Carrie Winter

Mein letzter Auftritt

„Okay! Alle bereit? Es geht los! Jean! Dein Einsatz!“
Als ich meinen Namen hörte zuckte ich erschrocken zusammen und brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, wo ich überhaupt war. Ich stand hinter der Bühne, auf der ich gleich auftreten sollte, als Beginn meiner großen Europatournee. Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich ganz vergessen hatte, dass ich Sängerin war.
„Jean! Was ist los? Geh endlich!“ schrie der Leiter mich wieder an.
Ich warf ihm einen genervten Blick zu, sagte aber nichts. Langsam schritt ich die Stufen hinauf und sah mich im nächsten Moment von einem Haufen Leuten umringt, die mir alle zu jubelten. Das wäre wohl der Moment gewesen, an dem ich lächeln und winken hätte sollen.
Aber ich tat es nicht. Stattdessen starrte ich in den schwarzen Nachthimmel über mir hinauf, breitete die Arme aus und drehte mich so schnell im Kreis, dass mein langes Kleid um meine Beine wehte. Erst als die Band zu spielen anfing ( vermutlich auf Zeichen des Leiters hin ) hörte ich endlich auf und stellte mich vor das Mikrofon. Verträumt hörte ich der Musik zu.
Irgendwann fing ich dann auch mal an zu singen. Aber es war keine bewusste Entscheidung oder irgendein bestimmter Grund, der mich dazu veranlasst hatte. Es war einfach nur ein Gefühl, ein Wunsch. In diesem Moment wollte ich singen und ich sang.
So verging einige Zeit, in der ich ein Lied nach dem anderen sang, hin und wieder das Outfit wechselte und mit dem Publikum redete. Schließlich waren wir am Ende des Konzertes angelangt, ich war noch mal kurz hinter die Bühne gegangen, um mich für das letzte Lied umzuziehen. Es sollte ein Neues sein, das ich erst vor einigen Tagen geschrieben hatte.
Nachdenklich betrachtete ich mich im Spiegel. Meine Haut war leichenblass, unter meinen Augen waren schwarze Striche und meine Lippen waren blutrot. Perfekt.
Barfuss ging ich wieder zurück auf die Bühne. Ein letztes Mal sah ich mich um, sah in die Gesichter der Leute, die mich angeblich mochten, sah zu meiner Band, die meine Songs nie ganz verstand und sah in den Himmel, an dem kein einziger Stern war.
Hinter mir fing das Klavier an zu spielen und ich nahm das Mikrofon und setzte mich auf den Boden, den Rock des Kleides um mich ausgebreitet wie ein Kreis. Ich holte tief Luft, dachte an Jon und fing an, zu singen. Um diesen Song richtig rüberbringen zu können brauchte man eine schmerzverzerrte, leise, verzweifelte und wütende Stimme. All diese notwendigen Gefühle kamen in mir hoch, wenn ich mir Jon vorstellte. Mich an das erinnerte, was er getan hatte und was mich dazu gebracht hatte, dieses Lied zu schreiben.
Wie bei einem schwierigen Gedicht kämpfte ich mich von Strophe zu Strophe, bis ein Gitarrensolo kam. Achtlos legte ich das Mikro weg und holte ein Messer unter meinem Kleid hervor. Es war ziemlich groß und ziemlich scharf. Mit einem leichten Lächeln ließ ich es über meinen Unterarm gleiten, spürte dankbar die Kälte auf der Haut und drückte fester zu.
Langsam und unaufhaltsam bohrte sich der Stahl in mein Handgelenk und ließ das Blut hervor treten. Fasziniert beobachtete ich, wie rote Tropfen auf den weißen Stoff fielen und ihn rot färbten. Davon besessen, alles zu verfärben, schnitt ich mir auch noch in den anderen Arm.
Am Ende hatte das alles aber eigentlich gar nichts mehr von schneiden. Ich rammte mir das Messer einfach überall in den Arm, wo ich noch Haut sehen konnte, bis ich es irgendwann fallen ließ und umkippte. Über mir konnte ich den dunklen Nachthimmel sehen, an mir konnte ich das nasse Blut spüren. Es war das letzte Konzert, das ich gab.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.01.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Eine Expedition in dass Auf- und Ab des Lebens, der Sehnsucht und kleine leise Träume, Gefühle aus einer Welt die tief das innere selbst bewohnen, beschreibt der Autor in einer Auswahl von Gedichten die von Hoffnung genährt die Tinte auf das Papier zwischen den Jahren 2002 und 2003 fließen ließen. "Unentdecktes Niemandsland ist immer eine Herausforderung die Gänsehaut zaubert. Auf den Blickwinkel kommt es an, den man sich dabei selbst zurechtrückt..."

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