Germaine Adelt

Einmal nur

   Am Flughafen ging nichts mehr. Die Anzeigetafeln korrigierten in regelmäßigen Abständen die Abflugzeiten nach hinten. Irgendeine ungünstige Wetterlage hielt alle Flüge auf und eine Besserung war nicht in Sicht. Ich gehörte zu den Unglücklichen, die den Sicherheitsbereich schon passiert hatten und nun seit einer Ewigkeit wie eingesperrt in der Abflughalle auf die Dinge warteten, die da kommen sollten.

   Unweit von mir saß ein Mann um die fünfzig. Vermutlich ein Geschäftsmann. Zu gern wäre ich einfach zu ihm hinüber gegangen, um mich mit ihm zu unterhalten. Meinetwegen über Schiller oder Tschaikowski. Über alles, bloß nicht über den Inhalt der Boulevardzeitungen, wie die Leute am Nebentisch, oder über irgendwelche Karriereziele. Ich hatte den Mann wohl einmal zu oft oder zu lange angesehen. Denn plötzlich stand er auf und kam auf mich zu. Die Damentoilette im Blick, um eventuell flüchten zu können, hoffte ich auf eine simple Frage. Eine plumpe Anmache hätte mir die Stimmung endgültig vermiest.

   Aber er sah regelrecht durch mich durch und raunte mir mit aufgelegt ernster Miene zu: „Die vom SEK, meine Jungs, befreien gerade die Fluglotsen aus dem Tower. Das ist natürlich geheim und es besteht kein Grund zur Sorge. Ich könnte aber Ihre Unterstützung brauchen, falls es hier zu einer Panik kommen sollte.“

    Es gelang mir nicht, ein Lächeln zu unterdrücken. „Geht es auch eine Nummer kleiner? Dann bin ich dabei!“

   Ich glaubte selbst nicht, was ich da sagte. Aber angesichts dieser Tristesse, die noch Stunden anhalten würde, war ich zu allem bereit.

   Seine Augen leuchteten und er hob kurz seinen Aktenkoffer hoch: „Diese Einsatzberichte müssen in Sicherheit gebracht werden, es geht um internationale Interessen.“

   „Und wie lautet die Mission?“

   Er zögerte: „Nun ja, Lage sondieren, Rückzugswege sichern.“

   „Verstehe“, flüsterte ich. „Und das Codewort?“

   Verdutzt sah er mich an. Dann stand er auf und entfernte sich ein paar Schritte. Ich glaubte schon, der Spaß wäre vorbei, bevor er richtig begonnen hatte. Aber er wandte sich wieder zu mir und tat, als hätte er mich nie gesehen. „Von einem gewissen Punkt an gibt es keine Rückkehr mehr. Dieser Punkt ist zu erreichen.“

   Kafka also. Ich hatte etwas wie „Der Regenschirm bellt im Mondenschein“ erwartet. Aber bitte, warum nicht mit Stil? Mir fiel auf die Schnelle kein entsprechendes Zitat ein und ich sah ihn hilflos an. Doch sein Blick ging an mir vorbei, da er vorsichtig die Umgebung sondierte.       

   Endlich hatte ich es: „Das Gute ist in gewissem Sinne trostlos.“

   Er nickte nur und erhob sich schweigend. Ich folgte ihm. Natürlich unauffällig.

   Plötzlich drückte er mich, wenn auch eher behutsam, gegen eine der vielen Säulen in der Halle und kam immer dichter an mich heran. Ich war wütend und enttäuscht zugleich. Es war also nichts weiter als eine Anmache. Doch er berührte mich kaum und flüsterte: „Siehst du den da hinter mir? Den Mann mit der Hornbrille? Der beobachtet uns!“

   „Tatsächlich?“, tat ich überrascht und biss mir auf die Lippen um nicht zu kichern.

   „Kannst du ihn sehen?“, fragte er.

   Vorsichtig spähte ich über seine Schulter. „Ja.“

   Der junge Mann saß da und starrte verträumt vor sich hin, zufällig in unsere Richtung, und geriet so nichts ahnend ins Visier geheimster Geheimdienstoperationen.

   „Was macht er?“

   „Er beobachtet uns noch immer“, raunte ich und versuchte dabei meine Lippen nicht zu bewegen, was mir jedoch nur mäßig gelang.

   „Wir müssen ihn abschütteln!“

   „Okay, ich lenke ihn ab“, sagte ich und ordnete entschlossen mein Haar.

   „Nein“, erklärte er heroisch, „die Gefahr ist zu groß. Ich gebe dir Deckung. Bring die Papiere in Sicherheit, dort die Treppe runter. Ich folge dir dann unauffällig.“

   Abwechselnd sicherten wir den Koffer mit dem brisanten Inhalt. Immer auf der Hut vor Beobachtern schlichen wir Treppen herunter und Gänge entlang. Ein wahres Labyrinth galt es zu überwinden, bis wir in der Ankunftshalle ankamen. Die war fast leer, da ja keine Flugzeuge landeten. Dennoch liefen die Förderbänder unaufhörlich weiter und so bekam die große Halle eine sehr unheimliche Atmosphäre. Das Flughafenpersonal an der Ausgangstür beäugte uns misstrauisch. Wir gaben sicherlich auch ein seltsames Paar ab. Er der klassische Anzugträger, ich in Jeans und Turnschuhen.

   „Die werden uns noch mitnehmen“, sagte ich leise.

   „Sollen sie!“, murrte er. „Einmal, nur einmal will ich in meinem Leben etwas Abgefahrenes tun. Sonst hat doch alles keinen Wert mehr.“

   Ich verstand zu gut, was er meinte. Aber das Spiel war vorbei. Unsere Mission war beendet. Das Terrain war sondiert, die Fluchtwege gesichert. Es tat mir fast leid für ihn.

   Eine Putzfrau betrat die Halle und wischte teilnahmslos den Boden. Ich konnte einfach nicht widerstehen und rief ihr zu: „Katorüi tschas?“

   Zu meiner Überraschung verstand sie mein Schulrussisch und erwiderte: „Nje snaju.“

   Das war mein Stichwort. Hastig ergriff ich seine Hand und zerrte an ihm: „Komm schnell, wir müssen hier weg!“

   Verunsichert fragte er: „War das russisch?“

   „Na klar, was denkst du denn?“

   Wir rannten an der verdutzten Putzfrau vorbei und brachten uns lachend hinter einem Treppengeländer in Sicherheit. Das Spiel war wieder da.

   „Du bist also Natasha? Die legendäre Agentin vom ...?“

   Eilig legte ich meine Finger auf seine Lippen. „Sprich es nicht aus, man könnte uns hören.“

   „Natürlich“, flüsterte er. Dann hielt er inne: „Was hast du ihr gesagt?“

   „Ich habe sie nach der Uhrzeit gefragt, sie wusste sie nicht.“

   „Verstehe“, murmelte er besorgt. „Das Codewort für Gefahr ...“

   Unauffällig holte er einen Gegenstand aus seiner Tasche und schob ihn mir zu. „Hier“, sagte er bedeutungsvoll. „Wenn mir etwas passiert, weißt du, was du zu tun hast.“ Es war ein Zigarettenetui mit dem entsprechenden Inhalt. Natürlich nur für Außenstehende. Über den Mikrofilm verlor er kein Wort. Wozu auch?

   Es war nicht einfach, die neuen Verfolger abzuschütteln. Immer in Deckung, immer in der Angst, am Ende doch noch entlarvt zu werden. Der Weg zurück erwies sich als schwierig und vor allem als gefährlich. Wir konnten niemandem trauen.

   „Kann ich bitte Ihre Papiere sehen!“

   Das Leben hatte uns wieder. Vor uns stand ein echter Beamter in Uniform und sah uns böse an. Beschämt senkten wir fast gleichzeitig die Köpfe und unterdrückten mühsam ein Lachen.

   Er hatte als erster die Fassung wieder, zog den Beamten ein wenig zur Seite und redete beschwichtigend auf ihn ein. Während der Mann in Uniform sich alles anhörte, ließ er mich nicht aus den Augen. Irgendwann aber nickte er großzügig und sagte mit strenger Stimme: „Ich erwarte, dass Sie beide sich zivilisierter benehmen.“

   Doch dazu kam es nicht mehr. Die Flüge wurden aufgerufen und plötzlich herrschte in der Abflughalle ein unruhiges Treiben. Als ich ihm schweigend meine Hand zum Abschied reichte, wurde sein Blick traurig. Es war vorbei. Wortlos ging er zu seinem Ausgang. Dann kehrte er noch einmal zurück, hauchte mir einen Kuss auf die Wange und flüsterte: „Ich danke dir.“

 

   Sein goldenes Zigarettenetui halte ich noch immer zur Abholung bereit. Natürlich an einem geheimen Ort. Seinen Namen habe ich nie erfahren, so wie auch er meinen nicht kennt. Aber in diesem Job kann man sich eben keine Gefühle leisten ...

Diese Geschichte wurde in der Zeitschrift „Kurzgeschichten“ veröffentlicht (Lindow-Verlag) und alles begann hier bei e-Stories. Also Leute, nur Mut. Denn wer hier nicht wagt, der nicht gewinnt.

Germaine Adelt, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.01.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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