Sylvia Sagmeister

Der schwarze Stein Teil 3

5) Ismeldas Stunde


Graue Feder hob den Kopf. Er spürte eine seltsame Leere in seinem Herzen. ‘Ich bin zu Hause’, dachte er und verlor wieder das Bewusstsein. Stunden vergingen. Eine kleine Maus huschte an seinem Gesicht vorbei, kehrte noch einmal um, beschnupperte seine Nase. Ihre Barthaare kitzelten den Indianer, er musste niesen.
„Wo bin ich?“
Er setzte sich auf. Es war kalt. Die Sonne schickte sich an unterzugehen. Was war bloß passiert? Ach ja, die Nebelkrähen! Merlin war losgerast. Ohne Rücksicht auf Verluste. Ausgerechnet Merlin. Da konnte etwas nicht stimmen. Graue Feder schüttelte den Kopf – und wünschte sich, es nie getan zu haben. Ein Königreich für ein Aspirin! Diese dumme Abhängigkeit von der modernen Medizin. Eigentlich sollte es ja auch Kräuter gegen Kopfschmerzen geben. Seine Großmutter hatte ihm, als er klein war, viel davon erzählt. Nein, er konnte sich beim besten Willen nicht darauf besinnen. Warum war Merlin davongelaufen? Es passte nicht zu ihm – und auch nicht zum Rest der Gesellschaft – ihn einfach liegen zu lassen. Ismelda! Ismelda war in Gefahr! Wie war das möglich? Es klang so unwahrscheinlich! Und warum war Merlin dann in den Nordosten gelaufen? Ismelda sollte sich doch südlich befinden. Da konnte doch etwas nicht stimmen! Wenn er nur Gewissheit erlangen könnte! Graue Feder stand mühevoll auf. Großmutters Übungen halfen ihm vielleicht, seine Energien zurück zu erlangen. Wahrscheinlich hatte er eine leichte Gehirnerschütterung. Und die beste Medizin war da immer noch Ruhe. Doch dafür blieb keine Zeit. Er musste versuchen zu Ismelda zu gelangen. Einmal strecken, ganz auf die Zehenspitzen, Arme nach oben führen, einatmen. Wirbel für Wirbel abrollen, in die Knie gehen, ausatmen. Das ganze von vorne. Hoch – einatmen, tief – ausatmen. Er spürte, wie die Kraft in ihn zurückkehrte. Ein, aus. Langsam die Lungen anfüllen, fest ausblasen. Ismelda wartete. Ein, aus. Nur noch konzentrieren auf sein innerstes Selbst. Ismelda wartete! Er ließ sich im Lotossitz nieder, streckte seine Wirbelsäule durch, schloss die Augen. Seine Hände ruhten auf den Knien. Er versuchte alles Denken auszuschalten, alle Energie auf den Körper zu richten. Zehn Minuten blieb er so sitzen, dann sprang er auf, ordnete sein Gewand und lief zurück, um auf den ursprünglichen Weg zu kommen. Ismelda wartete!

Lassen wir ihn nun laufen. Er hat einen weiten Weg vor sich, etwa fünfundzwanzig Kilometer und er wird seine ganze Kraft brauchen, um noch in dieser Nacht zu Ismeldas Rastplatz zu gelangen. Und genau das hat er vor. Wir wollen ihn nicht weiter stören. Drehen wir lieber die Uhr zurück, so drei, vier Stunden, und sehen wir, wie es Bonifaz ergangen ist. Er war sehr brav gewandert, anfangs noch recht schwungvoll, dann immer langsamer und müder, den Kopf voller Sorgen. Wie sollten sie nur ihre Aufgabe lösen können, wenn ihre Gemeinschaft schon jetzt zerbrochen war? Immer schleppender wurden seine Schritte, kaum dass er sich noch die Mühe machte, auf den Weg zu achten. War eh schon alles vorbei, am besten nur mehr niederlegen und schlafen. Die Augen fielen ihm zu, er stolperte, ließ sich niedersinken und wartete auf das Ende. Sein Kopf fiel vornüber, die Arme hingen schlaff an seiner Seite, nur mehr ein kurzes Aufblinzeln seiner Lider und er war eingeschlafen. Hätte er geahnt, dass ihn nur mehr ein paar hundert Meter von seinem Ziel trennten, er hätte durchgehalten.

Doch wäre es schlimm, müsste meine Geschichte hier enden. Bonifaz wurde Hilfe zuteil. Gerade war er ganz in sich zusammengesunken, als eine Schlange seiner ansichtig wurde. Keine Angst. Schlangen sind nicht von Natur aus bösartig und diese hier war ein ganz besonders freundliches Exemplar, obwohl sie der Gattung der Kobras angehörte und damit zu den ganz besonders giftigen Schlangen zählte. Ihr Name war Gwendoline und sie stammte in direkter Linie von den heilkundigen Schlangen der alten Götter ab. Auch wenn die Macht der Schlangen im Laufe der Jahrhunderte geringer geworden war, so hatte Gwendoline all ihren Ehrgeiz und ihr Können darauf ausgerichtet, möglichst viel Wissen zu erwerben und damit allen Lebewesen hilfreich zur Seite zu stehen. Im Moment befand sie sich auf einem ganz normalen Ausflug. Der Tag war angenehm warm, der übliche Wärmeeinbruch vor Winterbeginn, und sie wollte noch einmal eine größere Runde drehen, bevor die Kälte sie an ihr Winterquatier fesselte. Ein glücklicher Zufall, denn sie kannte Bonifaz und als sie ihn da so erschöpft liegen sah, wusste sie, dass ihre Hilfe benötigt wurde. Sie biss nun erst einmal in ein paar Blätter, die am Boden lagen, um das Gift, das sich automatisch in den Zähnen ansammelte, zu entfernen und machte sich auf die Suche nach belebenden Kräutern, die der Frost des Herbstes noch am Leben gelassen hatte. Viel waren es nicht, aber es sollte reichen. Sie kaute die Pflanzen, vermischte sie mit ihrem Speichel und sog dann den Sud in ihre hohlen Zähne auf. Noch hatte sich kein neues Gift gebildet und die Zähne eigneten sich hervorragend als Injektionsnadeln. Vorsichtig suchte Gwendoline eine Stelle, die nicht stark schmerzen würde und biss zu. Keine Reaktion. Aber Gwendoline war zuversichtlich, sie ringelte sich um ein Bein des Wichtes und wartete.


Ismelda wartete ebenfalls. Sie hatte bereits alle Zelte, es waren deren drei, aufgebaut, die Lager bereitet und den Kochtopf mit der Suppe auf das Feuer gestellt. Sogar den Jeep konnte kein Unbefugter mehr verwenden, jetzt blieb ihr nur mehr zu warten. Es war schon spät, sie rechnete jeden Moment die vertrauten Laute ihrer Kameraden zu hören. Die Sonne war am Untergehen, bald würde es kalt werden. Wohin ihr Weg sie wohl führen mochte? Sie wagte nicht an die Gefahren zu denken, die vor ihr lagen. Sie spürte eine diffuse Angst in sich, aber sie bereute nicht, sich diesem Abenteuer angeschlossen zu haben. Sie hatte Freunde. Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie Freunde, die sie ohne Vorbehalte annahmen. Trotz ihrer Träume, trotz ihrer Abstammung wurde sie geliebt, hatte sie eine Aufgabe und einen Platz innerhalb einer Gruppe. Und trotzdem fühlte sie sich frei wie nie zuvor. Ismelda starrte ins Feuer. Sie wusste nicht, wie lange sie schon so dagesessen war, aber ihr Feuer war schon fast zur Gänze niedergebrannt, Dunkelheit umfing sie und sie erhob sich. Wo waren die anderen? Hatten sie sich verlaufen? Oder war sie falsch gefahren? Plötzlich spürte sie, wie ein glattes Etwas sich an ihrem Bein hochwand, Schuppen kratzten auf ihren Jeans und sie starrte in die Augen einer Kobra. Ismelda blieb vor Schreck stocksteif stehen. Das einzige, was ihr von Schlangen noch bekannt war, wusste sie aus diversen Western: nur ganz langsam bewegen! Doch bevor sie einen Stock angeln konnte, um diese grässliche Schlange tot zu schlagen, drangen Worte in der Gemeinsamen Sprache an ihr Herz: „Fürchte dich nicht, Ismelda, ich komme von Bonifaz, er kann nicht mehr laufen und braucht deine Hilfe. Er hat schlimme Nachrichten für dich!“
Das Mädchen spürte, wie Angst ihr das Herz zusammenzog. Schlimme Nachrichten, Bonifaz anscheinend verletzt, doch wo waren die anderen, war er allein? Schlimmes musste geschehen sein. Angst! Angst hemmte ihre Gedanken, ihren Atem, das Schlagen ihres Herzens, als sie der Schlange durch die Dunkelheit folgte. Angst! Gab es da nicht einen Spruch, der ihr schon immer geholfen hatte, einen Spruch aus einem Buch? Du musst die Angst überwinden? So ähnlich ... ‘die Angst lähmt dein Bewusstsein, lass dich nicht von ihr überwältigen, stell dich ihr entgegen, lass sie dich durchdringen, um der Gefahr mit größerer Kraft begegnen zu können ...’
„Die Angst lähmt mein Bewusstsein ...“ immer wieder murmelte Ismelda diese Worte auf ihrem Weg und hatte so fast ihre natürliche Ruhe zurückgewonnen, als sie bei einem bleichen, erschöpft an einem Baumstamm lehnenden Bonifaz ankam.

Etwa eine halbe Stunde später saßen alle drei um das Feuer, das Ismelda wieder neu entfacht hatte, sofern man bei Schlangen von sitzen sprechen kann. Bonifaz hielt einen Teller kräftiger Gemüsesuppe in den Händen und steckte gut vermummt in einem warmen Schlafsack. Er hatte seine Geschichte schon zum zweiten Mal erzählt, diesmal ausführlicher. Nun hing jeder seinen Gedanken nach. Die Nachricht war schlimmer, als Ismelda befürchtet hatte und Mutlosigkeit machte sich in ihr breit. Da spürte sie Gwendolines Gedanken: “Ich werde meine Brüder und Schwestern benachrichtigen, nach euren Kameraden Ausschau zu halten. Ich glaube fest daran, dass euer Unternehmen von Erfolg gekrönt sein wird. Mag es jetzt auch schlimm aussehen.“
Sie blinzelte den beiden noch einmal zu, richtete sich in voller Größe auf und war im nächsten Moment verschwunden. Die beiden Zurückgebliebenen sahen einander an, seufzten und aller Mut schien sie verlassen zu wollen.
„Geh´n wir schlafen. In der Dunkelheit wirkt deine Geschichte noch viel schlimmer. Morgen werden wir einen Weg finden.“
Ismelda trug Bonifaz ins mittlere Zelt und drückte ihm einen Kuss auf die Nase.
“Schlaf jetzt. Morgen brauchen wir all unsere Kraft, um aus diesem Dilemma herauszukommen.“
Dann setzte sie sich wieder ans Feuer. Feuerwache hatten es die Pfadfinder dazumal genannt, es schien ihr eine Ewigkeit her zu sein. Aber selbst in diesen kühlen und feuchten Nächten getraute sie sich nicht, das Feuer alleine brennen zu lassen.


Seit die Sonne untergegangen war fiel Graue Feder das Laufen schwer. Er zwang sich, an seine Militärzeit zurück zu denken. Damals hatten er und seine Kameraden auch laufen müssen. Hundert Meter laufen, hundert Meter gehen, um Kräfte zu schonen. Damals, vor hundert Jahren. Ein Feldwebel hatte sie angetrieben, auch mit einem Stecken geschlagen, wenn sie schlapp zu machen drohten. Jetzt schlug nur sein Herz. ´Ismelda´, schlug es, ´Ismelda!´ Ein besseres Aufputschmittel gab es nicht. ´Ismelda ...´ Er wusste nicht mehr, ob die Richtung stimmte, wusste nicht, wie weit er schon gelaufen war, zählte schon lange nicht mehr die Schritte, lief und ging, wie es ihm einfiel, ging und lief ohne zu denken, nur von dem Wunsch beseelt, endlich anzukommen. Als er schon glaubte, nirgendwo mehr ankommen zu können, gewahrte er einen Lichtschein zwischen den Baumstämmen, ein Feuer ... Er mobilisierte noch einmal all seine Kräfte, lief auf das Feuer zu, sah Ismelda davor sitzen: “Ismelda ...“, konnte er gerade noch keuchen, bevor er zusammenbrach.


Der Duft frisch gekochten Kaffees weckte ihn. Wie lange er wohl geschlafen haben mochte? Langsam schlug er die Augen auf, sah in die besorgten Gesichter Ismeldas und Bonifaz´ und zwang sich zu einem Lächeln. Ismelda legte ihren Finger auf seine Lippen.
„Sag jetzt nichts. Ruh dich aus, schlaf noch ein wenig, wenn du kannst.“
Sie strich ihm liebevoll über die Stirn und über die Augen, hauchte ihm einen Kuss auf seinen wilden Haarschopf und verließ leise das Zelt. Graue Feder versank noch einmal in einem angenehmen Schlummer, diesmal mit schönen Träumen versehen, in deren Mitte Ismelda stand. Zwei Stunden später fühlte er sich wieder fit genug, um sich zu den anderen beiden zu gesellen. Ismelda lächelte ihm zu, rückte ein wenig zur Seite, um ihm Platz zu machen und reichte ihm einen Becher voll frischen Kaffees.
„Es ist die dritte Kanne heute. Wir können noch keinen richtigen Entschluss fassen. Aber bevor du dich in unsere Beratungen stürzt, stärke dich lieber. Wir verhungern auch schon, nicht wahr, Bonifaz?“
Ismelda hatte die Suppe - mindestens fünf Liter waren es! - vom Vortag wieder aufgewärmt, dazu ein paar Scheiben Brot abgeschnitten. Während des Essens hing jeder seinen Gedanken nach. Über Belangloses zu sprechen vermochte keiner von ihnen. Und die Zeit für Probleme war später. Sie aßen langsam und viel. Vielleicht um ihr Gespräch noch hinauszuschieben. Unsicher über weitere Schritte, nun, da sie ihres Führers beraubt waren. Vielleicht auch in der vagen Furcht, länger nicht mehr ordentlich essen zu können. Aber sogar sie waren einmal satt, neuer Kaffee aufgebrüht, das Geschirr abgewaschen und verräumt, keine Chance mehr für weitere Verzögerungen. Sie hatten sich um das Feuer gesetzt, tranken Kaffee, knabberten an Keks, während sie einander ihre Erlebnisse erzählten. Dann schwiegen sie, ernst und voller Trauer, bis Graue Feder plötzlich aufsprang und rief: „So wahr ich Shoshiba bin, ich werde sie retten!“
„Shoshiba?“
Ismelda blickte ihn fragend an und sah ihn erröten.
„So nannte mich meine Großmutter immer. Es ist mein Name in der alten Sprache der Kiowas. Sie kam aus diesem Stamm. Aber ...“
„Setz dich wieder, ... Shoshiba ... darf ich dich so nennen?“
Ismelda nahm seine Hand und zog ihn herab.
„Sicher werden wir sie retten. Irgendwie und irgendwann, soweit es in unserer Macht steht. Die Frage ist, wie gehen wir vor, wo finden wir Hilfe, was wird aus unserem Auftrag?“
Bonifaz wetzte unruhig hin und her.
„Ich hätte einen Vorschlag“, hub er an, “wir könnten uns in das Tal des Wasserfalls begeben. Du, Ismelda, hast uns ja erzählt, dass Lora uns dort erwartet. Sie könnte uns mit ihren Nixen und Wassermännern auch bei der Suche nach unseren Freunden helfen.“
„Aber Gwendoline? Sie wird uns suchen!“
„Und finden!“, warf Graue Feder ein, „wir müssen ihr nur ein kleines Zeichen hinterlassen.“
„Gut, dann sind wir alle drei einverstanden. Wir gehen zum Wasserfall.“
Ismelda sah ihre Freunde an, die ernst nickten.
„Dann lasst uns alles bereiten. Wir wollen morgen zeitig aufbrechen.“



6) Verlorene Gefährten


Stundenlang liefen die Gefährten hinter Merlin her, keine Sekunde konnten sie verschnaufen, immer weiter liefen sie, bald versank die Sonne hinter düsteren Wolken, Nebelschwaden versperrten ihnen die Sicht und immer noch liefen sie so schnell ihre Beine sie nur trugen. Merlin stierte geradeaus, hatte seinen Stab vor sich gestreckt und strebte mit solcher Macht vorwärts, dass keiner seiner Gefährten auch nur daran dachte nach dem Grund seiner Eile zu fragen. Sie hatten keine Zeit zu fragen, sie mussten laufen. Hoch oben am Himmel konnten diejenigen, die noch die Kraft besaßen aufwärts zu schauen, die Nebelkrähen sehen. Fast schien es, als folge Merlin ihrem Flug und versuche, ihnen an Geschwindigkeit gleichzukommen. Doch plötzlich hielt er inne, hob seinen Stab hoch über seinen Kopf – und brach zusammen. Erschrocken sahen sich die Gefährten an. Nur Ada kniete neben Merlin nieder, fühlte sorgsam seinen Puls und öffnete sein Hemd.
„Er lebt. Ich fühle sein Herz schlagen, aber ich kann ihn nicht empfangen.“ Sie blickte besorgt auf: „Wir müssen hier bleiben, wir können nicht riskieren, ihn zu transportieren.“
Lilia kniete neben ihr nieder, berührte sachte Merlins Stirn: „Er ist eiskalt. Wir sollten Feuer machen, ihn wärmen.“
„Ja, auch uns wird eine Rast gut tun. Und ohne Merlin ...“ Ada sah ihre Kameraden lange schweigend an, „ohne Merlin bleibt uns keine Hoffnung.“

Nicht lange und ein Feuer prasselte neben dem immer noch starr liegenden Merlin. Die wenigen Decken aus den Rucksäcken hatten seine Freunde um ihn gewickelt. Er schien jetzt tief und ruhig zu schlafen. Ada und Esediel wachten abwechselnd neben ihm. Die anderen saßen schweigend um das Feuer, so gut es ging in ihre Jacken gehüllt, erschöpft vom Laufen und viel zu müde um nachzudenken. Kiraka hatte ein paar Kartoffel auftreiben können, die Bauern in der Erde vergessen hatten, jetzt lagen sie in der Glut, ein paar Brote fanden sich in den Rucksäcken. Der Rest befand sich bei Ismelda.
„Wir sollten Ismelda irgendwie Nachricht zukommen lassen.“ Lilia stocherte mit einem kleinen Stecken in der Asche. „Sie wird sich Sorgen machen.“
„Wie stellst du dir das vor, Lilia, es ist so gegen acht, schätze ich, und bereits stockdunkel“, seufzte Kiraka, „außerdem habe ich keine Ahnung, wo wir eigentlich sind.“
„Wir sind am Fuße der Verlorenen Hügel, der nördlichen Ausläufer des Nebelgebirges. Etwa drei Tagesmärsche von unserem ursprünglichen Ziel entfernt. Wir sind in die falsche Richtung losgerannt.“ Simila beugte sich weiter vor. Sie hatte die beengende Menschenkleidung wieder abgelegt und dachte nicht daran sie wieder anzuziehen. „Aber was Ismelda betrifft: Merlin rief doch, sie sei in Gefahr!“
„Ich weiß nicht recht“, Ada setzte sich in den Kreis, „mir erscheint das alles irgendwie komisch, so als wären wir unter einem Bann gestanden. Wahrscheinlich sitzt Ismelda jetzt neben dem Suppentopf und wartet auf uns. Aber sagt bloß: Wo sind Bonifaz und Graue Feder?“
Niemand wusste von ihnen, keiner konnte sich erinnern, sie bei ihrem Gewaltmarsch gesehen zu haben, keiner konnte sich überhaupt an irgend etwas erinnern. Nur an die Hast, die keine Zeit für anderes ließ.
„Nun denn, mit Merlin können wir so schnell nicht rechnen und es ist sowieso schon zu dunkel, um irgendwelche Schritte zu unternehmen. Lasst uns ein wenig schlafen. Ich werde versuchen, etwas über sie herauszufinden.“
Ada nahm sich eine Kartoffel und verschwand in der Dunkelheit.
„Warte Ada“, Simila sprang auf, „ich werde dir helfen.“

Tief in der Nacht wachte Lilia auf. Sie glaubte ein leises Rascheln gehört zu haben. Angestrengt versuchte sie, die Dunkelheit mit ihren Blicken zu durchbohren. Das Feuer war längst ausgegangen, ganz wenig noch glomm das Holz in der Dunkelheit, es war kalt. Kein Lichtschein erhellte die Umgebung, nur der Mond stand bleich am Himmel, eine Sichel noch, ohne große Leuchtkraft. Plötzlich gewahrte sie eine weiße Kobra, die langsam auf Adas Schlafsack zukroch. Das Herz blieb ihr fast stehen. Ganz sachte versuchte sie einen Stein zu finden, ihn hochzuheben, so langsam, dass der Schlange ihre Bewegungen entgingen. Die Kobra war fast schon angelangt, kaum zehn Zentimeter von Adas Wange entfernt, als Lilia mit aller Kraft den Stein auf sie schleuderte. Aber die Kobra war schneller. Sie schnellte empor, rollte sich im gleichen Schwung zusammen und landete genau auf Adas Nase, der Stein hatte sie nur leicht gestreift. Die Magierin zuckte erschreckt hoch, doch bevor Lilia die Schlange packen konnte, gebot Ada mit einer schnellen Bewegung Halt, hob die betäubte Schlange hoch, legte sie auf ihren Schoß und begann sie zu streicheln. Der Lärm ließ die anderen erwachen, nur Merlin rührte sich noch immer nicht.

„Keine Angst,“ Ada lächelte, „das ist keine gewöhnliche Schlange, sie ist kein bisschen gefährlich!“
Sie wandte sich der weißen Kobra zu, die sich bereits wieder regte: „Sei gegrüßt, Belinda! Entschuldige den etwas stürmischen Empfang, aber in den Ländern, in denen Lilia aufgewachsen ist, bringen Schlangen fast immer nur den Tod.“
Belinda ringelte sich enger zusammen, erhob ihren Kopf und nickte grüßend: „Ich weiß Ada, aber wir tragen dem Rechnung und trainieren unsere Reaktionen. Doch lasst uns nun zu Wichtigerem übergehen, ich wollte dich eigentlich alleine sprechen, ohne deine Gefährten behelligen zu müssen, aber da jetzt alle wach zu sein scheinen, lasst uns Feuer machen, ehe ich erfriere, die Gegend hier ist für uns Schlangen im Winter ungesund und ich stehe kurz vor meinem Winterschlaf.“
Schnell wurde das Feuer frisch entfacht, ein Schälchen mit ein wenig Milch gefüllt und der Teekessel aufgesetzt. Frisch gestärkt kroch Belinda zu einem Stein, um von allen gesehen zu werden. Sie bediente sich jetzt der Gemeinsamen Sprache.
„Ich habe deinen Ruf vernommen, Ada, und ich befand mich bereits auf der Suche nach dir. Meine Schwester Gwendoline ließ mir Nachricht für dich zukommen. Der Wicht Bonifaz erreichte das Menschenmädchen Ismelda und brachte ihr Botschaft von eurem Marsch, und wenn ich alle Anzeichen richtig gewertet habe, könnte ein weiterer Mensch bereits bei ihr sein. Es gibt die Spuren eines Sturzes und eine Fährte, die in Richtung Wolfsschlucht führt. Ein Hirschkäfer meinte, es könne ein Indianer gewesen sein, er habe das Aufrufen einer indianischen Kraft gespürt.“
Belinda besah die Gefährten, „Ich sehe Erleichterung in euren Gesichtern, was ist eigentlich passiert?“
Hilflos zuckte Ada die Schultern, Esediel schüttelte den Kopf.
„Wir wissen es selbst nicht so genau“, meinte er, „Nebelkrähen kreuzten unseren Weg, schienen Merlin zu suchen und sprachen mit ihm. Da schrie er ganz plötzlich, Ismelda sei in Gefahr, und rannte los. Und wir hinterher, wie unter einem Bann stehend. Wie Bonifaz und Graue Feder dem entkommen sind, wissen wir nicht. Aber Merlin brach ebenso plötzlich, wie er losgerannt war, zusammen. Jetzt schläft er noch immer. Vielleicht kann er uns eine Erklärung dazu abgeben. Ich weiß mir keinen Rat mehr. Ich habe auch keine Ahnung, wann und ob Merlin überhaupt aufwacht. Ich komme einfach nicht zu ihm durch, als wäre eine Hülle um ihn, ...“
„Führ mich doch mal zu ihm hin. Wir wissen viel von der Heilkunde der vergangenen Zeiten. Vielleicht kann ich euch helfen.“
Belinda schlängelte hinter Esediel zu Merlins Liegestätte. Vorsichtig umkreiste sie ihn, glitt langsam und behutsam seinen Arm hoch über die Schulter und führte ihren Kopf knapp zu seinen Lippen. Dann seufzte sie tief und verschwand in der Dunkelheit.

Hilflos drehte sich Esediel zu seinen Gefährten um. Kiraka stand starr vor Schreck, ballte im aufkeimenden Zorn die Fäuste und hob zu fluchen an: „Ihr mit euren weisen Schlangen! Da habt ihr uns was Schönes eingebrockt! Wir sollten nie und nimmer so vertrauensselig sein. Nicht bei unserem Auftrag in diesen Landen und nach diesem Erlebnis! Wie konntet ihr uns nur so ausliefern ...“
Aber noch bevor ihr Zorn so richtig aufloderte, sah sie aus dem Augenwinkel heraus Belinda schnell wie einen Schatten auf Merlins Hals zugleiten und zubeißen.
„Nein!“
Kiraka griff den nächsten Stein und schleuderte ihn auf Belinda. Dann rannte sie zu Merlin, zog ihr Messer aus der Tasche, bereit die Wunde aufzuschneiden und auszusaugen. Doch Adas starker Arm hielt sie zurück.
„Schau“, meinte sie nur, „er schlägt die Augen auf.“
Merlin richtete sich langsam auf. Verwirrt irrten seine Augen von einem Gefährten zum anderen.
„Ein schöner Ratgeber bin ich. Ich hab’ uns in ziemliche Gefahr gebracht, nicht wahr?“ Dann lehnte er sich zurück und schloss die Augen. „Ich habe Hunger. Könnt ihr mir etwas Essbares besorgen? Ich werde versuchen meine Kräfte soweit zu sammeln, dass ich mich zu euch ans Feuer setzen kann. Gebt mir noch fünf Minuten.“

Während Ada bereits Brot und Kartoffeln für Merlin suchte, nahm Kiraka Belinda auf. Ihr Stein hatte sie am Kopf gestreift und sie wirkte noch benommen.
„Verzeih, Belinda, aber ich habe einen tiefverwurzelten Hass auf alles, was sich da schlängelt, und es fiel mir schwer, dir zu vertrauen. Wie kann ich diesen Fehler nur wieder gutmachen?“
„Indem du lernst, in die Herzen aller Lebewesen zu schauen. Dir als Kobold sollte das nicht allzu schwer fallen. Und jetzt setz mich ans Feuer und gib mir ein paar Tropfen Milch, wenn du hast. Ich bin soweit okay. Wir haben nicht viel Zeit.“
Obwohl die Freude über Merlins Genesung groß war, blickten die Gesichter der Freunde sorgenvoll auf den Zauberer, als er in ihren Kreis trat. Ob er weiter die Führung übernehmen konnte? Ob es überhaupt richtig war, ihm alleine die Führung zu überlassen? Schweigend rückten Ada und Esediel auseinander, um Merlin Platz zu machen.
„Nun, ihr wartet auf eine Erklärung. Ich fürchte, ich kann sie euch nicht geben. Oder nicht ausreichend geben. Ich muss selbst einmal verarbeiten, was da geschehen ist. Diese Nebelkrähen übten einen dermaßen starken Zauber auf mich aus, dass ich ganz in seinen Bann geriet und ihr mit mir. Nun weiß ich zwar nicht alles, bin mir aber trotzdem sicher, dass dieser Zauber nicht von den Nebelkrähen ausging. Dafür sind sie zu schwache Geschöpfe. Aber sie können von starken Zauberern dafür benutzt werden, Zauber weiterzutragen. So wie es hier anscheinend geschah. Sie zeigten mir Ismelda in den Händen der Nebelgeister. Nun gibt es drei Möglichkeiten: Entweder sie ist es tatsächlich – das kann ich mir aber kaum vorstellen, wie käme sie in den Bereich der Nebelberge, wenn sie uns am Eingang zur Wolfsschlucht erwarten soll – oder sie ist es irgendwann einmal, quasi ein Blick in die Zukunft, oder, was am wahrscheinlichsten ist, es ist einfach falsch. Erschaffen, um uns irrezuführen. Es gibt einen Zauber, der Bilder aus dem Unterbewusstsein heraufholt, Ängste zum Beispiel, und verstärkt. Vielleicht war’s das.“
Merlin biss herzhaft in ein Butterbrot. „Mmh! Ich bin halb verhungert. Danke dir, Belinda, dass du mich aus meinen Albträumen geholt hast.“
„Ich hätte sie dafür fast umgebracht“, murmelte Kiraka kaum hörbar, „was war eigentlich los mit dir?“
„Dieser Zauber war eine Art Droge, vielleicht hatten sie eine gasförmige Droge über uns geleert, auf welche Weise auch immer. Irgendwie hielt diese Droge meinen Geist gefangen, er konnte sich nicht mehr davon befreien. Mein Körper tat, was diese Droge befahl, obwohl mein Bewusstsein genau mitverfolgen konnte, was geschah. Ich hatte nur keine Möglichkeit, mich dagegen zu wehren. Als mein Körper, wohl auch aufgrund meines Alters, einfach nicht mehr konnte, fiel er in Tiefschlaf. Und so lag ich da, gleichsam schlafend und doch bewusst alles wahrnehmend. Ich verstand jedes Wort, erlebte alles um mich herum mit, aber konnte nicht selbst in das Geschehen eingreifen, bis Belinda meinen Körper mit einem ihrer Gifte – eine Droge der Heilschlangen gegen die Droge der Nebelkrähen – wieder in die Wirklichkeit zurückholte.“
Genussvoll verzehrte Merlin alle ihm dargebotenen Speisen. Er aß, als hätte er seit Wochen keine ordentliche Nahrung mehr gehabt.
„Ich fühle mich total ausgelaugt. Diese Lauferei war einfach zuviel für mich!“
„Merlin ...“, Simila schwebte zu ihm hinüber, „was können wir jetzt weiter tun?“
„Was schon. Sasekin aufsuchen.“
„Aber die Nebel...“
„Kein ‘aber’. Ich glaube nicht, dass Sasekin von unserem Versuch weiß. Es dürfte grundsätzlicher Abwehrschutz sein gegen alle Zauberer, die den Versuch machen könnten, ihn aufzustöbern. War vor hundert Jahren ziemlich ähnlich. Nein, wir müssen ihn nicht fürchten, noch nicht.“
„Ja, aber ...“
„Was?“
„Ismelda. Sie wird auf uns warten.“
„Ismelda wird Nachricht von uns erhalten. Belinda hat viele Möglichkeiten, heimlich und doch schnell Nachrichten weiterzuleiten. Wir werden versuchen, einen Treffpunkt zu finden. Es hat keinen Sinn, den ganzen Weg wieder zurückzulaufen. Sie muss alleine durch die Wolfsschlucht, Bonifaz ist bei ihr, vielleicht auch Graue Feder, auch das kann Belinda mit ihren Freunden für uns in Erfahrung bringen. Folgt sie dann der Rotwasser bis nach dem Großen Moor, so trifft sie dort auf die Mündung des Nebelflusses. Dort könnten wir uns treffen. Wir müssen übers Nebelgebirge. Entweder über das Nebelhorn und den Pass der Tausend Gefahren oder durch das Alte Bergwerk. Welcher Weg sich als der bessere erweisen wird, kann ich nicht sagen, aber haben wir das Nebelgebirge einmal bezwungen, stoßen auch wir auf die Rotwasser, wenn wir im Großen und Ganzen dem Nebelfluss folgen. Alles in allem ein Weg, der vier bis sechs Wochen dauert, wenn wir nicht allzu lange zögern. Ismelda kann schneller vorankommen. Aber unter fünfundzwanzig Tagen kann auch sie es kaum schaffen. Vorausgesetzt, es treten keine allzu großen Schwierigkeiten auf. Nun lasst uns aber schlafen gehen und morgen in der Früh entscheiden, wie wir vorgehen wollen. Außerdem möchte ich nicht alleine verantwortlich bleiben, es ist einfach zu gefährlich! Mit ausgeruhten Gliedern fällt es leichter Problemen ins Gesicht zu sehen. Gute Nacht und ruht wohl!“
Merlin raffte sein Gewand zusammen, winkte noch einmal in die Runde und zog sich auf sein Lager zurück, um fünf Minuten später tief zu schlafen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.02.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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