Klaus Eylmann

Hampton Beach

Oktober. Der Himmel hing über dem Meer, die untergehende Sonne bemühte sich durch sein verwaschenes Grau. Ihr fahles Licht verlieh dem Wasser, dessen Wellen festgefroren schienen, eine bleierne Solidität. Die letzten Badegäste waren abgereist, und der Strand war leer, bis auf einen Jungen, der sich unbeholfen auf einen Steg zu bewegte. Blonde Haare fielen ihm ins sommersprossige schmale Gesicht. Ein weißes T-Shirt hing von seinen schmalen Schultern.
Ein paar hundert Meter hinter ihm rumpelte ein Güterzug vorbei, dann hörte Jim, wie das Wasser gegen die hölzernen Pfeiler schwappte. Der Junge humpelte den Steg entlang, hielt inne, sah sich prüfend um und pustete die Haare aus seiner Stirn. Seine Gedanken hatten sich aufgelöst. Nur das Gebrüll seines Vaters, das Weinen der Mutter hallten in ihm nach, als er sich in ein Ruderboot hinab ließ und es losband. Dann ruderte er auf das Meer hinaus, um seine Gedanken zurück zu bekommen. Die weißen Häuser von Hampton Beach verwuchsen mit der Dunkelheit. Das Meer schien wie schwarze Tinte. Kein Windhauch regte sich. Jim tauchte die Ruder ins Wasser. Immer wieder. Wie lange schon? Lange genug, dass seine Eltern ihn suchen würden? Und er wendete das Boot.
So sehr er ruderte, die Ebbe trieb ihn aufs Meer hinaus. Der Mond brach durch die Wolken. Auf dem Wasser flirrten silberne Tupfer. Der Junge ruderte, bis seine Kräfte erlahmten. Er legte die Ruder ins Boot, senkte seinen Kopf, stützte die Ellenbogen auf die Schenkel und wartete.
Windböen fegten über das Wasser. Sie trugen eine Wolke aus Fischgestank heran. Feuchtigkeit umhüllte ihn mit klammen Fingern. Die flirrenden Reflexe des Mondes lösten sich auf. Vor dem Boot schwamm etwas Schwarzes. Jims Gedanken kehrten zurück, voller Furcht. Die Schwärze breitete sich vor ihm aus, bewegte sich. Der Mond flüchtete hinter die Wolken und ließ ihn mit seiner Angst allein. Der Wind wurde heftiger. Wellen schüttelten das Boot. Der Gestank verfaulter Fischen wurde unerträglich und sein Magen verkrampfte sich. Muskeln versteiften. Mit aufgerissenen Augen starrte der Junge dorthin, wo laut plätschernde Geräusche hervorbrachen. Sie kamen näher. Etwas schoss aus dem Wasser und fiel dorthin zurück. Dann erschütterte ein heftiger Schlag das Boot. Eine klebrige stinkende Flüssigkeit regnete auf ihn herab. Der Junge hustete und versuchte zu schreien. Es ging nicht. Das Meer will mich, dachte er, bevor ihm die Sinne schwanden.

Himmel, Strand und die Häuser von Hampton Beach leuchteten unter der Morgensonne, als Jim zu sich kam. Personen liefen auf dem Sand. Lichter eines Polizeibootes flackerten. Dann wurde es wieder dunkel um ihn.

Eine Standuhr rasselte. Als Jim erwachte, fand er sich in seinem Bett. Hustend richtete er sich auf. Sein Blick fiel auf den Tisch mit den Schularbeiten.
Die Tür ging auf. Die Augen seiner Mutter waren verquollen. Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht. Sie machte ihre kleine Gestalt so gross wie sie konnte, blickte ihn stumm an. Dann rümpfte sie die Nase.
“Du stinkst”, rief sie und öffnete die Fenster. “Du stinkst nach Fisch. Geh ins Badezimmer und wasch dich. Dann komm zu Tisch. Dein Vater will mit dir reden.”

Sonnabend, und er hatte Hausarrest. Zeit genug, seine Schulaufgaben zu beenden. Jim setzte sich ans Fenster. Der Strand war leer, keine Möwe zu sehen. Ein paar Fischkutter tuckerten zum Hafen von Dunsten. Jim beugte sich vor und hustete.

‘Assembly of God’, ein Holzschuppen mit Holzbänken und einem Holzaltar. Wie an jedem Sonntag war Jim mit seinen Eltern beim Gottesdienst. Die Lippen seiner Mutter bewegten sich im Gebet, der Vater hielt seinen Kopf gesenkt und schlief. Die Einwohner von Hampton Beach saßen in ihrem Sonntagsstaat und blickten zu Reverend Milzhorn empor.
“Du sollst keine falschen Götter haben neben mir”, wetterte der von der Kanzel. Jim hustete. Seine Mutter sah zu ihm hin und hielt einen Finger vor den Mund. Dann hustete auch sie.
“Was ist...”, schreckte der Vater hoch und rang nach Luft. Die beiden frauen neben ihnen setzten sich auf eine andere Bank. “Gestank des Satans”, murmelte eine von ihnen. “Nein, Satan stinkt nach Schwefel!”, krähte ein kleines Mädchen. “Diese Leute stinken nach Fisch!”

Wind kam vom Friedhof her, zerzauste Jims blonden Schopf. Ängstlich sah er zu den Eltern hoch, als sie sich auf den Heimweg machten.
“Was sind falsche Götter?”, fragte er.
“Das, an was du während des Tages denkst.” Seine Eltern redeten mit einer Stimme. Dann sagten sie nichts mehr. Jim drehte sich um. Der Küster, der sie nach draußen geleitet hatte, war im Kircheneingang stehen geblieben.
“Mein Fahrrad?” Jim dachte weiter nach. “Das mein kurzes Bein genau so lang wird wie das andere? Oder das schwarze Ding im Meer?” Seine Eltern reagierten nicht.
“Oder das schwarze Ding im Meer!”, schrie Jim.

Die Tage darauf brachten eine Wende zum Besseren. Seine Eltern sagten kein böses Wort, auch nicht zu ihm. Sie sagten überhaupt nichts mehr und aßen sehr wenig, ließen zu, dass Jim Geld aus ihrer Geldbörse klaubte, um in Mr. Millers Gemischtwarenladen etwas zu Essen zu kaufen.

Wenn Jim aus der Schule kam, standen sie am Wasser. Von seinem Zimmer aus konnte er seine Eltern sehen. Bewegungslos, den Blick aufs Meer gerichtet. Hin und wieder sah es aus, als verneigten sie sich. Doch Jim wusste es besser. Sie krümmten sich vor Husten, so wie er.
Er präparierte ein paar Sandwiches, nahm sie und ging zum Meer hinunter.
“Was macht ihr hier? Wollt ihr nichts essen?”
“Wir haben keinen Hunger.” Ihre Haut hatte sich dunkler gefärbt. Wie Feuchtigkeit ins Holz dringt, so kroch in Jim Furcht empor. Er humpelte ins Wasser, stellte sich vor seine Eltern und fragte: “Was ist mit euch?”
Sie antworteten nicht. Die Lippen ihrer Gesichter waren geschwollen. Ihre Augen traten hervor. Wenn sich ihre Brust bewegte, öffneten sich feine Schlitze auf ihrem Hals.
Jim fasste die Hand seiner Mutter. Er fühlte und sah die Haut zwischen den Fingern und weinte, versuchte seine Mutter vom Wasser wegzuziehen. Vergeblich. Starr blickte sie aufs Meer hinaus, bewegte ihre Lippen, wie beim Gottesdienst. Schluchzend wandte er sich ab und schleppte sich den Strand hoch, als läge eine zentnerschwere Last auf ihm. Sein Lehrer, Mr. Teadom, kam auf ihn zu, dann sah er Reverend Milzhorn, Mrs. Brewer und die kleine Penny vom Nachbarhaus. Sie gingen an ihm vorbei, stellten sich ans Wasser. Es kamen immer mehr. Ihre glasig vorstehenden Augen auf ein fernes Ziel gerichtet. Grün war ihre Haut, geschwollen ihre Lippen. Sie kamen aus den Häusern wie Insekten aus ihren Löchern. Die Menschen vom Gottesdienst, der Schule, der ganzen Stadt. Sie bevölkerten den Strand und kannten nur ein Ziel: das Meer.
Jim schwang sich aufs Rad und fuhr zum Gemischtwarenladen. Mr. Miller kam mit seiner Schürze hinter dem Ladentisch hervor und ging zur Tür hinaus.
“Mr. Miller!” Jim lief hinter ihm her. Doch der setzte seinen Weg fort. Auf der anderen Straßenseite kam Sheriff Dunlop aus der Wache und ging zum Meer hinunter.
Jim hustete und lief in den Laden zurück. Er griff nach einer Plastiktüte, stopfte Schokoriegel, Erdnüsse, Sandwiches hinein.
“Ich bezahle später”, murmelte er, nahm die Tüte und humpelte nach Haus. Er spähte aus dem Fenster. Sie standen am Wasser. Die Alten, die Jungen. Alle. Nur seine Eltern waren verschwunden. Mr. Teadom bewegte sich wie ein Automat. Gemessen Schrittes ging er ins Wasser, bis er nicht mehr zu sehen war. Dann wurden es immer mehr. Seine Nachbarn, der Mann von der Tankstelle, der Briefträger, die dicke Frau mit ihrem Hund, der an der Leine zerrte. Sie gingen ins Wasser und kamen nicht mehr zurück. Gelähmt vor Furcht saß Jim vor dem Fenster und sah, wie sich der Strand leerte. Mit gerötetem Gesicht lief er aus dem Haus, dann die Straße entlang, klopfte an jede Tür. Niemand antwortete.
“Sie sind alle weg!”, schrie er. Tränen liefen über sein Gesicht. Langsam humpelte er nach Haus, setzte sich in sein Zimmer und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Jim wollte nicht allein sein. Er holte eine Reisetasche vom Boden und packte sie, ging in Mr. Millers Geschäft, nahm Geld aus der Kasse und steckte es ein.
Am Abend wartete Jim an den Geleisen. Der Güterzug kroch an ihm vorbei. Waggons, die nicht aufhören wollten. Er warf seine Tasche voraus, zog sich an einem von ihnen hoch und verschwand im Bremserhäuschen. Die Tasche stellte er neben sich. Die leeren Häuser von Hampton Beach sahen ihm eine Weile hinterher, dann verschwanden sie in der Dunkelheit. Jim lehnte sich erleichtert zurück. Dunsten, nächste Stadt. Wo die Fischerboote herkamen. Jim nahm sich vor dort abzuspringen. Sein Husten verlor sich im Heulen der Sirene.


Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Klaus Eylmann).
Der Beitrag wurde von Klaus Eylmann auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.02.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Klaus Eylmann als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Deutschland mittendrin von Petra Mönter



Eine vierköpfige, völlig normale Familie wird von Hartz IV getroffen, was zur Folge hat, dass die beiden Eltern gezwungen werden, ihre Stellung in der Gemeinschaft und der Gesellschaft neu zu bedenken und neu zu bewerten. Die Ergebnisse dieser Bewusstwerdung drohen die Familie zu zerstören, letztlich aber schweißen sie das Gefüge mehr zusammen als vorher. Und einer der unsicheren Veränderungsversuche sorgt sogar dafür, dass jenseits des für die Protagonisten bisher Vorstellbaren sich ein neuer Horizont öffnet.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (2)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Unheimliche Geschichten" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Klaus Eylmann

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Power of Love von Klaus Eylmann (Zwischenmenschliches)
Leben und Tod des Thomas von Wartenburg, I. Teil von Klaus-D. Heid (Unheimliche Geschichten)
Tod mit etwas Humor aufbereitet. von Norbert Wittke (Zwischenmenschliches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen