Manfred Gries

Der Cottbusser Postkutscher

“Wir schließen um 14:00 Uhr.“ Die junge Dame lächelte den einzigen Gast im “Cottbusser Postkutscher“ freundlich an. Der schaute auf die Uhr: 13:30 Uhr. Draußen lachte die Sonne auf Pflastersteine - Trostpflastersteine, dieses Wort schlich sich in seinen Kopf. “Ihre Frau muss jetzt aber bald kommen, wenn Sie noch gemeinsam speisen wollen.“ Er stimmte der Kellnerin mit einem Blick in deren blaue Augen zu. “Sie ist nicht meine Frau - sie ist eine gute Bekannte“, erwiderte er geduldig. “Und sie wird rechtzeitig da sein.“ Damit wandte er sich wieder seinen Gedanken zu, in denen er gerade Papierflieger bastelte. “Segler“ nannte seine Bekannte diese Konstruktionen, “Segler aus Papier“. Und er ließ einen solchen König der Lüfte über die Pflastersteine vor dem Gasthaus segeln. Zwanzig Jahre zurück hatte er schon einmal Flieger gebastelt und dabei in braune Augen geschaut. Esther war ihr Name und ihre Geduld sein Zuhause. Freundschaft ohne Forderungen - so war sie in seiner Erinnerung geblieben.

Ein Schatten fiel auf seinen Tisch, der ihn in die Gegenwart holte. Seine gute Bekannte hatte das Gasthaus betreten, ohne dass er sie wahrgenommen hatte. Freunde besitzen die seltene Gabe am Leben des anderen teilzunehmen als seien sie ein Teil davon. 13:45 Uhr. Zu spät für die Zubereitung eines Menüs. Die beiden schauten die Kellnerin an, die Kellnerin die beiden und ihr Lächeln traf sich für einen Augenblick. Zeit genug für eine kurze Reise in die Erinnerung. Drei Jahre zuvor betrat er mit einer anderen Bekannten den Hof eines Gasthauses bei Schaffhausen. Es war Frühstückszeit und die beiden waren hungrig. “Sie sind leider zu spät. Das Frühstück ist schon beendet“, begrüßte die Kellnerin den Gast und die andere Bekannte. “Vielleicht sind ja noch dein paar Semmeln übrig und ein Ei und ein Kaffee sind schnell gemacht“, erwiderte der Gast. Gleichzeitig verspürte er ein Unwohlsein, das von seiner anderen Bekannten ausging. “Lass uns gehen“, flüsterte sie ihm zu. Aber dafür war es schon zu spät. Die Kellnerin überbrückte die kleine Peinlichkeit mit ihrem Lächeln. “Das lässt sich einrichten“, antwortete sie.

“Vielleicht setzen sie sich einfach in unseren Biergarten und essen dort. Dann kann ich schließen und das Geschirr später abräumen.“ Es war die Kellnerin aus dem Cottbusser Postkutscher, deren Worte ihn in die Gegenwart holten. Er horchte kurz in seine Umgebung, ob dort Unwohlsein zu finden sei. Aber seine gute Bekannte saß geduldig lächelnd da und studierte bereits die Speisekarte. Der Biergarten begrüßte die Gäste mit herrlichem Sonnenschein und die Kellnerin servierte um 14:16 Uhr das Essen. In Schaffhausen war es bereits 11:30 Uhr, als die andere Kellnerin frische Semmeln, ein Ei und Kaffee auf den Tisch stellte. Seltsam, wie unterschiedlich Ereignisse empfunden werden, die doch eigentlich gar nicht so unterschiedlich sind, dachte er. Sicherlich waren die Menschen verschieden, daran musste es wohl liegen.

Die Rückfahrt nach Leuthen, einem kleinen Dorf bei Cottbus, führte über eine alte Straße mit Pflastersteinen - übrig geblieben aus der Zeit des Walter Ulbricht und Erich Honecker. Musik spielte in den beiden Fahrzeugen, die nacheinander zwischen den Bäumen die kleinen Sonnenstrahlen zerteilten. “Fahr nicht so dicht auf, du verunsicherst deinen Vordermann“ - seine Gedanken segelten im Takt der Musik wieder in die Vergangenheit. Ein Abend in Niederbayern erschien vor seinen Augen. Auf dem Weg zu einem Abendessen drückte seine Beifahrerin wieder jenes Unwohlsein aus, dass er schon von Schaffhausen her kannte. Es bezog sich nicht wirklich auf den Abstand zum Vordermann, sondern war lange vor der Bemerkung zu spüren. Die Gegenwart winkte ihm zu und die Vergangenheit verschränkte ihre Arme vor der Brust. “Wenn ich mir was wünschen kann von dir, dann ist das wohl ein Segler aus Papier.“ Die Musik holte ihn diesmal zurück. Und er winkte in den Rückspiegel seines Vordermannes, als die beiden Fahrzeuge Leuthen erreichten.

Seltsam, wie Vergangenheit und Gegenwart in jenen Augenblicken einander nahe rücken, in denen immer wieder ähnliche Ereignisse immer wieder anders empfunden werden. Tags darauf schlenderten die gute Bekannte und der Gast durch den Tierpark in Branitz. Das Schloss des Fürsten Pückler war ihr Ziel. Und wie es nach einer langen Wanderung so üblich ist, wird am Ziel gegessen. Straußenfilet - der Gast liebäugelte mit diesem Punkt der Speisekarte. “Das wird dir sicherlich nicht schmecken“, drang eine Stimme an sein Ohr. Er schaute die gute Bekannte an. Aber diese hatte kein Wort gesagt. Also stammte das Unwohlsein wohl wieder aus der Vergangenheit. Er tauchte hinein und lächelte auf österreichisch. Diesmal dauerte der Augenblick nicht lang. Tatsächlich schmeckte das Straußenfilet wirklich nicht gut. Hatte er doch dieses Tier zwei Stunden zuvor noch im Tierpark gesehen. Seine gute Bekannte grinste. In Schaffhausen räumte die Kellnerin den Tisch ab, in Niederbayern ergriff der Vordermann die Flucht und auf österreichisch verabschiedete sich der Gast von den Erinnerungen, die immer wieder ähnliche Ereignisse in immer neuem Licht erscheinen lassen. Nur seine Sensibilität wird bleiben. Wie schon Oma Wilhelmine sagte: Eines Tages werden deine Geschichten ein Herz erobern. Und solange es kein Staußenherz ist, wird das Unwohlsein sich nicht einmischen in die Gegenwart.

Der Gast kehrte zurück in seine Heimat, eine weitere Erinnerung mit sich nehmend. Und eines Tages werden sich alle Erinnerungen in einem Augenblick ereignen. Dann wird er Gast am Tisch des Lebens sein, willkommen und begrüßt auf die Art, die ihn Mensch sein lässt. Einen Hauch davon hat schon gespürt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.02.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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