Gerda Schmidt

2.2 Herr K. und das Tissue-Komplott

Nachdem er das Büro in Windeseile verlassen hatte, fiel ihm vor dem Eingang des Gebäudes ein, daß er vor lauter Überlegungen vergessen hatte, nochmals die Toilette, wie gewöhnlich um 15:10, aufzusuchen. Mit dieser Routine, die ihn genau 4 Minuten und 12 Sekunden kostete, fügte er seinem Arbeitgeber den geringst möglichen Schaden zu. Anderenfalls ließ die Konzentration für die restliche Arbeitszeit so dermaßen nach, daß nicht die für gewöhnlich drei weiteren Tabellen, sondern nur noch zwei erstellt werden konnten. Doch heute Nachmittag galt die Ausnahme, die die Regel bestätigte.

Auf dem Nachhauseweg spürte er nach 18 Minuten warten im alltäglichen Berufsverkehrstau, daß er doch besser den üblichen Toilettengang vollzogen hätte. Deshalb nutzte er die nächstmögliche Einfahrt, die ihn zu einem großen Supermarkt führte. In der Regel besuchte er nur den von ihm 5 Minuten entfernten Supermarkt, in dem er stets wußte, wo sich die von ihm gekauften Produkte befanden. So fand er das Leinsamenbrot mit Kümmelstückchen gleich rechts neben dem Eingang in zweiter Reihe. Den probiotischen Joghurt mit rechtsdrehender Milchsäure befand sich in der ersten Kühltruhe direkt neben den Frischeiern. Eier aß er aber grundsätzlich nur an Sonn-oder Feiertagen, weil sie bei ihm starke Blähungen erzeugten und er wollte seine Umwelt nicht mit diesem unangenehmen Geruch belästigen. Zwei Regale weiter lagen cholesterinarme Butter und Scheiblettenkäse fein säuberlich gestapelt nebeneinander. Er mochte den Scheiblettenkäse zwar nicht besonders gerne, aber durch die einheitliche Größe konnte er den Verbrauch besser berechnen. Nur das Müsli wurde stets in anderen Reihen und anderen Gruppen zugeordnet aufbewahrt. So hatte alles seit Jahren seine Ordnung und er mußte keine bösen Überraschungen erleben. Eventuelle Engpässe konnte er durch persönliche Lagerung und deren Verwaltung gezielt überbrücken. Logistik stand bei ihm an erster Stelle.

Nachdem er die ersten Reihen des Verkaufsraum durchschritten hatte, immer auf der Suche nach einem Hinweisschild auf eine Toilette, sah er ganz zufällig eine Konserve, die unter ein Regal gerollt war und deren Inhalt sich langsam auf dem Boden verteilte. Der Farbe nach handelte es sich um eine Dose Pflaumenmus, die sich um eine metallne Stütze ergoß. Angewidert lief er weiter.

Auf der anderen Seite konnte er das Schild gleich erkennen. Er mußte nur nach rechts abdrehen und neben der Fleischtheke den Gang entlang laufen. Die dritte Tür wurde ausgewiesen mit einem großen Schriftzug: Kunden –WC .

Langsam öffnete er die Tür, um zu sehen, wieviele Kabinen sich im Raum befanden. Er haßte es, öffentliche Toiletten zu benutzen und dies war nicht viel anderes als eine dem Publikum zugängige Bedürfnisanstalt. Zwei der drei aus grauem Pressholz bestehenden Kammern waren bereits besetzt. Nur die mittlere Kabine stand mit weit geöffneter Tür leer und einladend da. Als er schnell auf den kleinen Raum zueilte, sah er mit entsetzten, daß die Klobrille zerbrochen neben der Toilettenschüssel stand. Beim genaueren Betrachten konnte er sogar einen schmutzigen Rand erkennen. Normalerweise wäre er fluchtartig davongeeilt und hätte diesen Laden nie wieder betreten, doch sein Blick streifte zufällig die auf dem Spülkasten befindliche Toilettenrolle. Es handelte sich um eine Rolle der Marke Tissue mit genau demselben Muster, wie die Rollen, die er zu Hause zu benutzen pflegte. Diese Chance konnte er sich nicht entgehen lassen. Er wollte draußen warten, bis eine andere Toilette frei werden würde.

Vor der Kundentoilette befand sich eine Anschlagstafel, von der er die Tür genau beobachten konnte. Doch welchen Andrang gab es auf dieses stille Örtchen. Zuerst kammen zwei Freundinnen Arm in Arm, um sich vor dem Spiegel frisch zu machen. Dann betrat eine Mutter mit ihrem Kind den Raum, um die Windeln des Säuglings zu wechseln. Darauf verließen zwei Herren die Toilette, die zuvor die beiden äußeren Kabinen in Beschlag genommen hatten. Neu gesellte sich ein ungepflegter Halbwüchsiger dazu, der sicher auch einen dieser unflätigen Sprüche an die Wand schrieb. Nach zwei weiteren Wechseln eines älteren Herren und einer jungen Dame betrat Herr K. nun endlich den Bestimmungsort. Die linke, äußere Toilette war zum Glück frei. Doch kaum hatte er sie betreten und sicher verriegelt, musste er bestürzt feststellen, daß sich nur noch eine leere Toilettenrolle neben der Toilette befand.

Leicht verunsichert kniete er sich auf den Boden und schaute unter der Wand durch, ob er an den Schuhen erkennen konnte, ob sich eine Frau oder ein Mann neben ihm befand. Ein paar braune Damenhalbschuhe drehten sich gerade um und erwischten noch dazu seinen kleinen Finger. Ein Schmerz durchzuckte ihn und heulend Schrie er auf. Er stand blitzartig auf und von nebenan hörte man eine Frau wütend schreien.

„Sie Schwein! Was fällt ihnen ein, eine anständige Dame zu belästigen!“ Zornig wurde die Tür aufgerissen, dass sie an die Wand schlug und die Nachbarin verschwand aus dem Raum, ohne sich jedoch vorher die Hände gewaschen zu haben. Herr K. wußte nicht, worüber er mehr empört sein sollte. Schnell wechselte er die Kabine und schloß die Tür zweimal ab.

Endlich war er seinem Ziel näher gerückt. Am Toilettenrollenhalter befand sich eine noch verschweisste Rolle Toilettenpapier und auf der Ablage konnte er 4 weitere Rollen zählen. Das müßte genügen. Schnell entfernte er die Banderollen und fing an die Blätter zu zählen. Bei der ersten Rolle riß ihm mitten drin das Papier und der Rest fiel ungezählt auf den Boden. Mit welchen Ende hatte er begonnen? Doch diese Frage zu klären ließ ihn zu viel Zeit verlieren. Deshalb nahm der die zweite Rolle zur Hand. Als die Tür zum Vorraum mit dem Waschbecken aufgestossen wurde, erschrak er so dermaßen, dass er die Rolle fallen ließ und sie sich schnell entrollend aus der Kabine entfernte. Draußen vernahm man ein leises Kichern und die Rolle wurde mit einem Kick wieder zurück befördert und landete in der Nachbartoilette. Nachdem sie sich zweimal um das Trennelement gewickelt hatte, blieb sie etwas deformiert und schmutzig vor Herrn K. Füßen liegen. Jetzt wurde Herr K. etwas nervös, weil er immer noch keine einzige Rolle vollständig ausgezählt hatte und die Zeit drängte.

Er entschied sich dazu seine Nerven und zittrigen Hände durch ein autogenes Kurztraining zu beruhigen. Dafür setzte er sich auf den geschlossenen Toilettendeckel, ließ die Arme baumeln und schloß die Augen. Nur 2 Minuten brauchte diese Übung, dann war er wieder frisch gestärkt. Als er sich zur Seite drehte, spürte er den Blick, der durch ein kleines Loch an der rechten Seitenwand fiel. Im gleichen Augenblick polterte draußen die Tür und zwei Herren, gefolgt von der Dame, die ihn am Finger verletzt hatte, versuchten gewaltsam die Toilettentür zu öffnen. Das Schloß gab beim dritten Schlag mit dem Hammer nach. Nun sahen sich die Filialmitarbeiter, gefolgt von vielen Schaulustigen Herrn K. gegenüber, der immer noch auf der Toilette saß, umringt von entrolltem Toilettenpapier und einer noch neuen Rolle in der Hand.

„Wir müssen die Polizei hinzu ziehen“, sagte der Filialleiter und schritt zum Telefon.

Herr K. konnte gerade noch sehen, wie sich ein junger Mann mit einer Spiegelreflexkamera aus der Nachbartoilette entfernte und sich umblickte, ob ihn auch niemand gesehen hatte.


http://www.eulenschreibkleckse.de/

Herr K. unsd das Tissue-Komplott 2. Trieb Herr K. und das Tissue-Komplott von Rumpelsstilzchen im Geschichtenbaum des kurzgeschichten-planet.de

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Gerda Schmidt, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.01.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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