Anna Osowski

Die Traurigkeit von Kurt

An einem stürmischen Wochenende vergangenen Herbst lernte ich anlässlich einer Veranstaltung des
örtlichen Schützenvereins Kurt kennen. Es waren seine klaren, eindeutigen Augen, die mich überzeugten.
Seine unkomplizierte, echte Art. Seine pure Mischung aus animalischer Direktheit und kindlicher Unschuld. Ich
hatte die Intellektuellen satt, die ständig an ihren Neurosen herumdoktern mussten. Die ihre Kompliziertheiten
pflegten wie ein besessener Botaniker seine Orchideenzucht. Ich sehnte mich danach, das einfache Sein zu
genießen. Kurt war genau der Richtige. Kurt war Malermeister und hatte den Betrieb seines Vaters
übernommen. Er sprach wenig über seine Arbeit. Wie es überhaupt wenig Gesprächsstoff zwischen uns gab.
Oft saßen wir in einvernehmlichem Schweigen beisammen oder alberten oder träumten, meist jedoch tobten
wir im Liebeskampf, bis wir erschöpft ins warme Nichts glitten. In Kurts festem Griff konnte ich die Heimtücke
des Lebens vergessen. Da musste ich nicht ständig hinterfragen und ergründen, dort konnte ich einfach Frau
sein..

Es war alles wunderbar, bis ich eines Tages aus der Stille seines vergnügten Minenspiels heraus eine
Traurigkeit blitzen sah. Es kann sich nur um einen winzigen Moment gehandelt haben, aber von dem
Augenblick an wurde alles anders. Ich wollte das zunächst auf meine Einbildungskraft schieben oder für einen
schlichten Irrtum erklären, doch es gelang mir nicht. Auf meine Treffsicherheit in psychologischen Belangen
konnte ich mich verlassen. Immer wieder erwischte ich mich dabei, auf einen neuen Beweis für diese
Traurigkeit zu lauern. Immer öfter merkte ich, wie ich ihn verstohlen von der Seite betrachtete... Ich beobachtete
ihn, wie er morgens seinen Kaffee trank. Sah das leise Zucken in seinen Mundwinkeln. Wie er den heißen
Strahl der Dusche über seinen muskulösen Körper plätschern ließ. Und dabei die herbe Stirn in heimlich
betrübte Falten legte. Wie er mit einem Kollegen telefonierte und lachte. Hinterfragte sein Lachen und suchen
mehr und mehr nach Spuren für diese Traurigkeit, die sich irgendwo in den Ritzen seiner sorglosen Seele
verbarg.

Natürlich konnte ich ihn dazu nicht befragen, denn mir war klar, dass er selbst von alledem nichts ahnte. Nichts
ahnte von der stillen Traurigkeit, die ihn bewohnte. Ich war mir selbst nicht darüber im Klaren, woher sie rühren
konnte. Ein innerer Zwang trieb mich immer weiter. Immer tiefer wollte ich in dieses scheinbar schlichte Gemüt
eindringen. Bald schon war unser fröhliches Beisammensein von dieser Suche überschattet. Kurt gab sich
ahnungslos. Wie hätte er auch wissen können, welch tiefen Einblick ich mir in sein Wesen erlaubte. Wie hätte
er überhaupt diese menschlichen Abgründe ausmachen können?

Bald schon büßte unser Liebesspiel seine Spontanität ein. Ich begann in seinen Küssen nach Schwermut zu
forschen. Fing an, in jeder Geste Schlimmes zu ahnen. Kurt wurde von einer Art Wundern befallen, schenkte
dem jedoch keine übermäßige Aufmerksamkeit. Er trank nach wie vor morgens mit Hingabe seinen Kaffee, ließ
seinen Blick lächelnd über meine Anwesenheit streichen und atmete, aß und trank, wie er das eben zu tun
pflegte. Meine forschende Zurückhaltung nahm er mit einer stoischen Würde hin, wurde jedoch nach einiger
Zeit etwas unbehaglich. Schließlich spürte auch dieses unerschütterliche Wesen, dass ich an seiner
Selbstverständlichkeit rüttelte.

Meine Forschungsaktivitäten nahmen bald eine besessene Form an. Selbst in seinen alltäglichen Gesten
analysierte ich tief verschüttete Traumata und unbedingt zu behandelnde Verletzungen. Kurt war verstört. Aus
seiner Sicht gab es natürlich keinen Anlass für meine Anspannung. Wie konnte er auch wissen, wie tief ich
mittlerweile in seine Seele eingedrungen war. Aus Frustration begann er, abends mehr Alkohol als gewöhnlich
zu trinken. Er begann, lauter zu reden, früher einzuschlafen und länger mit Freunden unterwegs zu sein. Ich
nahm das als Bestätigung für meine unumstößliche These. Er wollte seine Traurigkeit nicht preis geben. Doch
ich würde diese Verletzung aufspüren. Und hoffentlich heilen.


Meinen Befragungen wich er dickhäutig aus, weder über eine zerrüttete Kindheit noch über
niederschmetternde Erfahrungen konnte ich etwas in Erfahrung bringen. Gerade Kurts Verschlossenheit
schien mir eine Bestätigung meiner Vermutungen zu sein. Unsere Zuwendung und Hingabe wich einem
lauernden Tanz, einem linkischen Schleichen. Die Leichtigkeit, die ich an unserer Beziehung so geschätzt
hatte, war mittlerweile vollkommen verschwunden. Eine stetige Überspannung verdunkelte unsere Tage, ein
lähmendes Unverständnis unsere Nächte. Doch ich war besessen davon heraus zu finden, was es mit dieser
Traurigkeit auf sich hatte.

An einem lauen Sommerabend gingen wir mit trüben Blicken und fahrigen Schritten zu einer festlichen
Veranstaltung. Kurt ließ es sich gut gehen, schüttete den Wein in sich hinein und sein Lachen ebenso hinaus.
Es kam wie es kommen musste. Die pralle Margit mit dem Apfelbäckchenlachen und dem unbekümmerten
Wesen nahm ihm seine Beklommenheit beim mitternächtlichen Engtanz. Betroffen beobachtete ich das
Geschehen durch die Zweige des Holunderbusches und wusste, dass Margit nie über seine Traurigkeit
stolpern würde. Weil sie sie nie wahrnehmen würde in ihrer hellen Art.

Und vielleicht auch...
weil sie...
nie da war...?

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Anna Osowski).
Der Beitrag wurde von Anna Osowski auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.03.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Anna Osowski als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Die Therapie oder Unsterbliche Jugend von Volker Schopf



Fürchten Sie sich vor dem Alter? Falten um die Augenwinkel? Haarausfall?
Ermüdet die Arbeit Sie schneller als gewohnt? Nicht mehr jung und dynamisch genug für den Arbeitsmarkt? Fühlen Sie den Atem der Jugend in ihrem Nacken?
Und was tun Sie dagegen? Fitnessstudio? Regelmäßige Spaziergänge in der frischen Natur? Gesunde Ernährung? Oder gehören Sie zu denjenigen, die sich mit dem Älterwerden abfinden und sich mit philosophischen Fragen beruhigen?
Alter, körperlicher Verfall, Siechtum und Tod – muss ich diesen Weg gehen? Oder gibt es Hoffnung?
Die Therapie steht für unsterbliche Jugend. Fluch oder Segen?

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (5)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Zwischenmenschliches" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Anna Osowski

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Wie ein Krieg entsteht... von Anna Osowski (Parabeln)
Es menschelt in Manhattan von Rainer Tiemann (Zwischenmenschliches)
Pilgertour IV. von Rüdiger Nazar (Abenteuer)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen