anderen Dokumenten eine Grundlage für Ahnenforschung sein konnten, falls Andreas einmal die Zeit und vor allem die Lust dazu fand, Schulbücher aus den Fünfzigern, Schulhefte seiner Eltern und Münzen, die noch aus der Weimarer Republik stammten. Die Krönung war natürlich der Plattenspieler, der mit etwas Glück sogar noch funktionierte, und einige alte Schallplatten, die für den Musikfan Andreas einen wahren Schatz darstellten.
Und natürlich war da dieser Spiegel, aus dem ihm nun ein völlig fremdes Gesicht entgegenstarrte statt seines eigenen, das er eigentlich sehen sollte. In einem Stapel uralter Zeitungen war der Spiegel eingepackt gewesen, um ihn von den scharfen Zähnen der Zeit zu bewahren. Er hatte einen goldenen Rahmen, auf dem merkwürdige Figuren eingraviert waren, und festes stabiles Glas. Es handelte sich um ein wunderschönes Stück – wenn dieses Gesicht bloß nicht wäre.
Andreas blickte zurück in der Erwartung, dass es verschwunden wäre, doch er wurde enttäuscht. Noch immer sah der Mann ihn an, unbeweglich, analysierend. Andreas nahm den Spiegel in beide Hände und betrachtete ihn eingehender. Es musste sich um einen Trick handeln. Irgend jemand versuchte, ihm einen Streich zu spielen. Anders ließ sich dieses Phänomen nicht erklären. Er drehte den Spiegel, klopfte de Rückseite ab und untersuchte die Verzierungen genauestens.
Während seiner Untersuchung begann der Mann zu sprechen. Seine dunkle, aber dennoch sympathisch wirkende Stimme erfüllte den gesamten Raum. Er sprach langsam und deutlich, artikulierte jedes einzelne Wort genauestens, als hätte er eine lange Zeit nicht mehr gesprochen. Andreas stellten sich die dünnen Haare an den Armen auf, und er fror plötzlich erbärmlich.
„Mein Name ist David de Luca.“ Den Namen stieß er beinahe triumphierend aus, als müsse Andreas ihn kennen und sofort mit Ehrfurcht reagieren. Natürlich hatte er den Namen noch nie zuvor gehört und zeigte keinerlei Anzeichen von Erkennen. Doch der Fremde reagierte überhaupt nicht auf Andreas’ Unwissen, sondern sprach weiter. „Ich hatte die Macht über Leben und Tod, Raum und Zeit, bevor meine Feinde mich auf Ewig in diesen Spiegel sperrten. Doch einen Teil meiner Macht besitze ich noch immer, und ich benutze sie jetzt, um Ihnen zu zeigen, was an einem anderen Ort geschieht.“
Eine beunruhigende Faszination packte Andreas auf einmal, während er das Gesicht beobachtete und der Stimme lauschte. Er starrte wie gebannt auf den Spiegel, obwohl er lieber weggerannt wäre. Das Gesicht verschwand, doch die Anwesenheit des Mannes war geradezu spürbar. Er war zwar nicht mehr sichtbar, aber er war noch da, irgendwo in diesem Spiegel. Und er sah alles, was sich draußen in der Wirklichkeit zutrug. Andere Bilder erschienen.
Zuerst sah Andreas seine Frau Valerie und seine beiden Töchter. Sie waren bei Valeries Eltern zu Besuch, die den Mann ihrer Tochter immer noch – selbst nach zehn Jahren Ehe mit ihrer Tochter – für einen absoluten unfähigen Stümper hielten, obwohl er sich Mühe gab, ihnen das Gegenteil zu beweisen. Allmählich jedoch akzeptierte er, dass sie ihn niemals würden leiden können, selbst wenn er noch so erfolgreich wurde. Die Meinung seiner Schwiegereltern war ihm und Valerie allerdings auch gleichgültig. Das schlimme war nur, dass Valerie sich jetzt wieder von ihren Eltern würde anhören müssen, dass sie den Falschen geheiratet hatte.
Sie saßen im Zug, in wenigen Stunden würden sie am Bahnhof sein. Valerie las, die Kinder alberten herum und erhielten strafende Blicke von den anderen Fahrgästen, die sie über ihre Zeitungen hinweg mit bösen Blicken anfunkelten.
Das ganze Bild war verzerrt, undeutlich wie zuvor das Gesicht des Fremden. Andreas hörte leise die Stimmen der Fahrgäste, doch sie klangen wie durch einen dichten Schleier, als drängen sie aus einer anderen Welt in diese. Nur das Ziffernblatt von Valeries Uhr war gestochen scharf und genau erkennbar. Es zeigte vier Uhr an.
Ist es schon so spät, dachte Andreas, als er plötzlich einen Schrei hörte. Valerie, seine Töchter, die anderen Fahrgäste, sie alle stießen einen markerschütternden vielstimmigen Schrei aus. Das Bild drehte sich, verschwand. Nun war der Zug zu sehen oder was von ihm übrig geblieben war, nachdem der ICE entgleist war. Andreas spürte heiße Tränen in seine Augen steigen, er hörte kaum, dass er immer wieder ein einziges Wort ausstieß: „Nein.“ Er sprach immer lauter, immer entsetzter. „Das ist nicht wirklich.“ Er wollte nichts mehr sehen, doch er wurde nicht geschont. Als würde eine Kamera über die Trümmer gleiten und die gesamte Katastrophe auf den Spiegel übertragen, sah er den Zug, die Leichen. Gepäckstücke waren über das gesamte Gelände verteilt, dazwischen Arme und Beine, manchmal gnädigerweise von Kleidungsstücken verdeckt. Dann sah er Valerie, die Augen weit aufgerissen und tot, ihr schönes Gesicht eine blutige Grimasse aus Entsetzen und Angst. Nicht weit daneben hockten die beiden leblosen Körper seiner Töchter verkrümmt in ihren Sitzen, die Arme und Beine ...
Endlich konnte er sich aus seiner Erstarrung lösen und einen schrecklichen Schrei ausstoßen. „Das ist nicht wirklich.“ brüllte er heiser. Das Bild wurde wieder durch den Fremden ersetzt, der nun eine Trauermiene aufgesetzt hatte, als würde er auf eine Beerdigung gehen, als würde es ihm leid tun, dass er Andreas solche Schmerzen zugefügt hatte.
„Sie haben recht.“ Andreas beruhigte sich. Es war nicht wirklich passiert, er bildete sich alles nur ein. Dieses Monster folterte ihn mit Bildern, die seines schlimmsten Alptraum zeigten. „Was Sie gerade gesehen haben, wird in neunzig Minuten geschehen. Ich habe Ihnen einen Blick in die Zukunft gewährt.“ Der Fremde schwieg.
Alles in Andreas schrie danach, den Speicher zu verlassen, dieses Wesen im Spiegel zu vergessen und auf die Ankunft seiner Familie zu warten. Denn sie würden kommen. Der Zug würde nicht entgleisen. Das durfte einfach nicht sein. Er wollte aufspringen, den Spiegel vernichten. All dies wollte er tun, doch er blieb sitzen, betrachtete weiterhin das fremde Gesicht, beinahe, als würde dieses Wesen seine Handlungen kontrollieren, als würde er unter seinem Einfluss stehen.
„Ich gebe Ihnen die Möglichkeit, den Tod Ihrer Familie zu verhindern.“ Der Fremde blieb vollkommen ruhig und gelassen, seine Stimme zeigte keinerlei Gefühle, während er von dem Tod der Menschen sprach, die alles in Andreas’ Leben waren. „Vor langer Zeit wurde ich in diesen Spiegel verbannt, während mein Körper im Wald verscharrt wurde. Ein böser Zauber hält mich hier gefangen. Mein Körper verwest, jedoch wesentlich langsamer als der gewöhnlicher Menschen. Meine Feinde verlangsamten den natürlichen Prozess magisch, damit meine Qualen über Hunderte von Jahren anhalten. Wenn mein Körper ganz zerfallen ist, werde auch ich sterben, und meine Feinde werden triumphieren.“
Andreas wollte eine Frage stellen, aber er konnte seinen Mund nicht bewegen. Alle seine Muskeln schienen gelähmt zu sein. In Gedanken formulierte er die Frage und versuchte verzweifelt, seinen Mund zu öffnen, damit er sie aussprechen konnte. Kein Laut kam hervor, der Fremde antwortete trotzdem.
„Meine Feinde sind Monster. Ich habe versucht, sie zu bekämpfen und zu verhindern, dass sie weiterhin unschuldige Menschen töten.“ Er lächelte, als er einen neuen Gedanken von Andreas empfing. „Ja, ich kann Ihre Gedanken verstehen. Ich kann noch mehr, mehr als Sie sich vorstellen können. Sie werden es erleben.“ Sein Lächeln verschwand wieder. „Auch das Unglück in neunzig Minuten wird auf das Konto meiner Feinde gehen. Nur ich kann sie aufhalten und Ihre Familie retten.“ Er legte eine bedeutungsschwangere Pause ein und sah Andreas in die Augen. „Doch damit ich das tun kann, muss ich aus diesem Spiegel entkommen. Bringen Sie ihn zu meinem Körper. Dann werde ich Ihnen helfen und Ihre Frau und Ihre Kinder retten. Denken Sie daran, dass Sie nicht viel Zeit haben. Ich werde ständig mit Ihnen in Kontakt bleiben. Aber nehmen Sie sich in Acht. Meine Feinde sind schon unterwegs. Sie werden Sie töten, wenn sie Sie erwischen.“
Das Gesicht verschwand. Statt dessen starrte nun Andreas aus einem Spiegel, der keine Fremden oder prophetische Bilder aus der Zukunft sandte.
Die Welt war wieder in Ordnung.
Andreas warf einen Blick auf die Armbanduhr. Sie zeigte in großen roten Zahlen 14:33:45 an. Und die Sekundenanzeige bewegte sich unerbittlich und gnadenlos weiter. Er sah zum dem Spiegel, den er noch immer in der Hand hielt. War es nur eine Einbildung gewesen?
In der Wohnung fiel eine Tür ins Schloss. Der Knall hallte durch das leere Haus wie die Detonation einer Bombe. Andreas erstarrte in der Bewegung, Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Bewegungslos verharrte er und lauschte auf weitere Geräusche. Er glaubte beinahe, dass sich im Haus ein Gestank ausbreitete wie der Schwefelatem eines Drachen. Zuerst lag nur ein schwacher Hauch in der Luft, dann wurde er stärker, unangenehmer.
Andreas war sich ganz sicher, dass er alle Türen geschlossen hatte wie er es immer tat. Die Mädchen hatten Probleme damit, die Türen hinter sich zu schließen, doch sie waren heute nicht im Haus. Wahrscheinlich hatte er sie einen Spalt offen gelassen, und ein Windzug (Windzug? Woher? Die Fenster sind alle zu.) hatte sie zugeschlagen.
Etwas fiel zu Boden und zerbrach laut klirrend. Das Geräusch hallte beinahe ohrenbetäubend durch die unheimliche Stille und löste Andreas aus seiner Erstarrung. Es war in der Wohnung passiert. (Was?) Eine Vase, ein Glas, irgendwas war auf den Boden gefallen wegen ... (des Windzugs?) Er wusste es nicht. (Jemand ist im Haus) Es gab keine andere Erklärung, ein Einbrecher, ein Mörder. Ein Gedanke durchzuckte Andreas’ Gehirn, nur ein Wort, das sich ständig wiederholte wie ein Platzregen, immer lauter werdend, immer drängender, versetzte ihn in eine unbändige Panik (Feind, Feind, Feind, Feind), schreckliche Bilder stiegen in ihm auf, Bilder von Mord, von Blut (Feind, Feind, Feind, Feind). Seine Hände begannen zu zittern, Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn und unkontrolliertes Zucken durchlief seinen Körper als friere er.
Andreas warf noch einen Blick auf den Spiegel, der immer noch ein ganz gewöhnlicher Spiegel war. Kein unbekanntes Gesicht, keine geheimnisvolle Stimme, keine Drohungen.
Dann kroch er langsam zurück zur Luke, darauf bedacht, nichts von dem Gerümpel umzustoßen, damit der den Eindringling (er ist in meinem Haus) nicht auf sich aufmerksam machte. Langsam stieg er die Leiter hinab, auf weitere Geräusche achtend, um den Aufenthaltsort des Eindringlings erkennen zu können.
In der Küche brannte kein Licht. Andreas drückte auf den Schalter und vertrieb dadurch die bedrohlich wirkende Dunkelheit. Die auf Hochglanz gebrachten Fließen glitzerten, an den Wänden hingen Pfannen und Töpfe, auf der anderen Seite eine Reihe von Messern in verschiedenen Größen. Nur der Berg aus dreckigem Geschirr, der neben der Spüle aufragte, störte das Bild der perfekten Sauberkeit. Voller Schuldgefühle dachte Andreas kurz daran, dass er die traurigen Überreste seines Essens noch beseitigen musste, bevor Valerie nach Hause kam. Dann dachte er an de Luca, den unbekannten Eindringling und die Möglichkeit, dass seine Frau ihr Haus womöglich niemals wieder betreten würde.
Er schüttelte den Gedanken ab und nahm statt dessen das längste und größte Messer von der Wand, tauschte es dann gegen ein etwas kleineres ein, das wesentlich besser in der Hand lag.
An der Tür drehte er sich noch einmal um. Kalt und verlassen lag die Küche im Schein der Neonlampen, der von der Decke herabfiel, hatte jeglichen Anschein von Wärme verloren. Die Wänden blitzten weiß und steril. Es fehlte einfach ein Mensch, der diesem Raum, dem ganzen Haus etwas von seiner Wärme abgab. Meistens hielt sich die gesamte Familie hier auf. Sie saßen am Tisch, tauschten Neuigkeiten aus, unterhielten sich über Geschichten aus Schule und Beruf. Dann war es angenehm in diesem nun so steril wirkenden Raum, dann herrschte hier das Leben und nicht der Tod.
Fröstelnd schaltete Andreas das Licht aus, und die Küche versank wieder in der Finsternis.
Auch das Schlafzimmer schien leer zu sein. Andreas konnte nur die Schemen der ihm bekannten Möbel erkennen, das Doppelbett, der Kleiderschrank, von dem Valeries Kleidung den größten Teil beanspruchte. Das fahle Licht der Straßenlaternen, das durch das Fenster hereinfiel, beleuchtete einen Teil der Wand, der übersät war mit Bildern von Valerie und den Kindern. Auch dieses Zimmer, das normalerweise eine Art Zuflucht darstellte, wenn er und seine Frau einmal ihre Ruhe haben wollten, schien nun eine Bedrohung darzustellen. Andreas zog sich zurück und schlug beinahe erleichtert die Tür hinter sich zu.
Als nächstes ging er zum Wohnzimmer. Der Gestank wurde stärker als sei der gesamte Raum von einer dunklen Aura umgeben, die das Wohnzimmer wie eine giftige Wolke von dem Rest des Hauses trennte. Die Tür stand einen Spalt offen, und Andreas glaubte, Geräusche wahrzunehmen. Scharren, Knurren, leises Flüstern einer kratzenden, dämonischen Stimme. Etwas streifte durch den Raum, schnupperte an den Möbeln, an der Einrichtung. Andreas musste an einen neugierigen Hund denken, der harmlos aussah, bis er anfing zu knurren und eine Reihe weißer unendlich scharfer Zähne entblößte.
Zitternd stieß Andreas die Tür auf, hielt das Messer erhoben, doch es erschien ihm plötzlich als eine in jeder Hinsicht unzureichende Waffe gegen das Monster, das dort hinter der Tür auf ihn lauerte, einer Tür, die der Eingang zu Hölle zu sein schien.
Im ersten Moment sah er überhaupt nichts, nur die Schemen der Möbel und dunkle Schatten in den Ecken. Der Gestank war noch stärker, die Pestwolke zog ihm genau ins Gesicht, verdarb die saubere Luft im übrigen Haus.
Er füllte seine Lungen noch einmal mit halbwegs angenehmer Luft, dann betrat er das Zimmer. Keinerlei Geräusche drangen aus der Finsternis zu ihm. Das Scharren hatte aufgehört, und Andreas hatte plötzlich das Gefühl, dass ihn etwas beobachtete, dass Augen auf ihn gerichtet waren und Wesen auf ihn lauerten, darauf warteten, dass er weiter in den Raum vordrang, um ihn dann knurrend anzuspringen und ihm die Kehle zu zerfetzen.
Er blieb stehen und ließ seine Blicke durch das Wohnzimmer schweifen. Er konnte die Umrisse der Schränke, des Sofas und des Fernsehers erahnen. Durch die Fenster kam kaum Licht, denn sie führten hinaus in den Garten, wo es keinerlei Beleuchtung gab.
Andreas tat vorsichtig einen Schritt nach vorne, seine Finger glitten an der Wand entlang, den Lichtschalter suchend. Auf einmal klatschte etwas gegen die Fensterscheibe. Einen Schrei unterdrückend, zog er sich (nur ein Ast) zurück in den Flur. Da waren Augen gewesen (ein Vogel), Augen, die sich an die Fensterscheibe gedrückt hatten (der gegen das Fenster geflogen ist) – auf der Suche nach ihm. Sie hatten rot geleuchtet in der Dunkelheit (eine Einbildung), wie zwei glühende Stecknadeln hatten sie sich von der Schwärze des Hintergrunds abgehoben.
(Lächerlich. Da war nichts, überhaupt nichts.)
Sein Atem beruhigte sich allmählich wieder. Noch einmal wagte er einige Schritte nach vorne. Und da sah er sie, direkt vor sich. Zwei glühende Nadeln in der Dunkelheit. Sie fixierten ihn genau, schienen ihn mit ihren Blicken lähmen zu wollen. Zwei schwarze Pupillen bohrten sich in Andreas Augen. Er erstarrte zu Bewegungslosigkeit (es), die Blicke auf die Augen gerichtet. Schweiß brach (wird) ihm aus allen Poren, während er (mich) darauf wartete, dass das Wesen fauchend und keifend auf ihn sprang und mit seinen (töten) Zähnen sein Lebenslicht ausblies.
Nichts geschah. Die Augen hingen weiterhin reglos in der Luft, als gäbe es überhaupt keinen Körper, als seien sie selbst Lebewesen. Sie starrten sich gegenseitig an, einige Sekunden lang, die Andreas wie eine Ewigkeit erschienen. Dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen (wenn ich mich bewege) und tastete nach dem Lichtschalter (wird es springen). Seine Hand glitt an die Wand, bewegte sich wie eine Spinne über die raue Tapete und griff ins Leere. Einen kurzen Moment spürte Andreas die Panik nahen (er muss da sein), als er etwas eckiges unter seinen Fingern ertastete. Erleichtert drückte er den Schalter und hob gleichzeitig das Messer. Er wollte das Untier sehen, dem die Augen gehörten, aber er wollte ebenfalls in der Lage sein, sich zu verteidigen, falls es aus seiner Erstarrung erwachte.
Der Schalter bewegte sich, er klickte – und nichts geschah.
Wieder kam die Panik (was tue ich ohne Licht?), als das Licht plötzlich aus den Deckenleuchten flutete. Andreas genehmigte sich ein kurzes vorläufiges Aufatmen (die neuen Energiesparlampen) und richtete seine armselige Waffe gegen das Wesen, das er vor sich erwartete, gegen das Wesen, das es nicht geben konnte.
Er war alleine. Kein Tier, kein fremdes Ungeheuer saß dort und wartete, dass sein Opfer eine Schwäche zeigte. Nicht einmal zwei Augen hingen in der Luft, denn so unheimlich das auch gewesen wäre, so fand Andreas die reale Situation noch erschreckender. Wem hatten die Augen gehört?
(Einbildung. Ich habe sie mir eingebildet. Ich werde verrückt.)
Der Raum wurde von dem l-förmigen Sofa dominiert, auf dem Andreas’ Familie die Abende zusammen verbrachte, entweder vor dem Fernseher oder über ein Gesellschaftsspiel gebeugt, das sie auf dem kleinen Tisch aufgestellt hatten. Nur zwei Meter entfernt an der Wand stand der Schrank, in dem die Spiele untergebracht waren. Daneben eins von zwei großen Bücherregalen, eine kleine Kommode, auf der ein Schachspiel aus Glas stand, schließlich die neue Stereoanlage, die Valerie vor kurzem gekauft hatte. Auch hier hingen unzählige Fotos an den Wänden. Andreas wurde von seiner Frau und seinen Töchtern angelächelt, während er das Zimmer nach Spuren durchsuchte. Das größte Bild zeigte Anke und Jessica kurz nach ihrer Geburt, Anke nuckelte selig am Daumen, während Jessica mit einem herzhaften Gähnen dem Fotografen ihr Desinteresse an ihm und seiner Kamera kundtat.
Seine Augen glitten über die Möbel und die Fotos auf der Suche nach Veränderungen, die von einem Eindringling zeugten. Die Mädchen bei ihren ersten Gehversuchen, geführt von ihrem Vater, ein Hochzeitsfoto von Andreas und Valerie, Valerie lachend auf dem Rohr einer riesigen Kanone, das kleine Häuschen in Irland, in dem sie ihre Flitterwochen verbracht hatten. Eine lange Reihe von Fotos dokumentierte die Entwicklung der Mädchen von ihrem ersten Atemzug bis zu den stolzen Vierzehnjährigen, die sie heute waren.
Er war alleine, der Gestank war verschwunden. Andreas blieb neben dem Sofa stehen und drehte sich im Kreis, versuchte jeden Winkel zu erfassen, jedes Versteck zu erkennen. Er kniete sich nieder und warf einen Blick unter das Sofa, öffnete die Schränke, sah hinter die langen weißen Vorhänge, hinter denen sich gut ein Mensch verkriechen konnte.
Plötzlich spürte er kalten Atem in seinem Nacken, jemand stand direkt hinter ihm. Zum Glück hielt er das Messer noch immer in der Hand. Ruckartig drehte er sich um, rammte seinem unsichtbaren Gegner das Messer genau in die Brust. Doch dort war niemand. (Wo hast du dich versteckt?) Er konnte sich die Luft, die stoßweise seinen Nacken berührt hatte, doch nicht eingebildet haben.
Andreas ging leicht in die Knie, drehte sich im Kreis, lauschte auf jedes noch so kleine Geräusch. Wieder klatschte etwas ans Fenster. Dann noch einmal, und noch einmal. Andreas zögerte einen Moment (ich will sie nicht sehen). Wie viele mochten es sein (es gibt sie nicht), dass sie so einen Lärm verursachen konnten? Wenn die Fensterscheibe unter ihrem Druck nachgäbe, hätte Andreas wahrscheinlich keine Chance mehr. Er drehte den Kopf, und da waren sie. Hunderte, Tausende von Augenpaaren (nein!), in der Dunkelheit rot leuchtend (nein!), ihre Blicke gierig auf ihr Opfer (NEIN!) gerichtet. Die Fensterscheibe schien bereits unter ihnen nachzugeben (das), es konnte sich nur noch um Sekunden handeln (ist), bis sie durchbrachen (nicht) und sich auf Andreas stürzten (wirklich).
Er schloss die Augen (es gibt sie nicht, es gibt sie nicht, es gibt sie nicht), wartete auf das Zerbersten der Fensterscheibe (es gibt sie nicht) und die schrecklichen Schmerzen, wenn sie ihm das Fleisch von den Knochen rissen (es darf sie nicht geben!).
Das Klatschen endete nicht, das Glas schien ein Hindernis für sie darzustellen. Andreas öffnete die Augen, nun etwas zuversichtlicher, dass er die nächsten Minuten überleben würde, und erkannte die wahre Ursache der Geräusche. Der Wind hatte sich gedreht, und der Regen klatschte nun genau gegen die Fensterscheibe.
Einige Sekunden stand Andreas wie gebannt dort und betrachtete die Muster, die die Wassertropfen auf der Scheibe hinterließen, bevor sie verschwanden (ich werde wirklich verrückt, das ist die einzige Erklärung).
Das Telefon klingelte. Andreas erschien das vertraute Geräusch in einer Umgebung, die mit einem Mal so erschreckend und gefährlich geworden war, irgendwie banal.
„Hallo?“ Er brachte nur ein leises Flüstern zustande. Der Anruf war falsch, passte nicht in die Situation hinein.
„Hat er mit Ihnen gesprochen?“ Die raue dunkle Stimme eines Mannes drang aus dem Hörer. Andreas fand den Anrufer auf Anhieb unsympathisch, vor allem da er sich nicht vorstellte und keinerlei Anzeichen von Höflichkeit erkennen ließ.
„Wer?“ fragte Andreas, obwohl er sich ziemlich sicher war, wen der Anrufer meinte.
„De Luca. Haben Sie ihn gesehen?“
Andreas war sich nicht sicher, ob er die Wahrheit sagen sollte. Noch immer dachte er an de Lucas Bericht, er werde verfolgt. (Der Feind. Es ist der Feind.) Nur mit Mühe konnte er ein Auflachen unterdrücken. Es passte einfach nicht, dass der Feind, den de Luca beschrieben hatte, sich per Telefon meldete. (Blödsinn. Da erlaubt sich jemand einen Spaß mit mir.)
„Jetzt hören Sie mir einmal gut zu, wer immer Sie auch sind.“ Andreas wusste selbst nicht, woher er den Mut nahm, so mit dem Mann zu sprechen. (Ich habe die Schnauze einfach voll.)
„Ich spiele Ihr Spielchen nicht mehr mit. Suchen Sie sich einen anderen Idioten und schaffen Sie den verdammten Spiegel aus meinem Haus, bevor ich mich an die Polizei wende.“
(Wenn es nur ein Scherz ist, warum wusste dieser de Luca, wann Valerie und die Kinder nach Hause fahren?) Er hatte es selbst erst vor zwei Stunden erfahren (Sie hören mein Telefon ab).
„Wir spielen nicht, Herr Dansauer. Sie erfassen vielleicht die Tragweite dieser Sache nicht ganz, deswegen werde ich Sie nun darüber aufklären: Sie und Tausende anderer Menschen schweben in Lebensgefahr.“
„Ja, und vor allem meine Familie.“
Ein kurzes Schweigen schloss sich an, dann fragte die Stimme, dieses Mal etwas leiser und lauernder: „Was hat er Ihnen gesagt?“
„Dass Sie meine Familie töten werden. Es wird aussehen wie ein Zugunglück, aber es wird Mord sein.“
„Ich wusste nicht, dass er schon so mächtig ist.“ Der Mann schien mit jemandem zu sprechen, der neben ihm stand. Dann sprach er wieder genau in den Hörer. „Erzählen Sie mir, was er Ihnen gesagt hat.“
„Er hat sich vorgestellt.“ sagte Andreas provokativ, aber sein Gesprächspartner schien die Anspielung nicht zu verstehen – oder nicht verstehen zu wollen. „Er zeigte mir das Zugunglück, das meine Frau und meine Töchter töten wird, und sagte mir, dass nur er es abwenden kann. Ich soll den Spiegel zu seinem Körper finden. Dann wird er die Katastrophe verhindern.“
„Und viele andere über die Menschheit bringen.“ flüsterte der Mann. „Hören Sie, nicht wir töten Ihre Familie, de Luca selbst tut es. David de Luca war ein Mann, der sich selbst einen Zauberer nannte, in Wirklichkeit jedoch war er ein Ungeheuer. Er experimentierte mit schwarzer Magie, quälte zuerst Tiere, dann entführte er Menschen und benutzte sie für seine dunklen Experimente. Möchten Sie wissen, was er mit ihnen getan hat? Er gab sich Mühe, sie so spät wie möglich zu töten, denn je länger sie lebten, desto stärker war die Magie, die er aus ihnen gewann. Meistens begann er damit, ihnen die Finger zu brechen. Dann stach er ihnen die Augen aus und bearbeitete den Körper mit glühenden Schürhacken. In die Brust ritzte er seine diabolischen Zeichen, die er von den Boten aus der Hölle gelernt hatte. Gelegentlich goss er ihnen heißes Wachs in die Ohren, im Allgemeinen begann er irgendwann mit der Amputation von Körperteilen, die er dann in seinem Labor lagerte, schließlich kamen die inneren Organe dran. Wenn der Punkt kam, an dem Menschen normalerweise gestorben oder wenigstens bewusstlos geworden wären, hielt er sie mit bösen Zaubern am Leben, um ihre Schmerzen noch zu vergrößern. Besonders Frauen und Kinder waren seine bevorzugten Opfer, da sie wehrlos waren. Sie können sich gar nicht vorstellen, was er mit ihnen noch alles tat, bevor sie starben. Wie viele Menschen ihm zum Opfer fielen, wissen wir nicht genau. Ich kann Ihnen nur sagen, dass wir in eine Leichenhalle kamen, als wir sein Labor 1923 stürmten. Bevor wir seiner habhaft wurden, hatten wir ihn schon Jahrzehnte lang durch unzählige Länder verfolgt. Ich wage überhaupt nicht, Schätzungen über die Zahl seiner Opfer anzustellen. Wir erwischten ihn gerade zum richtigen Augenblick, bevor er noch mehr Schaden anrichten konnte. Es war ihm gelungen, Monster aus der Hölle zu beschwören und in unsere Welt zu bringen. Sie hatten ihn Zerstörungszauber gelehrt, mit denen er seinen neuen Verbündeten den Weg in unsere Welt endgültig bahnen wollte.“
Er gab Andreas gnädigerweise die Chance, das eben Gehörte zu verdauen. Dennoch beschäftigte ihn immer noch eine Frage.
„Warum vernichteten Sie ihn nicht endgültig?“ Er dachte an das, was de Luca ihm erzählt hatte. „Sie wollten ihn quälen, nicht wahr?“
„Er sollte leiden, ähnlich wie seine Opfer gelitten hatten. Ja. Aber diesen Fehler werden wir nicht noch einmal begehen.“
„Wird er meine Familie töten?“
„Wenn Sie ihm nicht helfen, wird er es tun. Er hat Ihre Familie sozusagen als Geißel genommen.“
„Das ist alles, was ich hören wollte.“ sagte Andreas entschlossen. Er hatte seine Entscheidung getroffen, und der Mann am anderen Ende der Leitung spürte das, denn er sprach lauter und eindringlicher, drängender.
„Dansauer, geben Sie uns den Spiegel. Oder zerstören Sie ihn. Dann wird de Lucas Geist nicht mehr lebensfähig sein. Aber bringen Sie den Spiegel auf gar keinen Fall in die Nähe seines Körpers. Sonst ...“ Er sprach nicht mehr weiter und ließ den unvollendeten Satz wie eine Drohung im Raum stehen.
„Sonst was?“
„Sonst werde ich Sie töten.“
„Und Sie wollen besser sein als de Luca?“
„Der Unterschied zwischen diesem Monster und mir ist, dass ich nicht aus Spaß töte, sondern nur wenn es keine andere Chance gibt. Und jetzt gibt es eine andere Möglichkeit. Geben Sie mir den Spiegel, und ich erfülle Ihnen jeden Wunsch, der in meiner Macht liegt. Was wollen Sie?“
„Ich will meine Familie lebend wieder haben.“
„Das ist wahrscheinlich der einzige Wunsch, den ich Ihnen nicht erfüllen kann.“ antwortete er bedauernd.
„Dann haben wir nichts mehr zu bereden.“
„Warten Sie. Um Himmels Willen, legen Sie nicht ...“
Andreas schmetterte den Telefonhörer auf den Boden. Er konnte dieses unangenehme Stimme nicht mehr hören. Der Hörer zerbrach, die Elektronik verteilte sich über den Flur. Eine Batterie kullerte hinaus, drehte sich einen Moment und blieb dann bewegungslos liegen – tot.
Andreas ließ sich auf den Boden sinken, blieb schwer atmend liegen, während warme Tränen aus seinen Augen kullerten und an seinem Gesicht hinabkrochen wie kleine Käfer. Mit einem Mal stürzte seine gesamte Verzweiflung auf ihn hinab. Noch nie im Leben war er sich so hilflos vorgekommen wir in diesem Moment. „Ich interessiere mich nicht für eure Kämpfe!“ brüllte er. „Wir wollen doch nur unsere Ruhe!“ (Ich möchte sterben. Ich kann nicht mehr. Es ist einfach zu viel.) Er barg sein Gesicht in den Händen (ich heule wie ein kleines Kind), während er seinen Tränen freien Lauf gab. Er hatte einmal gelesen, dass man sich für Tränen nicht zu schämen brauchte, dass sie manchmal befreiend wirkten und einen klaren Verstand schufen, so dass man Entscheidungen treffen konnte. Er ließ sie fließen, durchnässte sein Hemd, seine Hose (Vielleicht hole ich mir eine Erkältung.). Dieser Gedanke, der so unpassend war in dieser Situation, brachte ihn auf einmal zum Lachen. (Hier sitze ich, weiß, dass meine Familie in kurzer Zeit sterben wird, und mache mir Sorgen um eine Erkältung.) Es war kein fröhliches Lachen, sondern ein Lachen der Wut und Verzweiflung und vor allem der Hilflosigkeit.
Andreas glaubte, eine Stimme zu hören. Er hob den Kopf, erkannte dann jedoch, dass die Stimme nur in seinem Kopf existierte. Es war de Luca, der leise Worte sprach wie eine Beschwörung. Andreas’ Blick fiel in den großen Spiegel, der an der gegenüberliegenden Wand hing. Die Oberfläche des Glases schien sich zu kräuseln wie Wasser, wenn man einen Stein hineinwirft. Kleine konzentrische Kreise breiteten sich aus, verschmolzen miteinander, brachen wieder auseinander, und neue Konstellationen entstanden. Langsam verfärbte sich das Glas. Es wurde dunkler, an mehreren Stellen setzten sich fremde Farben durch, die ebenfalls ineinander flossen wie Wasserfarben. Plötzlich war das gesamte Spiegelbild in Bewegung. Es veränderte sich ununterbrochen, nahm andere fremdartige Formen an, beinahe als versuche etwas, dem Bild eine bestimmte Form zu geben. Wider Willen wurde Andreas von dem Schauspiel in seinen Bann gezogen, beobachtete das Wechselspiel der Farben und Formen, vergaß für einen kurzen Moment seine Sorgen.
Das Bild nahm langsam die Form von de Lucas Gesicht an. Die scharfen Augen fixierten Andreas genau, zeigten jedoch keinerlei Regung. Es schien, als versuche de Luca seinen Geist auf einen fremden Spiegel zu transferieren – ohne großen Erfolg. De Luca starrte Andreas einen kurzen Moment an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, vielleicht, um neue Drohungen auszustoßen, als sich das Bild wieder zu verflüchtigen begann. Die Formen lösten sich wieder auf, und die Farben verblassten. Andreas beobachtete denselben Prozess wie vor wenigen Sekunden noch einmal, nur in umgekehrter Reihenfolge, als habe jemand einen Rückspulknopf betätigt. De Luca löste sich in unzählige Farben auf, die ebenfalls verschwanden, bis nur noch die vom Wind gekräuselte Wasseroberfläche zu sehen war, die sich schließlich ebenfalls glättete.
Sekunden nach Beginn des unheimlichen Schauspiels sah der Spiegel wieder wie ein gewöhnlicher Spiegel aus. Andreas sah seinen eigenen in sich zusammengesunkenen Körper an der Wand lehnen, neben sich das demolierte Telefon, sein Hemd nass von den Tränen, die Augen gerötet. Eine jämmerliche Gestalt war er geworden. Wenn Valerie ihn so sehen könnte, sie würde sich für ihn schämen und sofort denken, dass ihre Eltern mit ihrer Meinung über ihren Mann vielleicht doch Recht hätten (Nein.).
(Ich werde euch retten. Es ist noch nicht zu spät.)
Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und rappelte sich auf. Auf dem Dachboden lag ein Spiegel, den er an seinen Bestimmungsort bringen musste. Es war die einzige Chance.
Die Stufen knarrten unter seinen Füßen, als er langsam nach oben kletterte; er wurde begleitet von dem unheilvollen Donnern des Gewitters, das sich über dem Haus zusammenbraute. Im Gebäude brannten inzwischen sämtliche Lichter, um die drohenden Schatten in den dunklen Ecken zu vertreiben. Das Licht spendete Trost, es gab Andreas Hoffnung und neuen Mut. Solange die Räume hell erleuchtet waren, hatten die Monster keine Überlebenschance.
Auf dem Dachboden angekommen, lauschte er einen Moment dem unablässigen Prasseln des Regens auf dem Dach. Wenn jemand – oder etwas – in diesem Moment durchs Haus schlich (das Licht vertreibt sie), konnte Andreas ihn nicht hören, denn der Lärm des Gewitters bot einen perfekten Schutz.
Dort lag der Spiegel, genau an der Stelle, wo Andreas ihn hatte liegen lassen. Er war nicht bewegt worden, er hatte sich nicht verändert, war nicht zum Leben erwacht (wie auch?).
Andreas trug den Spiegel nach unten, langsam und vorsichtig wie eine Schachtel mit rohen Eiern. Er hatte Angst, dass er hinfallen und dadurch den Spiegel zerstören könne.
(Lass ihn fallen. Vernichte ihn.)
(Ich kann das nicht. Ich darf das nicht.)
(Du darfst ihn nicht zu seinem Ziel bringen.)
(Ich muss meine Familie retten.)
(Dadurch tötest du andere Menschen.)
(Ich muss Valerie retten.)
(Sehr viele Menschen werden sterben.)
(Das ist mir gleichgültig.)
Der unheimliche Monolog in seinem Innern war mit diesem Satz (Es ist mir gleichgültig.) beendet. Konnte er es verantworten, dass Menschen starben, Menschen, die leben wollten getötet wurden, nur weil er seine eigenen Ziele durchsetzen wollte? (Valerie und die Kinder wollen auch leben.) Die einfache Wahrheit war, dass die Fremden ihm nichts bedeuteten; sie waren nicht wichtig. (Aber für andere Menschen sind diese auch wichtig. Lass ihren Tod nicht zu, wenn du ihn verhindern kannst.)
War das sein Gewissen, das da zu ihm sprach? Hatte er überhaupt eines? Durfte er dieses Wort für sich benutzen, wenn er de Luca befreite? (Lass es nicht zu. Lass es nicht zu. Von dir hängt alles ab.)
Er ignorierte die Stimme und schlüpfte in eine Regenjacke. Irgendwie gelang es ihm, den Spiegel dennoch in der Hand zu behalten. Er wollte ihn jetzt nicht ablegen, in seiner Hand war er sicher aufgehoben. Hier konnte ihm nichts geschehen.
Eine Windböe trieb Regen gegen das Haus. Es hörte sich an wie Tausende von kleinen Vögeln, die alle gleichzeitig gegen die Hauswände stießen. Andreas fühlte sich unangenehm an sein Erlebnis im Wohnzimmer erinnert.
Er öffnete die Haustür und stolperte hinaus. Kalter Regen wehte ihm ins Gesicht, spritzte ihm in die Augen, in den Kragen. Langsam floss es seine Brust und seinen Rücken hinunter, lähmte Andreas einen kurzen Moment mitten in der Bewegung, bevor er sich an die Kälte gewöhnte. Harte Windböen versuchten, ihn von seinem Weg abzubringen, die Naturgewalten schienen sich gegen ihn verschworen zu haben.
Donner grollte über dem Haus, ein Blitz tauchte die Umgebung in ein fahles unnatürliches Licht, erhellte schwache Schemen im Garten, Sträucher, kahle Bäume, das Auto. Andreas hatte es vor der Garage geparkt, weil er am Abend zum Bahnhof fahren musste und den Wagen dann nicht mehr aus der Garage holen wollte. Nasses Laub bedeckte den schmalen Weg, der durch den Vorgarten führte. Eine heftige Windböe schüttelte die letzten armseligen Blätter von einem nahen Baum. Sie schwebten einen Moment in der Luft, drehten Pirouetten wie Geister, die sich zu manifestieren versuchten, bevor sie allmählich auf den Boden sanken, immer wieder vom Wind abgestoßen und ein Stück weit getragen. Doch schließlich siegte die Schwerkraft, riss die Blätter an sich und zog sie zur Erde, hielt sie unehrbitterlich in ihrem Griff.
Andreas kramte in seiner Hosentasche, befürchtete einen Moment, er habe die Schlüssel im Haus liegen lassen, aber endlich ertasteten seine Finger ein längliches Objekt aus kaltem Stahl, dann noch eins. Er zog den Schlüsselbund heraus. Im spärlichen Licht einer Straßenlaterne, deren Schein Andreas nur sporadisch erreichte, suchte er den richtigen Schlüssel heraus.
Plötzlich flackerte das Licht kurz, setzte einen Moment aus. In den Sekunden der Dunkelheit hoffte Andreas verzweifelt, dass es sich um keinen Stromausfall handelte, dass das Licht wieder scheinen würde. Seine Gebete wurden erhört, er wurde wieder in das schwache Licht der Laterne getaucht. Er hatte den richtigen Schlüssel gefunden, rannte nun zum Auto, nur noch wenige Meter, bis er es erreicht hatte.
Etwas beobachtete ihn, er war sich ganz sicher. Es war wie ihm Wohnzimmer, doch dieses Mal war das Gefühl noch intensiver. Starre Blicke waren auf ihn gerichtet, folgten jeder seiner Bewegungen, warteten auf den geeigneten Zeitpunkt zum Angriff. Es war (Blödsinn). Er widerstand jedoch dem Impuls, sich umzudrehen und nach einem Verfolger zu suchen.
Holz splitterte, als ein Ast von einem nahen Baum abgerissen wurde. Als würde sich ein unsichtbarer Riese an dem Baum zu schaffen machen, wurde der dicke Ast in die Höhe geschleudert, blieb einen Moment regungslos in der Luft hängen und prallte dann begleitet von einem metallenen Scheppern auf das Dach des kleinen Renault. In demselben Moment flackerte das Licht noch einmal, um dann endgültig zu verlöschen. Andreas fand sich in absoluter Dunkelheit wieder, nur die gelegentlichen Blitze spendeten ein wenig Licht. Er hastete zum Wagen, suchte mit seinen Fingern nach dem Schlüsselloch. Nur glattes Metall. Er ertastete die schwache Delle, die bereits seit Jahren das Auto zierte. Alle fünf Finger glitten über die Tür (höher, ein Stückchen höher), folgten dem stummen Befehl und bewegten sich nach oben. Da war etwas. Andreas hielt inne, untersuchte das Objekt mit seinem Zeigefinger genauer. Mit beinahe akrobatischen Geschick ließ er den Schlüssel aus seiner anderen Hand, in der er auch den Spiegel hielt, in diejenige fallen, die das Schlüsselloch gefunden hatte (Er wird daneben fallen. Er wird ins Gras fallen. Ich werde ihn in dieser Dunkelheit niemals wieder finden). Der Schüsselbund fiel in die Hand, die Finger schlossen sich um ihn, als handelte es sich um ein unbezahlbares Gut. Er glitt in die Öffnung, Andreas drehte ihn, mit einem klackenden Geräusch sprangen die ...
Doch Andreas hörte dieses Geräusch nicht, denn es wurde von dem Klirren und Bersten von Glas übertönt. Andreas wandte sich um und sah eine riesige geifernde Bestie durch das Wohnzimmerfenster springen. Auf den ersten Blick erschien das Wesen wie ein Hund. Dichtes schwarzes Fell bedeckte seinen ganzen Körper und ließ es beinahe in der Dunkelheit verschwinden, nur das Licht eines Blitzes in genau dem Moment, in dem es durch das Fenster gesprungen war, machte es sichtbar. Der lange Schädel drehte sich ruhelos auf dem Hals, die rot glühenden Augen suchten nach seinem Opfer. Lange Speichelfäden rannen aus dem Maul, das zu einer Art höhnischen Grinsens verzerrt war, das Grinsen des Siegers, und eine Reihe bösartiger weißer Zähne entblößte, die nur darauf zu warten schienen, sich in das weiche warme Fleisch ihres Opfers zu graben.
Es heftete seinen Blick auf den Mann, lähmte Andreas. Er hatte schon oft gehört, dass Angst bewegungsunfähig machen konnte, jetzt spürte er es am eigenen Leib. Aber jetzt war es nicht nur die Angst, sondern der Bann dieser bösartigen Augen, die eine beherrschende Kraft auszustrahlen schienen. Sekunden lang starrten sie sich an, dann hob der Hund den Kopf und bellte, nein, es war kein Bellen, es war ein regelrechtes Brüllen, das Andreas durch Mark und Knochen ging und ihn endlich aus seiner Erstarrung erlöste.
Er wirbelte herum, nahm die Schlüssel an sich und riss die Tür auf, während er hinter sich die schnellen Schritte der Bestie vernahm. Er sprang auf den Fahrersitz, den Spiegel noch immer fest an den Körper gepresst. Er warf den Schatz auf den Beifahrersitz, um beide Hände freizuhaben, während er gleichzeitig mit der anderen Hand nach der Tür griff (Ich schaffe es nicht). Der gewaltige Hund kam immer näher, seine Augen leuchteten gespenstisch in der Finsternis. Die Bestie setzte zum Sprung an, das Maul weit aufgerissen. (Er landet auf meinem Schoß.) Andreas beugte sich zur Seite, tastete verzweifelt nach der Tür. Seine Finger schlossen sich um den Griff, packten ihn und zogen ihn zu sich. Mit einem beruhigenden Krachen fiel die Tür ins Schloss, Sekundenbruchteile später prallte der Hund an das Fahrzeug, das unter der Erschütterung erzitterte.
Jetzt erst bemerkte Andreas den Schweiß auf seiner Stirn, der in regelrechten Sturzbächen sein Gesicht hinunter rann. Er beugte sich zum Fenster, um nach dem Tier zu sehen (Ist es ohnmächtig?). In diesem Moment erschien das wutverzerrte Gesicht des Hundes am Fenster, nur wenige Zentimeter entfernt, durch die dünne Glasscheibe von Andreas getrennt. Andreas prallte zurück, als das Maul nach ihm schnappte. Denn einen Moment befürchtete er, dass es keine Glasscheibe gäbe, dass sie aus irgendeinen Grund verschwunden sei und die Zähne freien Weg zu ihm hatten.
Aber natürlich war da Glas, und der Hund stieß unangenehm hart dagegen. Einen kurzen Moment verschwand er wieder, und Andreas wagte es noch einmal zu hoffen. Dann erbebte der Wagen so stark wie nie zuvor. Der Hund sprang gegen die Tür, immer und immer wieder. Bei jedem Aufprall erzitterte das Auto stärker, und Andreas malte sich aus, wie lange die Tür der Bestie noch standhalten würde.
Mit zitternden Händen steckte er den Schlüssel in das kleine Loch unter dem Lenkrad, trat auf die Kupplung und drehte den Schlüssel. Das Fahrzeug stotterte, Andreas warf einen gehetzten Blick auf die Treibstoffanzeige. Der Tank war halbvoll, und in diesem Moment klang der Motor gesünder. Erneut wurde das Auto erschüttert, Andreas klammerte sich ans Lenkrad, sein Fuß rutschte von der Kupplung, der Motor spuckte und setzte erneut aus. Fluchend schlug Andreas gegen das Lenkrad und drehte den Zündschlüssel erneut.
Wie ein großes schwarzes Projektil sprang das Ungeheuer auf einmal auf die Motorhaube und auf die Windschutzscheibe zu. Andreas stieß einen Schrei aus. Die Bestie schlug mit einem dumpfen Krachen gegen die Windschutzscheibe, suchte mit seinen Krallen nach Halt und rutschte nach unten. Dann sprang er ein zweites Mal, ein langer Riss durchzog die Scheibe plötzlich. Als der Hund zum dritten Sprung ansetzte, rammte Andreas den Rückwärtsgang hinein und trat mit voller Kraft aufs Gaspedal. Der Motor röhrte auf, und das Fahrzeug raste nach hinten. Der Hund landete auf der Motorhaube, schien sich einen Moment festkrallen zu können. Auf der Straße stampfte Andreas auf die Bremse und riss das Lenkrad nach rechts. Der Hund warf ihm einen dummen Blick zu, dann war er von der Motorhaube verschwunden.
Andreas sah nicht in den Rückspiegel, um das Schicksal der Bestie herauszufinden. Er wollte sie nicht mehr sehen, das geifernde, triefende Maul und die roten bösen Augen. Er drehte den Kopf zum Beifahrersitz und betrachtete kurz den Spiegel, der dort lag. Gerade hatte Andreas für de Luca sein Leben riskiert, und der Fremde zeigte sich nicht einmal. Andreas hätte den Spiegel auch ohne weiteres beim Anblick des Hundes in Stücke hauen können. Dann hätte ihn die Bestie wahrscheinlich in Ruhe gelassen. Aber er hätte seine Familie niemals geopfert – und de Luca wusste das.
Er steuerte den Wagen auf die Hauptstraße, in den zäh fließenden Verkehr des frühen Abends. Während er sich langsam auf der Straße vortastete, beobachtete er die Fußgänger, die in grell leuchtende Regencapes gehüllt durch den Regen rannten, um im nächsten Geschäft Zuflucht zu suchen. Bunte Neonreklameschilder zogen an Andreas vorbei, „Noch 100 Meter bis zum nächsten Mcdonald’s“ oder „Ihr Einkaufsparadies“. Schaufenster präsentierten die neuesten Moden der Markendesigner, links erschien ein großes Gebäude, das auf einem Schild mit weißer Schrift auf grünem Hintergrund als Kaufhof identifiziert wurde. In regelmäßigen Abständen spuckten die gewaltigen Schiebetüren einen Schwall Menschen heraus, die sofort ihre Regenschirme öffneten oder ihre Kapuzen aufzogen soweit noch nicht im Trockenen geschehen.
Andreas schaltete die Scheibenwischer eine Stufe höher, als die Schleusentore des Himmels sich erneut öffneten. Die Scheibenwischer kratzten über die Frontscheibe, öffneten für einen Sekundenbruchteil das Sichtfeld, bis der Regen die Fensterscheibe wieder zurückerobert hatte und erneut auf die beiden schwarzen Arme wartete, die das Wasser zur Seite schieben würden.
Vor sich sah Andreas plötzlich ein gelbes Licht auf rot umspringen. Er trat auf die Bremse, rutschte noch wenige Meter und blieb direkt an der weißen Haltelinie stehen. Er schaltete in den Leerlauf und wartete nervös. Und da kamen die Bilder. Er sah vereinzelte Bäume, dann einen Wald, einen Bach, der in einen kleinen See mündete. Wie bei seiner Vision im Spiegel schien er über der Landschaft zu schweben und alles aus der Vogelperspektive zu sehen. Er sah die Landstraße neben dem Wald, erkannte einen Rastplatz und einen schmalen Pfad, der in das finstere Meer aus Bäumen führte. Schließlich erreichte er eine Lichtung, der einzige Ort, der wirklich scharf und deutlich zu erkennen war. (Das ist es.) Andreas wusste es plötzlich mit Sicherheit. Dorthin musste er den Spiegel bringen. Und er wusste auch genau, um welchen Wald es sich handelte. Er war nicht weit entfernt, weniger als eine Stunde Fahrt.
Wildes Gehupe schreckte ihn aus seinen Gedanken, ließ die Vision verschwimmen und schließlich verschwinden. Eine Gestalt klopfte an die Fensterscheibe, ein wutverzerrtes Gesicht brüllte ihn an, und Arme gestikulierten in die Richtung der Ampel. Sie war inzwischen grün. Andreas lächelte den Mann dankbar an, was ihm einen weiteren erbosten Wortschwall einbrachte. Er trat aufs Gaspedal und raste über die Kreuzung, als die Ampel gerade wieder von gelb auf rot umsprang. Im Rückspiegel sah er den Fahrer des nächsten Wagens voller Wut aufs Lenkrad schlagen und Andreas einen Blick hinterherwerfen, der das pure Verderben zu bedeuten schien.
Andreas gestattete sich ein kurzes Grinsen auf seiner Suche nach dem schnellsten Weg aus der Stadt. Irgendwie vermittelte ihm diese Fahrt durch die Stadt einen kurzen Eindruck von Normalität, der jedoch sofort verschwand. Nichts war normal. Während er weiter seinen Weg fuhr, beobachtete er die Menschen, die in der Stadt ihrer Wege gingen und beneidete sie um ihr Leben, in dem sie wahrscheinlich nicht von Fremden in Spiegeln, schwebenden Augen und bösartigen Bestien heimgesucht wurden.
Er betätigte den linken Blinker und bog ins Industriegebiet ab. Hier herrschte weniger Verkehr, und er würde wesentlich zügiger vorankommen. Die Strecke an sich war zwar ein wenig länger, dennoch bedeutete sie bei dem Verkehr in der Innenstadt eine hohe Zeitersparnis. Andreas’ Blicke huschten zu der Digitaluhr, zu den roten Zahlen, die dämonisch in der Dunkelheit leuchteten und die Zeit bis zum Ende anzeigten. Er hatte nur noch knapp eine Stunde. Viel Verzögerung durfte er sich nicht mehr erlauben.
Das letzte Mal war er diese Strecke gefahren, als er und Valerie bei Freunden zu einer Party eingeladen waren. Sie waren spät dran und hatten auch an diesem Abend die Entscheidung getroffen, den unangenehmeren aber kürzeren Weg zu nehmen. Sie hatten diskutiert, wer abends nach Hause fuhr und wer sich einige Gläschen Wein erlauben durfte. Am Ende hatte Valerie nachgegeben, denn schließlich war sie dran gewesen, vollkommen nüchtern zu bleiben. Bei der nächsten Feier (nächsten Samstag) würde Andreas dann wieder fahren müssen.
Er nahm den Gestank der dicken Qualmschwaden kaum wahr, die aus den hohen Schornsteinen der nahegelegenen Fabriken austraten, so sehr schwelgte er in den angenehmen Erinnerungen. Sie hatten sich an diesem Abend über die Fabriken beschwert und gewitzelt, dass sie schrecklich stinken würden, wenn sie bei ihren Freunden ankämen. Wie heute hatte es damals in Strömen geregnet, und Valerie hatte sich in ihre Weste gewickelt, weil die Heizung den Wagen einfach nicht aufwärmen wollte. Heute spürte Andreas die Kälte nicht, denn sie wurde von der inneren Kälte verdrängt, die in ihm herrschte. Niemand war ihnen entgegen gekommen, sie waren ganz alleine auf der Straße gewesen, nur sie beide. Einen Moment hatte sie überlegt, ob sie nicht irgendwo anhalten und auf die Party verzichten sollten, doch die Kälte und der Gestank hatten ihr übriges getan, dass die Entscheidung zu Gunsten ihrer Freunde gefallen war.
Hinter sich sah Andreas zwei helle Punkte, die rasch größer wurden. Anscheinend hatte sich noch jemand in diese menschenleere Gegend verirrt. Vielleicht ein Fabrikarbeiter, der zur Nachtschicht fuhr, möglicherweise ein glückliches Paar, das ebenfalls unterwegs zu einer Party war, in fröhlicher Stimmung, nicht ahnend wie schnell so ein schönes Leben enden kann, glücklich in dieser Unwissenheit, in der Andreas auch vor kurzem noch gelebt hatte. Er war nicht wütend auf diese Menschen, die er nicht kannte und die mehr Glück hatten als er. Irgendwann bekam jeder die Schattenseiten des Lebens zu spüren.
Das andere Auto wurde rasch größer und deutlicher erkennbar. Andreas sah auf seinen Tacho und stellte fest, dass er selbst schon mit über fünfzig Stundenkilometern fuhr. Gab es für einige Menschen denn keine Geschwindigkeitsbegrenzungen? (Wie kann ich jetzt an so etwas denken?) Andreas lenkte ein wenig nach links, damit der andere Wagen überholen konnte. Sollte er ruhig vorbeiziehen, Andreas wollte jetzt sowieso lieber alleine fahren. Der andere Wagen blinkte nicht, sondern zog einfach auf die Nebenspur, fuhr auf eine Höhe mit Andreas’ Auto und passte seine Geschwindigkeit an. Verwundert sah er nach links und blickte in die Mündung einer Waffe. Mit aller Kraft stampfte er aufs Bremspedal und klammerte sich am Lenkrad fest. Die Schüsse durchschlugen die Fensterscheibe knapp vor seinem Kopf. Andreas riss das Lenkrad nach rechts, wendete mit quietschenden Reifen und raste in die entgegengesetzte Richtung. Im Rückspiegel beobachtete er das Wendemanöver der Killer, die sofort mit der Verfolgung begannen.
Andreas bog nach rechts ab, weiter ins Industriegebiet. Er hoffte, dass er sich irgendwo inmitten der verwinkelten Fabrikgelände verstecken könne. Dieser Angriff kostete ihn einfach zu viel Zeit. Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich eine Waffe, zum ersten Mal war er bereit, andere Menschen zu verletzen. Er schenkte dem Spiegel einen kurzen Seitenblick, der zu besagen schien: „Das hast du mir alles eingebrockt.“ Die Nadel des Tachos kletterte stetig höher. Sie war inzwischen bei siebzig Stundenkilometern angekommen und kroch weiter.
Erneut wurde die Stille der Nacht durch Schüsse durchbrochen. Die Heckscheibe platzte, und ein Regen von Glasscherben ergoss sich über den Rücksitz. Frostige Luft drang ins Auto ein, verstärkte die Kälte, die schon wegen der defekten Heizung geherrscht hatte, noch weiter. Andreas betete, dass der Regen nicht wieder einsetzen würde.
Aus der Finsternis erschien eine Wand. Andreas trat auf die Bremse und riss das Lenkrad zur Seite. Das Auto stieß mit der Seite gegen das Gebäude, schrammte mehrere Sekunden funkenstiebend daran vorbei, bevor sich das Fahrzeug wieder von der Mauer löste. Inzwischen hatten die Killer aufgenommen, und richteten wieder ihre Waffe auf das vor ihnen fliehende Auto. Andreas beschleunigte erneut. Er raste nun in selbstmörderischem Tempo dahin, ständig nach links und rechte lenkend, beide Straßenseiten benutzend. (Immer in Bewegung bleiben.) Er wollte kein leicht zu treffendes Ziel darstellen. Sollte er plötzlich einem langsamer fahrenden oder gar stehenden Wagen begegnen oder auf eine Kreuzung mit Querverkehr geraten, waren die schießwütigen Dreckskerle seine geringste Sorge.
Etwas prallte von hinten gegen den Wagen und versetzte Andreas einen Stoß. Der Audi. Direkt hinter ihm, klebte beinahe an seiner Stoßstange. Der Audi fiel einige Meter zurück, machte dann einen Satz und stieß gegen den Renault, wahrscheinlich, um in ins Schleudern zu bringen, vielleicht auch, um ihn wissen zu lassen, dass sie noch hinter ihm waren.
Sein Scheinwerferlicht fiel auf ein dreieckiges Schild, das eine Lokomotive zeigte. Auf einmal blinkte in der Dunkelheit ein rotes Licht auf. Wenn er anhielt, würden die Killer aus ihrem Wagen springen, den Renault umstellen und mehr Pistolen auf ihn richten als ein Stachelschwein Stacheln hatte. Andreas trat das Gaspedal durch, und der Wagen sprang nach vorne. Er glaubte, den heranbrausenden Zug hören zu können, ein gewaltiges stählernes Monstrum, das alles vernichtete, was sich auf seinem Weg befand. Andreas beschleunigte weiter. Er hatte keine Ahnung, woher er plötzlich diesen Mut nahm, andererseits hatte er die Wahl, entweder von einem Zug zerquetscht oder von einer Horde schießwütiger Krimineller erschossen zu werden. Und bei der ersten Variante waren seine Chancen geringfügig höher.
Wieder zischten Kugeln an ihm vorbei, begleitet von den kleinen Explosionsgeräuschen der Schüsse. Jetzt hörte er den Zug ganz sicher. Andreas beschleunigte weiter, der Bahnübergang rückte langsam, quälend langsam näher, während der Zug sich rasend schnell näherte. Und der Audi machte keinerlei Anstalten zu bremsen. Neben ihm das Blinklicht, das Andreaskreuz, dann der Zug. Er spürte ein Ruckeln, als er über die Schienen raste, das Auto schien sich protestierend aufzubäumen, der Zug würde ihn jeden Moment erfassen, er erblickte kurz das entsetzte Gesicht des Lokführers, dann war er auf der anderen Seite. Andreas widerstand dem Drang, auf die Bremse zu treten, sondern raste weiter durch die Nacht, die Blicke auf den Rückspiegel gerichtet, bis er um die nächste Kurve gebogen war und die Bahnstrecke aus den Augen verlor.
Die nächsten Minuten kurvte er orientierungslos durch das Industriegebiet, bog so oft ab wie möglich, fuhr mehrere Umwege, nahm Schleichwege, die er in den letzten Jahren entdeckt hatte. Die eisige Kälte des Herbstabends hatte sich inzwischen im Wagen festgesetzt. Seine Hände waren nur noch unbewegliche Klumpen, die sich verzweifelt ans Lenkrad klammerten. Er spürte sie schon fast gar nicht mehr. Eine andere Sorge begann sich in Andreas auszubreiten. Würde es diese Nacht frieren? Die Straßen waren nass, er war schon mehrmals ins Rutschen gekommen bei seiner halsbrecherischen Geschwindigkeit. Wenn er mit diesem Tempo auf eine vereiste Fläche geriet, wäre es um ihn geschehen.
Verzweifelt versuchte er, diese Gedanken zu vertreiben, doch sie reihten sich in die lange Liste seiner Sorgen ein.
Inzwischen hatte der Regen wieder eingesetzt. Er fielt schräg durch die zerschossene Heckscheibe und durchnässte den Rücksitz.
Noch neunzehn Minuten verkündeten ihm die leuchtenden Zahlen der Uhr.
Einer plötzlichen Eingebung folgend blickte Andreas nach oben. Vor der hellen Scheibe des Mondes bewegte sich ein Schatten. Zuerst glaubte Andreas, es handle sich um eine Fledermaus, dann erkannte er, dass das Wesen viel zu groß war für eine Fledermaus in diesen Breiten. Es musste sich in großer Höhe befinden und sah trotzdem gigantisch aus. Ein langer wurmähnlicher Körper mit breiten lederartigen Flügeln, die es nur selten bewegte, kreiste dort oben durch die Lüfte, beobachtete das einsame Auto auf der Landstraße.
„Was sind das für Kreaturen, verdammt?“ flüsterte Andreas. Natürlich hatte er keine Antwort erwartet, doch eine Stimme in seinem Kopf begann zu sprechen.
„Es sind Monster aus der Hölle.“ De Luca lachte leise. „Sie halten sich für ehrbare Menschen, deren größtes Ziel im Leben es ist, die Diener meines Herren zu vernichten. Aber sie benutzen sie ebenfalls für ihre Zwecke. Sie rufen sie aus der Unterwelt zu sich, versklaven sie und hetzen sie auf ihre Feinde. Sie sind nicht besser als ich, wahrscheinlich noch schlimmer. Ich unterdrücke die Wesen nicht, ich bezahle sie für ihre Dienste.“
„Womit bezahlen Sie sie, de Luca?“
„Mit Blut, mit Fleisch, mit den Seelen der Menschen, die sie zum Leben brauchen.“
„Ist es die Wahrheit? Töten Sie Menschen? Dienen Sie dem Teufel?“ fragte Andreas, überrascht durch die plötzliche Offenheit de Lucas.
Wieder ein Lachen wie man über ein kleines Kind lacht, das einfach die Erklärungen der Älteren nicht versteht. „Teufel, Satan, Luzifer, das sind alles nur Namen. Sie werden niemals verstehen, was mein Herr und seine Wesen sind.“ Die Stimme verstummte, und Andreas war dankbar dafür. Er sah wieder nach oben zu dem Untier, das dort seine Kreise flog. Eine Kreatur aus der Hölle. Er dachte an den Hund oder was auch immer es gewesen war. Half er der richtigen Seite? Gab es überhaupt eine richtige Partei, wenn beide sich derselben unheiligen Mittel bedienten?
(Ich helfe meiner Familie! Das ist die einzige Seite, die zählt.)
Erneut begann es zu regnen. Die Tropfen prasselten auf die Erde wie Tränen – oder wie Blut – eines höheren Wesen, das dort oben residierte. Das Monster war nicht mehr zu sehen in dem dichten Schleier aus Regen, aber Andreas wusste, dass es noch irgendwo dort oben war. Seine Augen waren noch immer auf das kleine Auto gerichtet, dessen Fahrer damit rechnete, dass es jeden Augenblick kreischend hinunterstürzte wie ein Adler, der eine Maus gesichtet hatte, das Fahrzeug mit seinen gewaltigen Klauen packte und es mit sich in die Lüfte nahm auf eine Reise, deren Ende Andreas nicht mehr erleben würde.
Andreas trat das Gaspedal durch. Das Auto schlitterte einen Moment, doch der Fahrer packte das Lenkrad fester und versuchte verzweifelt, den Wagen weiter unter seine Kontrolle zu behalten. Wenn er jetzt einen Unfall baute, würde er seine Familie nicht mehr retten können, aber er wollte auch dem Untier nicht in die Klauen fallen, denn das wäre das totale Ende.
Nach wenigen Minuten erkannte er eine Abzweigung, die weiter in den Wald hineinführte. Er bog um die Kurve ohne viel langsamer zu werden, riss das Steuer mit aller Kraft rum, um die Kontrolle nicht vollends zu verlieren.
Eine riesige Wasserfontäne spritzte ans Seitenfenster, als er durch eine tiefe Pfütze fuhr. In seinem Kopf erschienen wieder Bilder. Er wusste genau, wohin er zu fahren hatte. Allmählich verebbte der Regen, es fielen nur noch wenige Tropfen und die Sicht wurde klarer. Andreas’ Blicke wanderten nach oben, auf der Suche nach dem geflügelten Wesen.
„Es wird uns nicht angreifen.“ sagte De Lucas leise Stimme. „Es ist nur ein Späher, der uns im Auge behalten und verfolgen soll.“
„Wie können Sie sich da so sicher sein?“
„Ich weiß es.“ erklärte die Stimme in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Andreas schwieg, aber seine Blicke schweiften wieder gen Himmel, wo er tatsächlich etwas zu sehen glaubte. Es flog nun tiefer, denn das Wetter schien auch die Sicht dieses Ungeheuers zu beeinträchtigen.
Allmählich begann der Regen wieder abzuflauen. Statt dessen zog Nebel auf, der sich erst in einigen losen Fetzen näherte, später jedoch zu einer Wand wurde, die aus dicker Watte zu bestehen schien und die die Scheinwerfer kaum durchdringen konnten.
Andreas drosselte die Geschwindigkeit, damit er den kleinen Kiesweg nicht übersah, der in den Wald hineinführte. Auf einmal tat sich am Himmel ein heller Riss auf, der sich nach unten zur Erde fortsetzte und krachend in einem Baum mündete. Andreas trat die Bremse und beobachtete wie der Baum auf die Straße stürzte vom Blitz gefällt. Voller Verzweiflung blickte er auf die Uhr. Die Digitalanzeige spuckte ihm boshaft 15:49:34 entgegen. Wie sollte er es jetzt noch rechtzeitig schaffen?
Der Motor erstarb, als der Fahrer den Zündschlüssel drehte und die Handbremse zog. Er verbarg den Spiegel unter seine Jacke und stieg aus. Kalter Wind kam ihm entgegen, die letzten Regentropfen sprangen ihm regelrecht ins Gesicht. Er fröstelte, schlug die Tür hinter sich zu und setzte sich, nachdem er den Wagen abgesperrt hatte, in Bewegung. Der Baum war wirklich ungewöhnlich groß. Andreas betrachtete ihn einen Moment ehrfürchtig und fragte sich wie ein Blitz einen solche Baum fällen konnte. Er beschloss, dass er es lieber nicht wissen wollte, denn garantiert hatte der Feind seine Hände im Spiel (Ich werde langsam paranoid.). Glaubte er wirklich, dass sie Blitze steuern können? Dann dachte er an alles, was er gesehen und erlebt hatte. (Ja. Sie können es bestimmt.)Er hob ein Bein über das Hindernis, bis er festen Boden ertastete. Dann zog er das andere Bein nach, das ihm jedoch nicht gehorchen wollte. Schließlich zerriss ein Stück seiner Hose und ein heftiger Schmerz durchzuckte seinen Körper. Eine dicke Flüssigkeit rann sein Bein herab. Andreas dachte nicht weiter darüber nach. Er ignorierte den Schmerz so gut wie möglich und begann zu laufen. Bei jedem Schritt durchbohrte eine glühende Nadel sein Fleisch, malträtierte seine Nerven.
Der Spiegel unter seiner Jacke wurde wärmer.
Als Andreas den Kiesweg entdeckte, sah er aus der entgegengesetzten Richtung zwei sich schnell nähernde Scheinwerfer. Er bezweifelte nicht einen Moment, dass in dem Fahrzeug seine Verfolger saßen, die jedem Moment wieder ihre Waffen ziehen und das Feuer eröffnen würden. Er verließ den Weg und schlug sich in die Büsche, rannte durch das Unterholz und schlug mit einer Hand die Äste aus dem Weg, die sich mit einem Mal alle gegen ihn verschworen zu haben schienen. Mehrmals konnte er nur knapp Ästen ausweichen, die ihm genau auf der richtigen Höhe im Weg hingen, um sich in sein Auge zu bohren. Neben ihm auf dem Weg wurde der Motorenlärm lauter, Kies knirschte unter den Reifen des Fahrzeugs.
Der Nebel umwirbelte ihn, bedeckte zuerst seine Schuhe, dann seine Schienbeine und hüllte ihn schließlich in einen Mantel aus einem unheimlichen Licht.
Ein schrilles irrsinniges Gelächter ertönte, hob und senkte sich in hysterischen Zyklen, laut, durchdringend und markerschütternd. Andreas war, als wären seine Gelenke zu Eis erstarrt. Er konnte sich nicht bewegen, sondern nur diesem Lachen lauschen, das anschwoll und wieder in trockenes Kichern zerfiel. Es erreichte die Höhe eines Kreischens, wurde dann zu einem gutturalen Glucksen und verstummte endgültig. Andreas begann am ganzen Leib zu zittern, die Gelenke erwachten aus ihrer Erstarrung.
Stimmen erklangen um ihn herum. Zuerst leise dann lauter. Wie Wellen kamen sie heran, ein leises Flüstern, das beinahe vom Wind hätte stammen können, aber Andres wusste es besser. Dann zogen sie sich wieder zurück, nur um kurze Zeit später noch einmal lauter zu werden. Er dachte an das Lachen. Stammte es aus derselben Kehle wie die Stimmen?
Der Nebel begann Konturen anzunehmen. Gestalten schälten sich aus dem weißen Hintergrund, schwache Schemen, die ihn beobachteten und Klagelaute ausstießen. Andreas beschleunigte seine Schritte, während seine Blicke über die Gestalten glitten. Sie nahmen keine feste Form an, sondern taten einige Schritte, bevor sie zerfaserten und sich an einer anderen Stelle erneut zusammensetzten.
Plötzlich verlor der Nebel seine Leuchtkraft, und Andreas sah ein kadaverartiges ausgemergeltes Gesicht vor sich in der Luft hängen. Zwei Augen starrten ihn trauernd und vorwurfsvoll aus eingefallen Höhlen an. Der Mund öffnete sich, das Gesicht begann zu sprechen, doch keine Worte drangen an Andreas’ Ohren. Neben ihm wurde eine Hand aus dem Gebüsch gestreckt, ein zweiter Arm folgte. Wie in Trance beobachtete er die Arme, die ihm entgegenragten, als flehten sie ihn um Hilfe an, als sollte er sie packen und an sich ziehen, um die Menschen zu trösten, denen sie gehörten.
Ein Knacken drang durch die Dunkelheit und riss Andreas aus seiner Versteinerung. Jemand folgte ihm, und er dachte an das Auto. Er marschierte weiter, versuchte, die Gestalten zu ignorieren, die sich im Wald materialisierten und sich ihm näherten. Die Schritte wurden schneller, seine Verfolger hatten begonnen zu laufen. Keuchend bahnte Andreas sich seinen Weg durch das Holz, schlug immer mehr Äste bei Seite. Er spürte etwas langes, das sich um seinen Knöchel schlängelte und kräftig zog. Andreas strauchelte, konnte sich jedoch im letzte Moment abstützen und entzog sein Bein mit einem starken Ruck dem Zugriff des fremden Wesens.
Vor ihm tat sich eine Lichtung auf, die Lichtung aus seiner Vision. Andreas ging schneller, spürte noch mehrmals den schlangenartigen Fangarm, der versuchte, sich noch einmal um sein Bein zu wickeln, aber Andreas war vorbereitet und reagierte zu schnell. Der Spiegel begann zu pulsieren. Wie der Schlag eines Herzens pochte der Spiegel unter seiner Jacke, schien mit einer Art unheiligem Leben durchflossen zu werden.
Die Gestalten rückten näher. Sie erkannten, dass sie ihr Ziel verfehlten. Sie hatten es nicht geschafft, Andreas Angst einzujagen, er war nicht geflohen. (Ich werde zu Ende bringen, was ich begonnen habe.) Sie kamen näher, die Hände nun nicht mehr flehend, sondern bedrohlich ausgestreckt, den Mund öffnend und schließend wie Fische, die nach Luft schnappten. Ihre Form war nun fester, zerfloss nicht mehr, und Andreas erkannte die schrecklichen Verletzungen auf ihren toten geisterhaften Körper und das unsägliche Leid in ihren Blicken. Der Spiegel pochte immer kräftiger.
Plötzlich ekelte sich Andreas vor ihm, vor diesem pulsierendem Ding unter seiner Jacke, das ihm wie ein zweites Herz vorkam, das er außerhalb seines Körpers trug. Er spürte etwas über seine Hand huschen, die den Spiegel gepackt hielt. Wie eine Spinne bewegte es sich über seine Finger bevor es verschwand. Die Berührung war nur kurz gewesen, aber sie hatte genügt, um ihm einen Schauer des Ekels über den Rücken zu jagen.
Die Mitte der Lichtung leuchtete aus eigener Kraft, ein helles pulsierendes Licht, das dem Licht des Nebels zu konkurrieren schien und ihn an den Spiegel erinnerte. Dort lag der verwesende Leichnam, den er wieder zum Leben erwecken sollte. Um seine Familie zu retten. Der leuchtende Bereich war knapp zwei Meter lang und hatte die ungefähre Form eines Menschen, der einen Arm weit ausgestreckt hatte. Andreas versuchte zu schlucken, als er sich dem Grab näherte, dem gleich ein lebendiger Mensch entsteigen würde, doch die Trockenheit in seinem Mund konnte er nicht vertreiben. Langsam näherte er sich dem Licht, (tu es nicht!) nahm den Spiegel unter seiner Jacke hervor (ich tue es) und streckte ihn dem Licht entgegen (tu es nicht). Das Pulsieren des Spiegels und des Lichts wurde stärker, als die beiden sich näher kamen. (Ich werde sie retten.)
Er hörte mehrere Menschen hinter sich aus dem Wald stürzen. (Sie kommen zu spät) Andreas lächelte. Wahrscheinlich waren sie bewaffnet, doch sie würden in diesem Nebel noch nicht zielen können. Sie würden näher rankommen müssen. (Und dann ist es zu spät.) Das Pulsieren schien nun auch den Boden zu erfassen, der sich schwach unter Andreas’ Füßen wellte. Er schien sich aufzubäumen unter einer Kraft, die gegen ihn drückte, versuchte ihn zu öffnen. Die Klagelaute, das Gestöhne aus dem Nebel wurde lauter und elender je stärker das die Erde pulsierte. Die Zeit schien stillzustehen, als er den Spiegel in die Säule aus gleißendem Licht hielt und eine wohlige Wärme ihn zu durchdringen schien ...
... und er sah Menschen, die sich vor Qualen auf dem Boden wanden, schreiend, die Arme gen Himmel gestreckt und um Erlösung flehend. Und er sah einen Mann, der nicht weit entfernt stand und die Menschen beobachtete, sich an ihrem Leid ergötzte, umgeben von grotesken Gestalten, die es nicht auf dieser Welt geben durfte. Er stand bis zu den Knöcheln im Blut seiner Opfer, während die Monster sich an der roten Flüssigkeit labten und Kraft gewannen, in einer Umgebung, die nur aus Ruinen zu bestehen schien, in denen sich weitere Ungeheuer herumtrieben, die nun die Welt überschwemmt hatten und denen sich niemand mehr entgegenstellen konnte ...
Andreas brüllte lauthals auf als er sie sah ...
... die Leichen einer Frau und zweier jungen Mädchen, zusammengekrümmte Häufchen, aus deren Gesichtern das pure Entsetzen und unerträgliches Leid sprach. Ein geflügeltes Ungeheuer hatte seinen Kopf in den Bauch der Frau gesteckt und saugte schmatzend die Innereien auf. Es hob den Kopf und ein bluttriefender Schnabel hob sich in die Höhe und setzte zu einem keckerndem Lachen an ...
... Andreas schleuderte den Spiegel mit voller Kraft auf den Boden. Das Glas zersplitterte, und der Boden bebte. Andreas fiel nach hinten, prallte schmerzhaft gegen etwas hartes. Eine Erscheinung hob sich aus dem Spiegel, stieg in die Luft, dann zerfaserte der Wind sie, zerriss und zerbröckelte sie wie altes Papier. Ein schriller Schrei entfuhr der Erscheinung, das gequälte Gesicht aus dem Spiegel warf ihm noch einen ungläubigen Blick zu, dann verschwand es, während sich in sein Gekreische ein weiterer Schrei mischte, der nur in Andreas’ Kopf existierte, der Schrei von Hunderten von Menschen, bevor er plötzlich verstummte, der einzige Schrei, der ihn interessierte.
Er spürte eine tröstende Hand auf seiner Schulter, ließ sich zurücksinken auf den kalten Boden und schloss die Augen.
Er wollte sie nie wieder öffnen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.12.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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