Sandra Hillen

Piruella Schneeflocke

oder
Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind


Die Schneeflocken fielen träge und behaglich aus den dichten Schneewolken auf die Erde hinab. Die einen setzten sich auf die dürren, kahlen Äste der sonst so prächtig blühenden Bäume und andere wiederum auf die flackernden Straßenlaternen im Park, die einen warmen Lichtschein auf die Spaziergänger hinab warfen.
Doch am liebsten setzten sich die Schneeflocken auf die roten kühlen Nasen, die als einzige noch aus den mit dicken wolligen Schals bedeckten Gesichtern der Menschen hervor schauten.
Die Schneeflocken versuchten sich hierbei stets zu übertrumpfen. Während des Fluges hinunter zur Erde schlossen sie Wetten ab, wer die kleinste und röteste Nase treffen würde.

Pi durfte diesen Winter zum Ersten Mal mit hinunter auf die Erde. Sie war so aufgeregt, dass sie die guten Ratschläge ihrer Eltern und Geschwister bereits völlig vergessen hatte. "Denk daran, verliere die Nase nicht aus den Augen!" riet ihr ihr Vater. "Pass bloß auf dich auf und mach ja keinen Sturzflug!" mahnte ihre Mutter.
Und da war es auch schon so weit.
Pi stellte sich an den Rand der großen Schneewolke und hüpfte leicht wie eine Feder in die Tiefe. Noch nie hatte sie die Erde von Nahem gesehen, doch heute war es endlich so weit! Links und rechts flogen weitere Schneeflocken lachend und schreiend an ihr vorbei. Doch Pi blickte nur noch angestrengt auf die immer näher kommende Erde hinab. Wie groß doch alles aus der Nähe aussieht, dachte Pi gerade, als sie eine passende Nase genau in ihrer Flugbahn erblickte und sofort ihren Nasenkurs einschlug.
Die Zielnase gehörte zu einem kleinen Mädchen, welches auf einer Parkbank saß. Eingemummelt in eine dicke graue Winterjacke und einen bunten flauschigen Schal. Pi visierte die Nase genau an und landete, bereits im nächsten Moment, mit einem kleinen "platsch" genau auf der Spitze der kleinen, schon fast ampelroten Nase. Nach einem kurzen Verschnaufen sah Pi hoch und blickte geradewegs in zwei blaugraue Augen aus denen kleine schimmernde Tropfen heimlich und leise hinunter liefen.
"Warum weinst du?" fragte Pi dass kleine Mädchen, auf dessen Nasenspitze sie gelandet war. Das kleine Mädchen schaute sich erschrocken um, so dass Pi beinahe von der Nase heruntergekullert wäre. "Warum weinst du?" fragte Pi erneut.
"Wer ist da?" fragte das kleine Mädchen leise schluchzend und etwas schüchtern. "Ich heiße Piruella Schneeflocke", antwortete Pi. "Aber alle nennen mich nur Pi!"
"Ich kann dich hören. Aber wo bist du? Hinter mir?" Und das kleine Mädchen drehte ihren Hals so weit nach hinten wie sie nur konnte.
"Nein, halt! Beweg dich nicht so schnell! Sonst fall ich noch von deiner Nase herunter!" schrie Pi so laut sie nur konnte.
"Du sitzt auf meiner Nase? Aber da ist doch nur Schnee." "Nur Schnee?!" erwiderte Pi erbost. "Nur Schnee?! Natürlich Schnee! Was soll ich denn sonst sein! Ich bin die kleine Schneeflocke, die direkt auf deiner Nasenspitze gelandet ist." Und Pi begann heftig hin und her zu wippen.
"Eine sprechende Schneeflocke? Ich heiße Hanna und ich weine, weil ich so traurig bin. Dabei haben wir doch Weihnachten! Und eigentlich sollte ich froh und glücklich sein."
"Weihnachten?" fragte Pi neugierig. "Du weißt nicht was Weihnachten ist?" fragte Hanna verwundert." Es ist das Fest des Friedens, der Freude und der Geburt Christi. An Weihnachten sind alle Menschen froh und nett zueinander. Fast jede Familie stellt sich eine Tannenbaum im Haus auf, der bunt geschmückt wird und am Heiligen Abend, dass ist heute, sitzen die Familien gemütlich beisammen, essen etwas leckeres, erzählen und lachen miteinander." "Aha", räusperte Pi, die eigentlich nicht genau verstand, von was Hanna da sprach. Weihnachten, Gott? Pi träumte ihr ganzes Leben lang nur von dem Fall zur Erde, aber von Weihnachten hatte sie noch nie etwas gehört. Bis eben hatte sie aber auch noch nie mit einem Menschen gesprochen. Wenn eine alte Schneeflocke erzählte, dass sie einmal bei einem Ausflug zu Erde mit einem Menschen gesprochen hatte, wurde sie ausgelacht. "Was hat deine Traurigkeit mit Weihnachten zu tun?" fragte Pi, um das Schweigen zu brechen. "Ich bin traurig weil,..." Hanna wischte sich eine Träne aus ihrem Auge, ...weil ich nicht nach Hause gehen möchte".
Jetzt verstand Pi gar nichts mehr. "Ich habe mich mit meiner Mutter gestritten. Alles was ich mache ist falsch und ich weiß einfach nicht wie ich es ihr recht machen kann. Egal was ich tue und sage, sie versteht es immer anders als ich es eigentlich meine und sie findet immer einen Grund an mir herum zu nörgeln und da bin ich von zu Hause weggelaufen!" "Aber heute ist doch Weihnachten", stieß Pi piepsend hervor. "Du hast doch eben selbst gesagt, dass Weihnachten das Fest der Liebe, Freude und Vergebung ist".
Pi versuchte ruhig auf das kleine Mädchen einzureden. "Meine Mama ist auch manchmal böse auf mich. Sie sagt mir immer - tu dies nicht, tu das nicht, geh nicht zu weit an den Rand der Wolke. Ich glaube einfach Mütter müssen so sein. Wer würde sich denn sonst um uns kümmern? Ich habe wirklich viele Geschwister, tausende und da ist es nicht immer einfach auf alle aufzupassen. Meine Mama hat viel zu tun und ist darum auch oft schlecht gelaunt, aber sie liebt mich. Das hat sie mir schon oft gesagt." "Meine Mama", begann Hanna zögernd, "meine Mama hat mir schon lange nicht mehr gesagt, dass sie mich lieb hat." Und eine neue Tränenlawine begann aus den Augen Hannas heraus zu brechen.
"Hanna", sagte Pi ruhig, "geh nach Hause und rede mit deiner Mutter. Ich kann mit meiner Mutter immer über alles reden. Egal wie viele Probleme und Arbeit sie um ihre Flockenohren hat. Ein bisschen Zeit für mich hat sie immer."
"Aber sie ist bestimmt noch böse auf mich und inzwischen hat sie sicher gemerkt, dass ich weggelaufen bin. Dann gibt es nur noch mehr Ärger", erklärte Hanna ängstlich.
"Das glaub ich nicht", widersprach ihr Pi. "Mütter lieben ihre Kinder und deine macht sich sicherlich bereits große Sorgen, wie meine Mutter!"
"Oh!" Hanna schaute schuldbewusst drein. "Geh ruhig zu deiner Familie." "Ich werde meinen Geschwistern alles erzählen, wie ich auf dir gelandet bin, dass ich mit dir gesprochen habe, und ..." Pi unterbrach mitten im Satz, als sie eine, in einen Mantel gewickelte Frau, von hinten auf Hanna zu gerannt kam, erblickte. Die Frau hatte verweinte graublaue Augen, die denen von Pi`s neuer kleiner Freundin Hanna sehr ähnlich sahen. "Hanna, mein Kind! Endlich hab ich dich gefunden!" rief sie erleichtert. "Ich hatte solche Angst um dich!" Die Frau umarmte ihre kleine Tochter und drückte sie zärtlich und liebevoll an sich. "Ich dachte du wärst böse auf mich", schluchzte Hanna. "Ich bin nicht böse auf dich", entgegnete ihre Mutter, "ich liebe dich doch!" Und da verlor Pi ihren Halt und fiel von der Nasenspitze herab zu ihren Verwandten. Sie hörte nur noch leise die Worte ihrer Freundin Hanna: "Ich liebe dich auch, Mama!"

Pi landete direkt neben ihrer Mutter auf der Erde. "Mama, ich hab dich lieb!" flüsterte Pi ihrer Mutter glücklich ins Schneeflockenohr. Pi`s Mutter schaute ihre kleine Schneeflocke verwundert an und bevor sie etwas erwidern konnte, sprudelten lauter Wörter aus Pi`s Mund heraus, die von kleinen roten Nasenspitzen, sprechenden Mädchen, einem Tag wie Weihnachten und von der Liebe einer Mutter zu ihrem Kind handelten.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Sandra Hillen).
Der Beitrag wurde von Sandra Hillen auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.02.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Sandra Hillen als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Sinnenflut von Gerhild Decker



Eine Flut von Sinneseindrücken wird in den Gedichten von Gerhild Decker heraufbeschworen. Die Themenvielfalt ist so bunt, wie sie nur von einem intensiven Leben vorgegeben werden kann. Die Autorin ist mit der Realität fest verwurzelt, wagt aber immer wieder Ausflüge in die Welt der Träume und Wünsche. Kleinigkeiten, die an ihrem Wegrand auftauchen, schenkt sie genauso Beachtung, wie den grossen Zielen, die jeder Mensch in sich trägt.

Ein Gedichtband, den man immer wieder gerne zur Hand nimmt.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Sandra Hillen

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Heut ist mein Tag von Martina Wiemers (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Nach zwanzig Jahren von Rainer Tiemann (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen