Brigitta Firmenich

Die Jagd

Der Pferdehof lag abseits des Ortes. Nebelschwaden hingen zwischen den Ställen und ließen ein unwirkliches Bild entstehen. Eine kleine Lampe über der Haustüre warf ihr mattes Licht auf die breiten Steinstufen, die in den Hof führten. Die blasse Morgensonne kämpfte sich langsam durch. Manfred liebte den Herbst, die Zeit der Ernte, die Zeit der Jagd. Seit vielen Jahren verbrachte er einige Wochen bei seinem Freund Paul. Er genoß die Gastfreundschaft und die gute Küche von Paul´s Frau Anita. Seiner Anita! Er spürte noch die Wärme ihrer Haut, die Weichheit ihrer Brüste. Draußen war es noch feucht und kühl. Über seinen dicken Norwegerpullover hatte er eine Outdoor-Weste angezogen. Seine Hände steckten in Handschuhen, auf dem Kopf trug er eine Schirmmütze, deren Seiten er herabklappen konnte, um die Ohren vor der Kälte zu schützen. Er stand vor dem schwarzen Rappen, den er in jedem Jahr ritt, und strich ihm liebevoll über die Nüstern. Im Stall hörte er den Braunen wiehern. Die Stalltüre quietschte. Er drehte sich um. Sein Freund Paul führte den Braunen aus dem Stall. Der Sattel lag lose auf dem Pferderücken. Manfred sah Paul zu, wie er ihn befestigte, beobachtete genau, wie er dabei vorging, wie er dem Braunen den Riemen durch das Maul legte. Paul noch immer aus den Augenwinkeln beobachtend, stieg er auf seinen Rappen.

„Du bist früh,“ stellte er fest.

Paul tat, als höre er ihn nicht. Er ging noch einmal in den Stall und trat mit einer Satteltasche und einer Peitsche in der Hand wieder heraus. Er stieg auf. Sein Gesicht wirkte wie versteinert. Der Schwarze begann unruhig zu trippeln, als ob er den Ausritt kaum erwarten könnte. Manfred zog am Zügel und tätschelte ihn.

„Bist du stumm seit heute Nacht?“ sprach Manfred erneut seinen Freund an.

Als Antwort erhielt sein Schwarzer einen Schlag mit Paul´s Peitsche auf die Kuppe. Der Rappen stieg erschreckt hoch und hätte seinen Reiter beinahe abgeworfen.

“Du Spinner,“ schrie Manfred hinter Paul her, der seinem Pferd Druck gegeben hatte und schon im Galopp unterwegs war. Manfred beruhigte sein Pferd und setzte dann in leichtem Galopp seinem Freund nach. Der Weg war sumpfig und die Pferde mußten genau schauen, wohin sie traten. Sie ritten an abgeernteten Feldern vorbei auf den Waldrand zu. Inzwischen hatte die Sonne den Nebel besiegt und den letzten Dunst weggeleckt. Die dunkelgrünen Kiefernzweige glänzten. Es war beinahe das einzige Grün. Am Weg stand eine hohe Eiche, die ihre kahlen Äste von sich streckte. Das Laub lag wie ein bunter Teppich ausgebreitet. Fahrzeuge hatten auf dem Waldweg tiefe Spuren hinterlassen. In den Rillen lagen die abgestorbenen Blätter. Der feuchte Modergeruch wurde von den Hufen der Pferde aufgewirbelt. Ein Eichelhäher ließ seinen Warnruf erschallen. Die beiden Reiter kümmerte nicht die Schönheit des Herbstwaldes, nicht die Stille des Ortes. Unter den Pferdehufen bebte die Erde. Vögel flatterten in die Tiefe des Waldes, sangen und zwitscherten in sicherer Entfernung. Eine kleine Lichtung tat sich auf. Auf der rechten Seite war ein Ansitz. Paul war bereits abgesprungen und erwartete seinen Freund. Plötzlich ertönte ein Schuß. Die Pferde wieherten. Aus dem Wald drang ein Schrei. Das Vogelgezwitscher verstummte für einen Moment.

Ein Pferd galoppierte reiterlos aus dem Wald hinaus.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.02.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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