Christopher O.

Das Duell

Seit zwei Monaten lebte ich bereits in diesem kleinen Dorf in den Hochmooren, als der Mord geschah, und die rätselhaften Ereignisse, die meine Gedanken noch heute beschäftigen, ihren Anfang nahmen.
An diesem Ort fühlte ich mich wohl. Endlich war ich der Großstadt entkommen mit all ihrem Dreck und Lärm, den Fabrikschloten und den verschmutzten Gewässern, in denen alles floss, nur kein Wasser mehr, den Verbrechen, den heruntergekommenen Vororten, in denen die Ärmsten der Armen ihr Leben fristeten und vor sich hin vegetierten, der Anonymität der Wohnblocks, den dunklen Gassen, in denen abends die Prostituierten ihre Körper zum Kauf anboten und in denen nicht selten morgens die übel zugerichteten Leichen jener armen Frauen entdeckt wurden. Vor den Stadtgrenzen die Gefängnisse, in denen der ganze menschliche Unrat abgeladen wurde, auf die Hinrichtung oder Verlegung in ein anderes Gefängnis wartend. Einige wurden entlassen, nur um wieder über die Menschheit herzufallen mit ihren Messern und Pistolen und natürlich einem sadistischen Trieb nach Folter und Mord.
Diesem ganzen Schmutz, auch hervorgerufen durch die Automobile, die unsere Straßen zu bevölkern begannen und mit ihren Abgasen unsere Luft noch mehr verunreinigten, wollte ich entfliehen durch meinen Umzug aufs Land.
Das Dorf, in dem ich mich versteckte, entsprach genau meinen Vorstellungen. Es lag weit entfernt von jeder größeren Siedlung; die so verheißungsvolle und zerstörerische moderne Technik hatte hier noch nicht Einzug gehalten, die Luft roch noch nach Natur, nicht nach Abgasen und Fabrikqualm, das Blau des Himmels konnte man noch erkennen, Nachbarn waren noch wirklich Nachbarn, es gab noch echtes Vertrauen, wahre Freunde, man musste keine Angst haben, dass vermeintliche Freunde einem plötzlich in den Rücken fielen, nur um des eigenen Vorteils wegen.
Hier ließ es sich leben.
Ich mietete mich vorerst bei einem Bauern ein, der Hilfe bei der Bewirtschaftung seines Hofes benötigte. Noch lebte sein Sohn bei ihm, doch dieser spielte bereits mit dem Gedanken, dem Dorf den Rücken zu kehren, angelockt durch den Reiz des Abenteuers und des Lasters, also der Großstädte, die junge Menschen magisch anzogen wie eine Lampe die Fliegen. Und viele dieser jungen Leute verbrannten dort.
Ich griff dem alten Mann unter die Arme, bestellte die Felder, half beim Torfstechen, führte Kühe auf die Weide. Zum ersten Mal seit Jahren spürte ich abends meine Muskeln wieder, ich fühlte, dass ich körperlich gearbeitet hatte und empfand ein Hochgefühl wie seit Jahren nicht mehr.
Abends saß ich auf den Hof an einem kleinen Tisch auf und widmete mich meiner Arbeit. Vor einiger Zeit war es mir gelungen, einen Band mit Erzählungen zu veröffentlichen, und diesen Erfolg wollte ich gerne weiterführen. Dies war ebenfalls ein Grund für meine Flucht hierher, denn hier hatte ich Ruhe und Frieden und konnte mich ganz meiner Berufung widmen.
In diesem wilden Land, fernab von allem, was wir so leichthin Zivilisation nannten, gab es noch Abenteuer, über die ich schreiben konnte. Ich wollte den Menschen eine Welt näher bringen, die für sie unbekannt ist, aber eine Welt, die eindeutig besser ist als diejenige, in der sie jetzt dahinvegetieren. Dieses Land war ungezähmt, romantisch, überall konnten Gefahren lauern. Die Abenteuer harrten nicht in der Stadt auf mutige junge Männer, sondern hier in der Wildnis.
Schnell freundete ich mich mit den Bewohnern an, kehrte in ihrer Stammkneipe ein, besuchte ihre Familien, unterstützte sie bei ihrer Arbeit. Nach wenigen Tagen war ich bei diesen einfachen aber herzlichen Menschen schon beliebter als in meinem früheren Zuhause nach Jahren. Für mich war dieser Ort das Paradies, nach dem ich mein ganzes Leben gesucht hatte. Schon nach kurzer Zeit hoffte ich, dass sich niemals etwas ändern würde. Sechs Monate nach meiner Ankunft geschah der Mord.

Die Leiche lag auf dem Rücken, die Arme weit ausgestreckt, der Mund geöffnet, als wolle sie noch im Tod um Hilfe rufen. Eine gewaltige Blutlache hatte sich unter dem Körper ausgebreutet und den Teppich rot gefärbt. Die Augen des Toten starrten leer und glasig zur Decke. Der gesamte Raum war erfüllt vom Geruch des Blutes, der schwer in der Luft hing und uns das Atmen schwer machte.
Mir zwang sich der unangenehme Gedanke auf, dass ich den Tod in dieses Dorf gebracht hatte, denn es hatte hier noch nie einen Mord gegeben.
Ich wandte mich ab, als zwei Männer den Toten auf eine Trage hoben und nach draußen trugen. Nachdem sie das Gebäude verlassen hatten, trat eine beängstigende Stille ein, die nur von dem Ticken der großen Wanduhr gestört wurde. Ich sah mich unruhig in dem geräumigen Wohnzimmer des wohlhabendsten Mannes dieser Gegend um.
Edle Holzmöbel säumten die Wände, ein wertvoller Teppich, auf dem nun der große rote Fleck prangte, zierte den Boden, ein kleiner Kronleuchter drehte sich stumm im Luftzug, der durch die offene Tür eindrang. In einem Bücherregal standen mehrere Reihen äußerst interessanter Bände, die ich mir angesehen hatte, als ich den Mann besucht hatte, der soeben nach draußen geschafft worden war. Wir hatten lange über Bücher gesprochen und die größten Dichter und Autoren der Weltgeschichte diskutiert.
Ich konnte nicht glauben, dass man ihn vor so kurzer Zeit getötet hatte.
Der Tote hieß William McCoy, fünfundvierzig Jahre alt, reichster Mann des Ortes. Seit fünfzehn Jahren lebte er bereits hier, und in dieser Zeit hatte er viel für das Dorf und seine Bewohner getan. Er hatte Geld herbeigeschafft, indem er Erzeugnisse dieser Gegend verkaufte – vor allem der Torf war sehr erfolgreich. Er ließ Häuser renovieren, befestigte die Straßen, kaufte den Bauern und Torfstechern bessere und modernere Geräte. Und er sorgte dafür, dass der kleine Ort seine Unabhängigkeit vom Rest des Landes behielt. Unter seiner Anleitung wurde so viel produziert, dass sich die Menschen selbst versorgen und sogar noch durch Verkauf relativ hohen Gewinn erzielen konnten. Jedermann liebte und verehrte ihn, und er war in jedem Haus ein willkommener Gast.
Mich hatte er direkt nach meiner Ankunft persönlich begrüßt und sich nach meinem Wohlbefinden erkundigt. McCoy war ein kräftiger, charismatischer Mann gewesen mit einem breiten Lächeln und einer tiefen aber sympathischen Bassstimme. Er hatte mich für den nächsten Abend zu sich nach Hause eingeladen, und dort hatte ich seine Frau Jennifer kennen gelernt. Jennifer saß nun in der Küche und wurde von einem Polizisten befragt.
Ich hörte Schritte hinter mir. Donovan, der Polizeichef, hatte den Raum betreten und kam zu mir. Er legte seine gewaltige Pranke auf meine Schulter. Gemeinsam schwiegen wir eine Minute, bevor er das Gespräch eröffnete.
„Er war es, der Mistkerl.“ Seine Stimme war vor Wut und Verzweiflung verzerrt. Aus seinem Blick loderte mir purer Hass entgegen. Ich war froh, dass ich nicht das Opfer dieses Abscheus war. „Wir haben ihn eingesperrt.“
„Was wird jetzt mit ihm geschehen?“
„Er wird hängen.“ antwortete Donovan mit einem befriedigten Lächeln. „Und er wird in der Hölle schmoren.“
Der Täter war schnell gefasst. Menschen auf der Straße hatten im Haus der McCoys einen Schuss krachen gehört und daraufhin die Polizei alarmiert. Die Polizisten, hier ganz normale Einwohner, die nur bei Bedarf die polizeilichen Pflichten übernahmen, öffneten mit Gewalt die Tür und stürmten ins Gebäude. Dort fanden sie den Toten und dessen Mörder. Der Täter war noch immer perplex von dem, was er getan hatte, konnte seine Tat nicht fassen. Er wurde sofort verhaftet und weggebracht. Unter dem harten Griff der Polizisten hatte er sich vor Schmerzen gewunden, doch die Männer hatten ihn daraufhin nur noch fester gepackt. „Er wird bereuen, was er heute hier getan hat.“
John O’Hara würde hingerichtet werden. Er hatte vermutlich nicht mehr die geringste Chance, denn immerhin hatte man ihn praktisch auf frischer Tat ertappt. Das schlimmste an dem Verbrechen war dessen Sinnlosigkeit. McCoy hatte niemals irgendjemandem etwas getan, er hatte immer versucht zu helfen. Aber aus irgendeinem Grund hatte O’Hara sich gezwungen gesehen, ihn zu töten. Ich konnte den Hass verstehen, den jedermann auf den Mörder verspürte, es war als wäre ein Heiliger ermordet worden.
Donovan drehte sich plötzlich mit einem Ruck um und marschierte zur Tür. Ich konnte ihn etwas murmeln hören. Es klang wie „Den knöpfe ich mir jetzt mal vor.“ Ein Verhör, natürlich. Wir wollten schließlich alle wissen, was O’Hara zu dem Mord getrieben hatte. Ich befürchtete allerdings allmählich, dass die Polizei und Justiz hier mit diesem Fall überfordert war, schließlich beschränkten sich Verbrechen in dieser Gegend auf gestohlene Kleinigkeiten. Ein Mord war ein ganz anderes Kaliber und vermutlich zu viel für die ansässigen Verantwortlichen. Etwa zu dieser Zeit wurde zum ersten Mal der Wanderer gesichtet.
Ich wollte gerade ebenfalls das Haus verlassen, als die Küchentür geöffnet wurde. Eine junge blonde Frau streckte den Kopf herein und betrat den Raum, als sie mich erblickte. Innerlich wappnete ich mich gegen alles und machte mich aufs schlimmste gefasst.
Die Witwe Jennifer McCoy war eine sehr attraktive junge Dame, die jedoch ständig in einen Mantel aus Trauer und Schmerz gehüllt zu sein schien. Angeblich hatte man sie vor einigen Jahren zum letzten Mal lachen gehört, ja sogar fast zum letzten Mal in der Öffentlichkeit gesehen. Sie verließ kaum mehr das Haus, und wenn doch, dann nicht für lange Zeit. Ich selbst hatte ihre Stimme noch nie gehört, obwohl ich schon mehrmals in ihrem Haus zu Gast gewesen bin. Wenn sie diese Aura ablegen würde, würde sie bestimmt eine sehr freundliche und hübsche junge Dame werden, daran hatte ich keinerlei Zweifel.
Als sie aus dem Schatten heraustrat, erblickte ich zum ersten Mal am heutigen Tag ihr Gesicht – und sah voller Entsetzen die blauen Flecken, die über ihr ganzes Gesicht verteilt waren, das linke Auge war geschwollen, ihre Lippe dick. Langsam kam sie näher, sie bewegte sich vorsichtig, sie schien am ganzen Körper Schmerzen zu haben. Ich eilte zu ihr, ergriff ihren Arm und half ihr, sich auf einen Stuhl zu setzen.
„Was ist passiert?“ fragte ich, noch immer unfähig, den Schreck zu unterdrücken. Zuerst antwortete sie nicht. Ich konnte in ihrem Gesicht das Spiel verschiedener Gefühle erkennen. In meinem Beruf ist man gezwungen, andere Menschen zu beobachten und Emotionen zu erkennen. Und hier sah ich deutlich, dass sie mir etwas erzählen wollte, aber sich doch nicht ganz sicher war, ob sie es wirklich tun sollte.
Ich zog einen Stuhl zu mir und setzte mich neben sie. Dann ergriff ich ihre Hand und sah ihr fest in die Augen. „Erzählen Sie mir, was passiert ist.“
Noch immer kämpfte sie mit sich selbst. Was wollte sie mir mitteilen? Meine Blicke wanderten zu der großen hölzernen Uhr, deren Ticken neben Jennifers Schluchzen das einzige Geräusch in diesem Moment war, als vermutete ich bereits, dass nicht mehr viel Zeit war. Ich hatte eine Vorahnung, eine äußerst böse Vorahnung.
„Er war es, nicht wahr?“ flüsterte ich. Jennifer wusste, wen ich meinte. Sie nickte. Als sie schließlich zu sprechen begann, rannte der junge Mann im Moor gerade schreiend davon, als er dem Wanderer zu nahe gekommen war.
„Er nannte mich eine Hure. Dann schlug er mich ins Gesicht.“ Sie schluchzte erneut. „Ich fiel ... auf den Boden, versuchte, ihm zu entkommen, ... mich zu verstecken, aber ...“ Sie brach ab, als ein heftiges Zittern ihren Körper durchlief. Ich stand auf und umarmte sie, drückte sie an mich. Sie musste nun die Nähe eines anderes Menschen spüren.
„Er trat mir in die Seite, dann zerrte er mich wieder nach oben und schlug noch einmal zu. Und noch einmal. Und noch einmal.“ Ihre Stimme wurde leiser, während sie die Worte immer wieder wiederholte. „Er zerrte an meinem Hemd, an meiner Hose. Ich versuchte zu schreien, als er mich auf den Küchentisch stieß. So schlimm war es noch nie gewesen.“
„Hat er das öfter getan?“ fragte ich ruhig, doch innerlich war ich aufgewühlt durch die Enttäuschung über einen Mann, den ich bislang für hilfsbereit und gütig gehalten hatte. Sie nickte leicht, kaum merklich, wieder versunken in ihrer Welt aus Schmerz und Pein, während sie weiter erzählte. „Dann klopfte jemand. William sprang auf, rannte zum Fenster und rief: Da ist der Hurensohn, mit dem du es getrieben hast. Er nahm eine Pistole aus seinem Waffenschrank und öffnete die Tür.“
Ich blickte zum Eingang, durch den ich selbst noch vor wenigen Minuten getreten war. „John reagierte schnell. Ich hörte Schläge und Schreie, dann einen Schuss ...“ Sie senkte den Kopf als sich ihre Augen mit Tränen füllten. Ich wollte etwas tun, ich wollte sie trösten, beobachtete jedoch nur stumm, wie sie laut in ihre Schürze weinte, unfähig irgendetwas gegen ihren Kummer zu tun. Sie brauchte einen Arzt, keinen lächerlichen kleinen Schriftsteller wie mich, der so sehr in seinen Traumwelten mit erfundenen Figuren lebte, dass er nicht mehr in der Lage war, einem realen Menschen die nötige Hilfe zukommen zu lassen.
Wie oft hatte er sie geschlagen? Wie oft hatte er sie vergewaltigt? Hatte sie deswegen nie das Haus verlassen? Weil sie sich schämte? Weil er es ihr nicht erlaubt hatte?
Plötzlich hob sie den Kopf, ihre Augen waren gerötet vom Weinen, ihr Hemd durchnässt. Doch ihre Blicke waren auf einmal ungewohnt kräftig, schienen mich regelrecht aufzuspießen. „Sie müssen John retten.“ bat sie mich.
„Haben Sie nicht der Polizei erzählt, was er Ihnen angetan hat?“
„Sie hätten mir nicht geglaubt. Für sie war William ein Heiliger.“ Sie spuckte den Namen aus wie eine obszöne Beleidigung. „Wenn es nach ihnen geht, dann ist John bereits tot.“ Sie ließ diesen Satz einen Moment auf mich wirken. Ich lebte noch nicht lange hier, ich war einigermaßen unvoreingenommen. Sie hoffte, dass ich die Wahrheit erkannte, wenn ich sie hörte und nicht vor lauter falscher Ehrfurcht vor diesem Ungeheuer erstarren würde. „Bitte retten Sie ihn.“ Sie ließ sich von ihrem Stuhl gleiten, sank auf die Knie. „Ich flehe Sie an, tun Sie etwas. Er wollte William nicht töten.“ Sie lehnte ihren Kopf an mein Bein und begann erneut hemmungslos zu schluchzen. „Sie werden ihn umbringen.“
„Es wird zuerst eine Verhandlung geben ...“ versuchte ich sie zu trösten, aber sie schüttelte den Kopf.
„Sie werden ihn umbringen. Jetzt.“
Ich wollte ihr zuerst widersprechen, dann dachte ich an Donovans Gesicht, als er seinen Gefangenen verhören gehen wollte. Der Verdächtige würde niemals ein Gericht von innen sehen. Sie würden ihn selbst bestrafen und seine Leiche irgendwo verscharren. Niemanden außerhalb des Dorfes würde es interessieren, was hier vor sich ging.
Gewaltsam, ein bisschen zu grob, riss ich mich von Jennifer los. Ich wollte mich bei ihr wegen meines Verhaltens entschuldigen, doch sie war wieder in ihrer Trauer versunken. Es war besser so. Schnell wandte ich mich um und rannte zur Tür.
Die helle Herbstsonne blendete mich, als ich nach draußen trat. Ich kniff die Augen zusammen und sah mich um. Es herrschte eine verdächtige, unnatürliche Stille. Der Wind fuhr durch die Holzhütten, brachte Fensterläden zum Klappern, wehte raschelnde Blätter über die Straße. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass irgendetwas Schreckliches im Gange war. In diesem Augenblick wurde mir die wirkliche Bedeutung des Wortes Totenstille klar.
Langsam marschierte ich die Straße entlang, betrachtete die leeren Hütten, suchte nach Hinweisen auf Menschen. Inzwischen war ich dem Marktplatz nähergekommen. Und von dort erklangen auf einmal Stimmen, viele Stimmen. Dort waren sie alle versammelt. Ich hörte Jubelschreie, begeistertes Gebrüll. Einige Worte konnte ich verstehen, und diese spornten mich an, schneller zu laufen. Je näher ich kam, desto lauter und verständlicher wurden die Rufe. Ich dachte an Jennifer und rannte noch schneller. Die Zeit war tatsächlich knapp geworden, und ich hatte zu spät reagiert.
Vor mir tauchten Menschen auf. Ich sah nur Rücken, die eine beinahe undurchdringliche Mauer bildeten, abweisend, kalt. Mit voller Wucht warf ich mich dagegen, schob Leiber zur Seite und kassierte dafür Schläge gegen meine Seite und bellende Wutschreie.
Sie hatten auf dem Marktplatz einen provisorischen Galgen errichtet. Er war kein stabiles Konstrukt, sondern eher ein schiefes Gerüst, das auf die Schnelle zusammengezimmert worden war. Aber seine Aufgabe würde es erfüllen. John O’Hara stand auf einem Stuhl, eine Schlinge um seinen Hals. Seine Blicke waren starr geradeaus gerichtet als ob er bereits alle Hoffnungen aufgegeben habe. Seine Kleidung hing an Fetzen an ihm herab, ich sah Verletzungen im Gesicht und an seinem Körper. Sie hatten ihn geschlagen, getreten. Es genügte ihnen nicht, ihn jetzt zu töten, er hatte auch noch vor seinem Tod leiden müssen. Ich begann zu schreien, hob meine Arme, um die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.
In diesem Moment richtete O’Hara seine Blicke genau auf mich, ein flehender, ängstlicher Blick. Er flehte nicht um Rettung vor dem Tod, er wollte mir etwas anderes damit sagen. Kraftvolle Hände griffen nach mir, rissen mich zurück. Blut sickerte aus Johns Nase, aus seiner aufgeplatzten Lippe, färbte das zerrissene Hemd rot. Donovan trat aus der Menge hervor, sein Blick kalt vor Hass. Er überprüfte die Seile, die O’Haras Hände auf seinen Rücken fesselten, und die Schlinge um seinen Hals.
Ich schlug um mich, brüllte lauter und schaffte es schließlich, mich aus dem Griff der Hände zu lösen und nach vorne zu stürmen. Donovan drehte den Kopf und erblickte mich als die Ursache des Aufruhrs. Ich streckte ihm meine Hand entgegen, ein Zeichen, das er es nicht tun sollte. Und tatsächlich hielt er einen Moment in seinen Vorbereitungen inne, als dächte er tatsächlich über das nach, was er zu tun vorhatte. Dann lächelte er kurz und trat mit voller Kraft gegen den Stuhl. Unter der Wucht des Tritts zerbrach das dünne Holz. Die Stücke flogen einige Meter, prallten auf die Erde und blieben bewegungslos liegen. Gleichzeitig sackte O’Haras Körper nach unten, die Schlinge zog sich straff, der letzte Blick des Verurteilten traf mich, wie ich dort in den Armen der Menschen hing, die seinen Tod beschlossen haben. Alle Anwesenden, die ganze Welt schien in diesem Augenblick die Luft anzuhalten, so dass das Knacken des Genicks die Stille durchbrach wie ein Pistolenschuss.

In diesem Moment starben meine Hoffnungen zusammen mit O’Hara. Ich dachte an Jennifer, die ihr Vertrauen in mich gesetzt hatte, dass ich ihren Retter retten würde, und ich gab jeden Widerstand auf. Die Hände packten mich wieder und zerrten mich nach hinten. Bevor sie mich in den trockenen Staub der Straße stießen, erhaschte ich einen letzten Blick auf den leblosen Körper, der dort an der Schlinge im Wind hin und her schwang, den Kopf unnatürlich gebeugt. Ein heftiger Schmerz durchzog meinen Körper als ich hart auf dem Boden aufkam. Ein Tritt in meine Seite presste mir sämtliche Luft aus der Lunge. Ich wollte liegen bleiben, alles hätte ich dafür gegeben, wenn ich nicht hätte aufstehen müssen. Ich wollte schlafen, wollte den Kummer und die Schmerzen vergessen. Doch ich wusste, dass ich für immer schlafen würde, wenn ich hier liegen bliebe. Die Menschen waren im Blutrausch, sie suchten noch ein Opfer. Sie wollten töten, bestrafen.
Schnell rappelte ich mich auf, bevor sie mich packen und zum Galgen zerren konnten, denn immerhin hatte ich versucht, John O’Hara das Leben zu retten. Ich hatte versucht, einem Mörder zu helfen. Damit war ich für sie genauso schuldig wie er.
Mehr stolpernd als laufend rettete ich mich in eine Nebenstraße, hetzte durch die engen Gassen, auf der Suche nach einem Versteck, in dem ich mich verkriechen konnte, bis die Wut der Massen verraucht war. Vor meinem Augen hatten ich noch immer O’Haras Körper, der sich ruhig im Wind drehte. Ohne Verhandlung, ohne Gericht, ohne Untersuchung hatten sie ihn zum Tode verurteilt. Ich hatte gerade einen feigen Mord mitangesehen und nichts dagegen unternehmen können.
Schwer atmend blieb ich stehen und drehte mich um. Das Dorf lag friedlich hinter mir, nichts zeugte von den barbarischen Taten, die soeben dort begangen worden waren. Eine schmale Rauchfahne drang aus einem Schornstein und verschwand im Himmel. Es wurde allmählich dunkler, weil Wolken aufzogen und die Sonne verdeckten, die vor wenigen Minuten noch so hell geschienen hatte. Es schien, als ob die Sonne mit Jennifer und mir trauerte und sich vor der Ungerechtigkeit der Welt versteckte oder sich wegen ihr schämte.
Ein lang anhaltender Schrei, der pures Entsetzen ausdrückte, wurde vom Wind über das Land herbeigeweht, und ich wusste, dass es noch nicht vorbei war. In der Ferne sah ich einen Menschen laufen. Ich glaubte, einen Jungen aus dem Dorf in ihm zu erkennen. Er rannte lauthals brüllend, als würde er von etwas Bösem und Gefährlichem verfolgt. Ich beobachtete den Jungen noch einen Augenblick, versuchte mir auszumalen, was ihn wohl so erschreckt hatte, dann begann ich in die Richtung zu marschieren, aus der er gekommen war.
Ich wusste nicht, wohin ich ging. Eine geheimnisvolle Kraft schien mich mit sich zu ziehen, zu einem Ort, den ich nicht kannte. Ich ging meinen Weg wie ein Einheimischer, der sein ganzes Leben nichts anderes gesehen hatte, vollkommen im Bann dieser Macht, die mir etwas zeigen wollte. Ich ahnte, dass eine Entscheidung bevorstand und ich aus irgendeinem Grund ausersehen war, diese mitzuerleben.
Nach etwa einer halben Stunde gelangte ich an den Ort, wo der Junge offensichtlich gearbeitet hatte, bevor er dieses Etwas gesehen hatte. Auf dem Boden lagen verschiedene Werkzeuge verstreut, Fußspuren zeigten mir, woher der Junge gekommen und in welche Richtung er geflohen war. Ich ließ mich auf dem Boden nieder und glitt in eine flache Bodenmulde. Dort blieb ich liegen, während die Kälte des Abends allmählich über den Boden und in mein Versteck kroch und an mir nagte. Die Dämmerung setzte ein und vertrieb das letzte Tageslicht, das noch nicht von den dicken Wolken, die drohend über mir hingen, verdeckt worden war.
Die Dunkelheit kam plötzlich. Mir schien, dass irgend etwas das Licht abgeschaltet, die Laterne gelöscht hatte, welche die Welt erhellte. Noch nie hatte ich erlebt, dass es so schnell Nacht geworden war. Der Mond kam hinter den Wolken zum Vorschein und erhellte das Land ein wenig, so dass ich wenigstens Schemen erkennen konnte. Die Schatten der wenigen Bäume in der Umgebung ragten wie Skeletthände in die Höhe, in einem der vereinzelten Büsche bewegte sich etwas und schreckte mich aus meinem Halbschlaf auf, in dem ich versunken war, um der Kälte zu entgehen.
Ein Licht näherte sich mir. Auf meinen Armen stellten sich die dünnen Härchen auf, jedoch nicht wegen der Kälte. Über meinen Rücken schienen Tausende kleiner Spinnen zu krabbeln, als ich den Kopf hob und nach der Quelle des Leuchtens suchte.
Ein Mann näherte sich. Er wanderte durch das Moor, kam mir entgegen. Ich konnte mich natürlich täuschen, aber ich war mir sicher, dass er einen Weg nahm, der eigentlich unbegehbar war. Von hinten näherte sich ein zweites Licht. Auch von dort kam eine Gestalt. Sie waren beide nur noch ein Schatten ihrer selbst, jedoch umgeben von dem eigentümlichen Lichtschein, den ich schon aus der Ferne gesehen hatte und der in der Dunkelheit noch unheimlicher wirkte. Der Mann aus dem Moor war McCoy, den andere, der aus Richtung des Dorfes gekommen war, erkannte ich als O’Hara. In McCoys Brust klaffte eine riesige Verletzung, aus der kein Blut drang, und Johns Kopf hing seltsam lose auf seinem Hals. An den Seiten beider Männer hingen Schwerter. Ich erinnerte mich, dass beide großartige Fechter zu ihren Lebzeiten gewesen waren.
Nun standen sie sich gegenüber, zwei Tote, die Hände an den Griffen ihrer Waffen. Sie sahen sich noch eine Minute bewegungslos an, dann, als hätten sie beide ein Signal, einen Startschuss gehört, zogen sie ihre Schwerter. Die beiden Gestalten begannen, sich lautlos zu umkreisen. Ihre Schritte wirbelten keinen Sand auf, verursachten kein Geräusch, hinterließen keine sichtbaren Spuren.
Plötzlich stieß McCoy seine Waffe nach vorne, O’Hara riss das Schwert nach oben und wehrte den Schlag ab. Die Klingen prallten geräuschlos aufeinander und lösten sich wieder voneinander. Ich konnte den Hass, die Wut spüren, die zwischen den beiden herrschte. Hier wurde eine jahrlange Fehde endlich zu Ende gebracht. Auf einmal waren Bilder in meinem Kopf. Ich sah Jennifer bei ihrer Hochzeit, traurig, unglücklich, nachdem sie von ihren Eltern gezwungen worden war, William McCoy zu heiraten, obwohl sie John O’Hara liebte. Ich erlebte Jennifers Schmerzen, die ihr von ihrem Ehemann zugefügt wurde. Sie traf sich heimlich mit O’Hara, dem einzigen Menschen, dem sie vertraute, und ich sah, wie McCoy die geheimen Treffen herausfand und seine Frau noch härter bestrafte für ihren Ungehorsam. Die Flut von Bildern wurde stärker, unaufhaltsamer. Sie überschwemmte mich, riss sich mit sich in die Vergangenheit, zeigte mir Ereignisse, die längst vorbei waren. Ich hob die Hände an den Kopf, versuchte die Bilder zu vertreiben, doch sie waren überall in meinem Gehirn, brannten sich geradezu hinein. Sie würden mich bis an mein Lebensende verfolgen. Er schlug sie, er sperrte sie manchmal Tage ohne Essen in den Keller und schlug sie noch einmal, wenn er die Tür öffnete und sie rausließ. Ich erkannte, warum O’Hara den Abzug gedrückt hatte.
Die Bilder waren immer noch da, aber nur noch verschwommen, und sie verblassten schnell. Was war das gewesen? Ich vermutete, dass sie von derselben geheimnisvollen Macht gesendet worden waren, die mich auch hierher geführt hatte. Ich sah zu den beiden Gestalten. Er wollte mich als Zeugen haben, deswegen hatte er mich kurz vor seinem Tod so durchdringend angesehen. Ich schauderte bei dem Gedanken an die Macht, die hier am Werk war.
Ein leichtes Kribbeln lief über meine Haut, während ich den Kampf der beiden unheimlichen Kontrahenten wie gebannt beobachtete. Sie wirkten wie zwei Tänzer, die einen einstudierten Tanz aufführten, während sie sich lauernd umkreisten. Dann stürmte O’Hara nach vorne, die Klinge erhoben. Der Schlag wurde abgewehrt, der Tanz begann von neuem.
Auf einmal setzte McCoy mit drei kräftigen Sprüngen über den Erdstreifen, der die beiden Gegner trennt. O’Haras Schwert raste nach oben, wehrte den Schlag ab, doch McCoy hatte bereits wieder kehrtgemacht, bevor O’Hara seinerseits ausholen konnte. Erneut rannte er nach vorne, holte aus und schlug zu. Wieder gelang es O’Hara, das Schwert rechtzeitig in die Höhe zu reißen, doch der Aufprall war so stark, dass er das Gleichgewicht verlor und nach hinten stolperte.
McCoy schlug erneut zu, die Klinge durchriss die Luft und raste auf O’Hara zu. Dieser wich zur Seite aus und antwortete seinerseits endlich mit einer Reihe schnell aufeinanderfolgender Schläge, die McCoy zu schnellen Drehungen zwang. Plötzlich machte McCoy eine Finte und einen Ausfall. John duckte sich unter einem Ansturm von Schwertschlägen und versuchte schließlich ebenfalls einen Ausfall. Sein Angriff endete erfolglos, McCoy parierte und schlug zurück. Die Klingen drehten und kreuzten sich in einem kunstvollen Tanz aus silbernem Licht. Zwei mächtige Hiebe O’Haras zwangen McCoy in die Defensive. Er hämmerte auf seinen Gegner ein wie ein Schmied auf einen Amboss. Immer und immer wider schlug er zu, McCoy wehrte die Schläge zwar ab, wurde jedoch immer weiter in die Knie gezwungen. Dann nahm McCoy auf einmal das Schwert nach unten, bot seinen Nacken schutzlos dar und rollte sich nach links ab. Das gegnerische Schwert fuhr neben ihm in den Boden, hinterließ keine Kerbe. McCoy stieß zu. Seine Waffe bohrte sich in O’Haras Bauch. Immer tiefer drückte er die Klinge hinein, bis nur noch der Griff zu sehen war. Auf der anderen Seite des Körpers kam die Spitze des Schwertes wieder zum Vorschein. McCoy ließ den Griff los und gab O’Hara einen Stoß. Dieser drehte sich kurz, stürzte zu Boden und löste sich in eine Wolke weißen Rauchs auf. Nun war auch seine Seele endgültig vernichtet worden.
McCoy wandte sich mir zu. Seine toten Augen bannten mich, machten mich bewegungslos. Vor Entsetzen gelähmt lag ich dort, konnte mich nicht rühren. Ich hatte den Eindruck, ich starre in die Augen des Bösen. McCoy hob das Schwert und kam näher. Ich wollte mich zusammenrollen, ein möglichst kleines Ziel bieten, doch McCoys magischer Blick hielt mich bewegungsunfähig. Seine Füße standen nun direkt vor mir. Und das Schwert raste herab. Er rammte es direkt vor mir in den Boden. Dann verschwand er.
Ich kann nicht sagen, wie lange ich noch dort lag, während die eisige Kälte weiterhin an mir fraß. Es war vorbei. Nicht nur McCoys und O’Haras Leben waren beendet, auch mein Traum von einem schöneren Leben in diesem Dorf war vorbei. Und ebenso mein Glaube an die Gerechtigkeit. Nachdem ich wieder im Dorf angekommen war, fand ich O’Haras Leiche auf dem Marktplatz. Man hatte noch länger auf ihm herumgeschlagen und den Körper dann liegen lassen wie ein Stück Dreck. Ich schleifte ihn ins Moor und vergrub ihn dort. Aus Steinen errichtete ich ein provisorisches Grabmal, damit wenigstens irgendetwas an ihn erinnerte. Dort liegen seine Gebeine wahrscheinlich immer noch verscharrt. Ich bezweifle, dass sich jemand erbarmt hat, den Toten würdig zu beerdigen.
Wenig später wurde Jennifers Leiche gefunden. Sie lag auf ihrem Bett, die Pulsadern aufgeschnitten, das Laken und die Decke rot von ihrem Blut. Ihr Gesichtsausdruck war friedlich, als freute sie sich darauf, nach dem Tod einen geliebten Menschen wiederzusehen. Ich glaubte nicht, dass sie ihn treffen würde. Nach einem unglücklichen, ungerechtem Leben erwartete sie ein unglücklicher und ungerechter Tod.
Am nächsten Tag packte ich meine Sachen und reiste nach London. Ich kehrte niemals wieder zurück ins Dorf und hörte nie mehr etwas von einem seiner Bewohner. Doch diese kurze Zeit, die ich dort verbracht habe, werde ich nicht mehr vergessen, sie wird mir ewig im Gedächtnis bleiben. Leider sind es nicht nur angenehme Erinnerungen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.02.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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