Gerda Schmidt

Das Foto

Jedes Jahr das gleiche. Thomas wusste nicht was er seiner Freundin zum Geburtstag schenken sollte. Julia wurde nächste Woche 25 Jahre alt. Sie hatte alles, was man brauchte und vieles mehr. Trotzdem war sie stets unzufrieden und wünschte sich dann genau das Gegenteil. Den Kleiderschrank konnte sie bald nicht mehr schließen, so quoll er schon über vor ständig neuen Einkäufen. Doch nie hatte sie etwas passendes zum Anziehen. Der Schmuck, den sie trug, konnte sie nur für kurze Zeit erfreuen, bis sie im Schaufenster etwas neues fand. Den Cluburlaub, den sie unbedingt erleben wollte, war ihr im Feriendorf zu langweilig und die schicke Designer-Couch war viel unbequemer als es die Werbung versprach. Womit konnte man so einen Menschen noch erfreuen?

Thomas kannte das Gefühl der Unzufriedenheit nicht. Er arbeitete als Programmierer in einer großen Firma. Seine Arbeit verlangte eine Menge Konzentration, was er aber locker bewältigte. Schon als Kind hatte er gelernt sich länger mit einem Spiel zu beschäftigen, da sein Vater darauf achtete, dass er nicht zu viele Spielsachen hatte. Das kam ihm im Beruf zugute. Seine beiden Hobbes profitierten ebenfalls von seiner konsequenten Art. Als Amateurfotograf hatte er schon bei einigen Fotowettbewerben gut abgeschnitten und durfte selbst Tipps über Belichtungszeiten oder Blendenvorwahl erteilen. Das konnte er nur, weil er sich die Kameraeinstellungen notierte und durch diese Buchführung selbst viele Erfahrungen gesammelt hatte. Als begeisterter Sportler ging er dreimal wöchentlich ins Squashtraining, zumal er das auch alleine üben konnte, wenn einmal kein Spielpartner zur Verfügung stand.

Julia wurde als Kind sehr verwöhnt und die Verwandtschaft überhäufte sie mit Geschenken und Spielzeug. Als Teeny war für sie der Wert eines Geschenkes wichtiger das Geschenk selbst. Sie verband damit automatisch ihren eigenen Wert. Irgendwann nahm das alles überhand und sie hatte stets nur noch kurz Freude an Neuem und ihre Unzufriedenheit wuchs. Sogar ihre Arbeit litt an der Fähigkeit sich länger mit etwas zu beschäftigen und sie gab ihre Resultate oft mit Verspätung ab. Wenn sie abends nach Hause kam, machte sich ihr Freund Thomas meistens parat für sein Training oder er arbeitete an seiner Fotoverwaltung. Sie konnte es nicht verstehen, wie sich jemand freiwillig solche Arbeit aufhalste, wenn er in der selben Zeit faulenzen könnte. Sie waren beide sehr verschieden, verstanden sich aber ansonsten sehr gut. Sie hörten die gleiche Musik, hatten den gleichen Geschmack, sowohl kulturell als auch kulinarisch und diskutierten gerne über Philosophie und Literatur. Thomas war ein zufriedener und ausgeglichene Mensch. Im Gegensatz zu ihm trieb sie unzufrieden hin und her und fühlte sich nicht gefordert.

Seit einigen Tagen fragte Thomas Julia immer wieder, was sie sich zum Geburtstag wünsche. „Och, da hätte ich eine endlose Liste, die ich bis zu dem Tag nicht mal halb aufgezählt hätte.“ Er ärgerte sich über diese Antwort und wollte sie schon anfahren , dass sie nie genug bekäme. Da fiel ihm etwas dazu ein. „O.K., schreib mir eine Liste mit 100 Wünschen. Wenn Du weniger als 80 Wünsche zusammen bekommst, schenke ich Dir nichts. Es dürfen keine ähnlichen Wünsche sein. Das dürfte jedoch bei einer endlosen Anzahl wohl kein Problem sein.“ Er drehte sich um und ließ sie alleine in der Küche stehen. Julia war sprachlos. Sie schwankte zwischen Beleidigtsein und Verwunderung hin und her. So hatte Thomas noch nie mit ihr geredet. Er gab immer nach oder ging auf sie ein. Das war heute anders. Nachdem sie die Wohnungstür ins Schloss fallen hörte, rief sie bei ihrer Mutter an und erzählte ihr, was passiert sei. „Was ist denn in ihn gefahren? So kann er doch nicht mit meinem Schatz umgehen. Julia, wenn ihr Probleme miteinander habt, komm sofort zu Papa und mir nach Hause.“ Julias Mutter konnte es nicht ertragen, wenn jemand ihre Tochter ungerecht behandelte und das lag in diesem Falle eindeutig vor. Nach weiteren 5 Minuten des Schimpfens ging Julia gekränkt ins Bett. Sie hörte nicht als Thomas erst mitten in der Nacht aus dem Entwicklungslabor heimkam.

Am Frühstückstisch konnte man die Spannung zwischen den beiden noch spüren. Deshalb begann Thomas das Gespräch. “Julia, gestern, das war mir ernst. Wenn Du so viele Wünsche hast, dann nenne sie mir konkret beim Namen. Ich wollte nur einen wissen, aber Du warst nicht einmal dazu in der Lage Dich spontan darüber zu äußern.“ Während er sie ansah, rührte er ihr wie immer den Kaffee mit der Milch um, bevor er seine Tasse bediente. „Werde Dir doch einmal darüber klar, was Du überhaupt willst. Wenn Du es nicht weißt, wie soll ich es dann wissen. Setz Dich heute hin und schreibe eine Liste. Dann wirst Du vielleicht entdecken, was Du davon wirklich haben möchtest.“ Julia dachte einen Moment nach und musste ihm insgeheim Recht geben. Sie hatte viele Wünsche, doch sie zu formulieren, war eine andere Sache. Nur ihr Stolz wollte es nicht zulassen jetzt klein beizugeben. Thomas fuhr fort. „Egal wie viele Dinge Dir einfallen, probiere doch einmal dahinter zu schreiben, wofür Du sie benötigst oder was Du damit machen willst.“ Er führte ihr noch einige Beispiele aus der Vergangenheit vor. „Du wolltest letztes Jahr zu Weihnachten Software zum Herstellen von Visitenkarten. Doch bis heute hast Du Dich nicht einmal mit dem Programm vertraut gemacht. Auch die teuren Radlerhosen liegen originalverpackt im Schrank. Nicht einmal den dringend notwendigen Ice Crusher hast du jemals verwendet. Wir wissen bald nicht mehr wohin mit dem Zeug.“ Liebevoll strich er ihr über die Wange und schaute sie dabei fragend an. Endlich war sie bereit ihm zu antworten. „Bis jetzt hatte ich noch keine Zeit das zu benutzen. Aber demnächst werde ich eine Radtour unternehmen. Dann ziehe ich die Hose an und heute Abend können wir uns einen Cocktail mixen.“ Julia lächelte Thomas an und versprach ihm, heute Nachmittag eine Liste anzufertigen, dass ihm hören und sehen verging. Samstagnachmittag hatte sie Zeit und Muße dazu.

Während Thomas saugte, putze Julia die Fenster und bügelte die Wäsche. Dabei überlegte sie sich, was sie schreiben sollte. Nach der Hausarbeit setzte er sich an den Computer im Wohnzimmer und widmete sich seinen Fotos, die er noch einscannen wollte und dann beschriften musste. Julia legte sich mit einem Block auf die Couch und nahm sich viel Zeit für die Auflistung. Sie hatte bereits 8 Wünsche notiert, als sie sie nochmals durchlas.

1. Eine digitale Videokamera
2. eine Edelstahl-Espressomaschine
3. eine digitale Fotokamera
4. einen Flachbildschirmfernseher
5. einen schwarzen Hosenanzug
6. einen Beamer
7. ein Saecco-Kaffeemaschine
8. eine schwarze Hose

Ihr fiel auf, dass die Liste bereits jetzt schon mehrere ähnliche Wünsche enthielt. Dabei hatte sie schon jetzt Mühe sie zusammen zu bekommen. Die digitale Videokamera machte auch Einzelaufnahmen und mit dem digitalen Fotoapparat konnte man bis zu 2 Minuten filmen. Oft filmte sie sowieso nicht. Der Flachbildschirmfernseher hatte eine Bildröhre von 148cm, so dass ein Beamer eigentlich überflüssig wäre. Die Saecco-Kaffeemaschine brühte genauso guten Espresso wie die große Espressomaschine, die sie nur wegen des Designs wollte und außerdem hatten sie bereits eine guten und teuren Jura-Automaten. Ein dritter schwarzer Hosenanzug wäre zwar schick, aber sie hatte einen der beiden anderen Anzüge bis jetzt noch nicht einmal getragen. Die schwarze Hose hatte das Alibi auferlegt bekommen, dass sie nötig sei, um die beiden Teile eines Anzuges nicht durch separates Tragen unterschiedlich abzunutzen. Unentschlossen, wie sie jetzt weitermachen sollte, stand sie auf um einen Kaffee zu kochen. Sie deckte den Tisch und legte zwei Stück Kuchen auf jeden Teller. Dann rief sie Thomas. Während der Kaffeepause unterhielten sie sich wie früher und hatten Spaß dabei. Thomas wollte wissen, wie weit Julia mit ihrer Liste sei. „Ich komme gut voran, aber es liegt jetzt ein weiter Weg vor mir.“ Thomas verstand zwar die Antwort nicht ganz, fühlte aber, dass es besser war, jetzt nicht weiter zu fragen. Als sie den Tisch abgeräumt hatten, bat er sie, ob sie ihm bei ein paar Fotos helfen könnte. Julia war gerne bereit ihm unterstützend unter die Arme zu greifen. Sie hatte einen leichten Schreibstil, mit dem sie ihm schon öfter Fotos für einen Vortrag kommentiert hatte, mal witzig, mal locker, mal seriös. Leider nutzte sie diese Fähigkeit sonst nie.

Auf dem Computertisch lagen mehrere Fotos, die auf ein paar Sätze zur Beschreibung warteten. Julia betrachtete sie genau und spontan fiel ihr ein Text dazu ein. Es sollte ein Beispiel für eine Fotostory sein. Das Thema war Regen. Sie setzte sich an die Tastatur und begann zu schreiben.
Auf dem Bild konnte man eine Familie sehen, die aus dem Auto stieg und ein Ferienhaus betrat. Es regnete in Strömen. Julia schrieb:

Die Familie hatte sich auf eine schöne Ferienzeit vorbereitet. Alle waren aufgeregt und freuten sich auf das Ferienhaus am Meer. Nachdem sie sich durch den regen Verkehr in der Stadt gekämpft hatten, erreichten sie das einsame Haus an der Küste. Bis hierher hatte sie der Regen begleitet. Alle stiegen aus und zogen ihre obligatorischen Regenjacken an. Dann betraten sie das Haus, in dem neben dem Kamin meterhoch das Brennholz gestapelt worden war. Der Vater meinte zufrieden zu seiner kleinen Schar: Regen bringt Segen. Dann ließ er...

Etwa zwei Stunden schrieb Julia an einer Geschichte, die alle Wetter, Launen und Personen mit einbezog. Thomas wollte sie nicht stören. Auf dem Weg in die Küche sah er ihre Liste auf dem Tisch liegen. Er konnte nichts darauf lesen, selbst wenn er sie in die Hand genommen hätte. Alles war durchgestrichen. Jetzt glaubte er verstanden zu haben, was sie vorhin meinte. Als Julia fertig war, erinnerte sie sich schlagartig daran, dass sie eigentlich nur seine Fotos beschreiben sollte. Das tat sie nun schnell und es lief ihr leicht von der Hand.

Thomas fragte Julia nicht mehr nach ihren Wünschen. Er legte ihr am Morgen des Geburtstages zwei Geschenke auf den Frühstückstisch. Die kleine samtausgeschlagene Schatulle enthielt nicht wie anzunehmen einen goldenen Ring sondern eine kleine Papiertüte. Beim Öffnen fiel ein weißer Stein heraus. Ein Mondstein. Es war der Glücksstein seiner Freundin Julia. Das andere selbstverpackte Geschenk, dass in Form eines japanischen Kimonos gefaltet war brachte ein großes Buch im DIN-A4-Format zum Vorschein. Es enthielt 120 leere Seiten. Nur auf die erste Seite hatte Thomas ein Foto geklebt, das ein rotes Fahrrad neben einem Weizenfeld mit rotem Klatschmohn und blauen Kornblumen zeigte. Der Weg führte lange und gerade bis zum Horizont. Julia schaute Thomas nachdenklich an. Dann nahm sie ihren alten Füllfederhalter, an dem sie sehr hing, in die Hand und schrieb unter das Foto in großen Buchstaben: Mein Weg zu mir.

http://www.eulenschreibkleckse.de/

http://www.autoren-im-netz.de/Gerda Schmidt, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.03.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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