Carrie Winter

DU gehörst nur DIR

Eliza stand auf dem Balkon ihres Hauses und sah hinunter in den Garten, der von kleinen Schneeflocken verziert wurde und dadurch genauso schön aussah wie im Sommer, wenn alle Pflanzen in voller Blüte standen.
Jeden anderen hätte dieses Bild zum Lächeln gebracht, aber nicht Eliza. Ihre roten Lippen pressten sich fest aufeinander, ihre dunklen Augenbrauen waren zusammengezogen und ihre Stirn war in Falten gelegt. Sie sah aus, als hätte sie gerade auf eine Zitrone gebissen.
Und natürlich blieb das dem jungen Mann, der ebenfalls auf dem Balkon stand, nicht verborgen. Er musterte sie mit einem fachmännischen Blick und schätzte die Lage ein.
Nach ein paar Minuten des weiteren Schweigens sagte er schießlich: „Wenn du so weitermachst, musst du in einem Jahr Gift in dein Gesicht spritzen lassen.“
Sie wandte sich zu ihm und sah ihn vollkommen verblüfft an. „Was?“
„Du könntest natürlich auch deine Nerven entfernen lassen. Dann kannst du auch keine Falten bekommen. Allerdings kannst du dann auch nicht mehr lächeln. Obwohl...“
Er warf ihr einen belustigen Blick zu und beendete den Satz: „...das wäre bei dir wohl nicht weiter schlimm. Ich kann mich sowieso nicht mehr daran erinnern, wie dein Lächeln aussieht.“
„Ich finde dein Verhalten einfach unmöglich.“ zischte sie und wollte zurück ins Haus gehen, aber er hielt sie am Arm fest.
„Soll ich dir mal verraten, warum dich keiner mehr anfassen will?“ fragte er plötzlich und ließ sie los, während auf seinem Gesicht ein Ausdruck von Ekel lag.
Ohne auf ihre Antwort zu fragen, erklärte er: „Es ist zu schlimm. Es ist so, als würde man einen Knochen anfassen! Wo ist bitte schön deine Haut? Deine Muskeln?“
„Findest du das etwa komisch?“ fragte sie und in ihren blauen Augen blitzte es.
„Nein. Ich finde es einfach nur traurig.“ antwortete er ernst.
„Weißt du, was ich traurig finde? Das ein erwachsener Mann wieder bei seiner Mutter wohnt, weil er es nicht schafft, eine Ehe zu führen!“
Eliza hatte erwartet, dass er wutentbrannt davon stürmen würde, aber das tat er nicht.
Er blieb vollkommen gelassen stehen und erklärte: „Lieber trenne ich mich von einer Frau, die ich nicht liebe, als mit ihr zusammen zu bleiben und dafür mit dem Leben zu bezahlen.“
„Was soll denn das nun wieder heißen?“ fragte sie gereizt.
„Ich bin nicht so wie du. Ich kann nicht so tun, als würde ich einen Menschen lieben, wenn es doch in Wahrheit nur sein Geld ist, das ich will.“
„Wie kannst du es wagen, so mit deiner Mutter zu reden? Ich liebe deinen Vater! Ich verbiete mir die Unterstellung, dass ich es nur auf sein Geld abgesehen habe!“ schrie sie ihn an.
Er schüttelte traurig den Kopf.
„Du wohnst in diesem Haus, um das dich jede Frau in London beneidet. Du fährst in einer Limousine, die größer ist, als die der Queen. Du kaufst dir jeden Tag neue Kleider und ziehst nichts zwei Mal an. Du verweigerst jegliche Nahrung, um nicht Gefahr zu laufen, zu zunehmen. Und jetzt möchte ich dir eine Frage stellen: Für wen tust du das alles?“
„Für wen wohl?“ fragte sie höhnisch. „Für mich natürlich!“
„Wenn du das wirklich für dich tust, dann musst du dich selbst hassen.“
Mit diesen Worten ging er und ließ Eliza alleine auf dem Bakon zurück.
Vielleicht war es nicht richtig gewesen, ihr so direkt zu sagen, was er von ihr hielt.
Aber es hatte einfach rausgemusst! Seit Jahren sah er mit an, wie sie sich selbst quälte und versuchte, glücklich auszusehen, obwohl sie es nicht war. Und als er erfahren hatte, dass sie zum Schönheitschirugen gehen wollte, war das Fass einfach übergelaufen.
Wenn er es ihr nicht jetzt gesagt hätte, dann hätte er es nie getan. Und irgendjemand musste Eliza doch darauf hinweisen, dass sie ein schreckliches Leben führte!
„Warte!“
Überrascht drehte er sich um und sah Eliza vor sich stehen. Sie war ihm anscheinend nachgelaufen, nachdem er so rasch gegangen war.
Er machte sich darauf gefasst, einen Schwall von Beleidigungen an den Kopf geschmissen zu bekommen, aber stattdessen sagte Eliza leise: „Was du gesagt hast...Du hast Recht. Mit allem.
Und...Ich tue das nicht für mich. Früher habe ich es mal getan. Ich dachte, dass es mir gefallen würde, von allen bewundert und beneidet zu werden. Aber ich habe gemerkt...“
Sie brach ab und sah ihm direkt in die Augen.
Überrascht stellte er fest, dass sie weinte. Er versuchte, sich daran zu erinnern, wann er sie das letzte Mal weinen gesehen hatte, konnte es aber nicht.
„Ich werde nur bewundert, wenn ich die Frau deines Vaters bin. Oder wenn ich die Käuferin von Designer Kleidung bin. Oder wenn ich die Eingeladene der Queen bin. Ich werde nie bewundert, wenn ich ICH bin. Und...Ich will ICH sein! Ich hasse die Frau deines Vaters und ich hasse die Käuferin und ich hasse...“
Der Rest ihres Satzes ging in Schluchzen unter.
Einem Impuls folgend nahm er sie in den Arm und strich ihr beruhigend über den Kopf.
„Es ist vorbei. Du wirst nie wieder Jemand anders sein müssen. Du kannst jetzt DU sein.“
„Wirklich?“ Zweifelnd sah sie ihn an.
„Wenn du es willst, dann kannst du es. Du bist frei. Und es liegt in deiner Macht, über dich zu entscheiden. Denn du gehörst nur dir.“





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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.03.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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