Kerstin Meinecke

Fenster zu einer anderen Welt

„Was? Du hast schon wieder keine Lust weg zu gehen?“ fragte Ray aufgebracht. Lynn schaute sie nur traurig an und erwiderte kleinlaut: „Nein.... ich bin zu deprimiert...“ Ihr gegenüber verdrehte die Augen und keifte: „Du bist IMMER deprimiert!“ Lynn kauerte an die Wand gelehnt auf dem Boden. Als sie in Rays Augen sah, zuckte sie zusammen, wandte schnell die Augen ab und hauchte mit zittriger Stimme: „Das stimmt nicht...“
„Und ob das stimmt! Reiß dich doch mal zusammen verdammt noch mal“, fiel ihr Ray wutentbrannt ins Wort. Sie stapfte schnaubend durch den kahlen Raum und blickte Lynn immer wieder mit flammenden Augen an. Die kauernde Frau schaute sie flehend an und bat mit bebender Stimme: „Schrei doch nicht so.“ Ray beruhigte sich etwas und sprach dann mit sanfterer Stimme: „Lynn... es kann doch so nicht weiter gehen. Tag für Tag ziehst du dich mehr zurück. Versteckst dich und wirst immer trauriger. Das kann doch nicht alles im Leben sein. Was ist nur los mit dir?“ „Ich weiß es nicht... Es ist alles so ausweglos... Nichts scheint mehr einen Sinn zu haben... Nichts eine Bedeutung... Weder ich noch andere. Warum sollte ich weg gehen, wenn doch eh alles sinnlos ist? Wenn sich morgen wieder ein neuer Abgrund auftut... Auch wenn ich gehe und heute die Sonne scheint, wer garantiert mir, dass morgen nicht wieder schwarze Wolken die warmen Strahlen verdecken und alles in Dunkelheit tauchen?“ antwortete Lynn nach einiger Zeit. Ray schaute sie kopfschüttelnd an. Sie kniete sich zu ihr, nahm die Hände ihrer Freundin in die ihren. Lange schaute sie Lynn an und ihr Blick war eine Mischung aus Verzweiflung, Sorge, Wut und Mitleid. „Was willst du? Was soll ich tun? Natürlich kann dir niemand eine Garantie geben aber genau das ist doch, was das Leben ausmacht! Nichts ist vorhersehbar. Das Leben steckt voller Überraschungen und es gibt soviel zu entdecken. Das alles möchte ich mit dir erleben, Lynn. Verstehst du das nicht? Du nimmst nicht nur dir selbst sondern auch mir die Freude am Leben mit deinem Verhalten.“ Es verstrich eine lange Zeit der Stille. Blicke trafen sich. Nicht auszusprechende Worte umhüllten die beiden Frauen wie undurchdringlicher Nebel. „Ich weiß nicht was ich noch sagen soll...“, stellte Ray resignierend fest und schaute vorbei and der traurigen
Inneneinrichtung, die nur aus einem Bett mit Metallgestell, einem alten vermotteten weinroten runden Teppich, einem knarrenden Schaukelstuhl, einem kaputten Sessel und einem schmalen aber vollgestopften Bücherregal bestand, auf zu den beiden Fenstern weit oben. Die einzigen Lichtquellen in dem großen kahlen Raum. nur aus einem Bett mit Metallgestell, einem alten vermotteten weinroten runden Teppich, einem knarrenden Schaukelstuhl, einem kaputten Sessel und einem schmalen aber vollgestopften Bücherregal. Lynns Augen waren glasig. Sie schien Dinge zu sehen, die jenseits ihrer gemeinsamen Welt waren. Ein bitterer Zug umspielte Rays Lippen. Die Flammen in ihren Augen loderten heftiger als sonst. Sie umschloss die Hände ihrer Freundin fester, lehnte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Lynn erwachte aus ihrem tranceähnlichen Zustand und flüsterte: „Ray...“ Ihr Gegenüber schloss die Augen und sagte: „Lynn fühlst du das auch?“ Die Angesprochene überlegte kurz und schüttelte den Kopf. „Ja genau.... Nichts... Leere“, bestätigte Ray, öffnete ihre Lider und setzte fort: „Schau oben die Fenster. Sie verdunkeln allmählich. Wenn sie sich schließen, wird es nichts anderes mehr als Leere geben. Wir werden verschwinden Lynn, möchtest du das?“ Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf, eine Träne floss ihre blassen Wangen hinunter als sie die Worte sprach: „Ewige Dunkelheit.“ Ray nickte kurz und sprach weiter: „Wenn wir uns weiter dazu hinreißen lassen gegeneinander zuleben und nicht miteinander im Einklang, werden sie sich schließen. Lynn... bitte komm mit mir. Heute als kleiner Anfang. Nur ein Spaziergang. Damit die Fenster nicht weiter erblinden.“ Sie streckte die Hand aus, die von der kauernden Frau auch ergriffen wurde. Lynn stand mit Rays Hilfe auf, zwang sich ein kleines Lächeln auf und sprach. „Ein kleiner Spaziergang ist sicher nicht ganz sinnlos...“ Ray strahlte und dabei formten sich ihre Augen zu kleinen Schlitzen. Die beiden Frauen gingen langsam in Richtung Tür. Als sich diese öffnete, zögerte Lynn und schaute hinauf zu den beiden Fenstern. Ihr Blick schien hinaufzufliegen. Er näherte sich immer weiter den beiden Lichtquellen. Langsam erkannte sie, leichte Umrisse, die mit der Zeit immer klarer wurden.
Sie erkannte einen leuchtenden Kasten und Hände die über ein Rechteck glitten. Ihr Blick konzentrierte sich wieder auf den leuchtenden Kasten. Vor ihr bildeten sich Worte. Ihre Vision endete als sie den Sinn verstand. Sie zupfte Ray am Ärmel und sagte: „Ray das sind keine Fenster das sind Augen!“ Ihre Freundin grinste diebisch und entgegnete: „Ach auch schon gemerkt? Und nun komm, es wird Zeit den Augen ihre Klarheit wiederzugeben!“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.01.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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