Klaus Eylmann

Irma

“Heinz, dieser nette... .” Irma sah ihr blasses, müdes Gesicht im Spiegel und rief: “Um Himmelswillen, wie seh ich denn aus!”, lief ins Bad und griff nach der Puderdose.
“Heinz, dieser nette Mann aus dem Ballhaus Barmbek, ich sehe ihn heute abend wieder.”
Sie setzte sich zu ihrem Sohn an den Tisch, der mit missmutigem Gesicht Bohnensuppe in sich hinein löffelte. Die Küche schrumpfte unter seiner massigen Gestalt. Der große runde Kopf mit dem braunen Gesicht. Heinz war zwanzig, sah aus wie dreißig. Vom wem hatte er das? Sie, Irma, war vierzig. Sah sie älter aus, als sie wirklich war? No way, no way!, hat ihr Amifreund vor zwanzig Jahren gesagt, dann verschwand er und hinterließ ihr einen Sohn, braun wie er.
“Heinz, Frau Linsenmeier. Du weißt doch, meine Kollegin, deren Schwager in der Oper arbeitet. Sie hat zwei Karten für die Ballettprobe heute abend besorgt. Tschaikowskis Nussknacker. Den magst du doch so gern.” Irma schob die Karten über den Tisch. “Ich habe Karin angerufen. Sie wird mit dir dahin gehen.”
“Kann ich dein Auto haben?”
Irma schüttelte den Kopf. “Das geht nicht. Ich will mich nicht nach Haus bringen lassen. Heinz, das musst du einsehen. Wir treffen uns erst das zweite Mal. Aber er wird dir gefallen. Peter arbeitet im Ortsamt.” Heinz wasserblaue Augen sahen durch sie auf die geblümte Tapete. So schien es. Und seine Pupillen...!
“Hast du wieder was genommen? Und hast du dein Ballett-Trikot wieder an? Du hast doch versprochen, damit aufzuhören. Ich möchte das nicht noch mal mit dir durchmachen.”
Heinz steckte die Karten ein und ging.
Irma goß den Rest der Suppe in ihren Teller. Die Sirene eines Krankenwagens, das Geräusch von Autos, Bussen. Gedankenverloren führte sie den Löffel zum Mund. Peter... Ihre Kolleginnen würden auch da sein, mit schräg aufgesetzten Perücken, am immergleichen Tisch, lauernd auf die nächste Damenwahl.
Vor dem Spiegel strich sich Irma das geblümte Sommerkleid über ihren Hüften glatt, sprühte Veilchenparfüm in den Ausschnitt, setzte ein Lächeln auf, griff nach der Handtasche, warf den Kopf in den Nacken und machte sich auf den Weg.

Acht Uhr morgens am Tag darauf. Irmas Schädel brummte. Sie saß vor ihrem Kaffee und kicherte. Ihre Kolleginnen, wie sie getuschelt haben, als sie mit Peter eng umschlungen an ihrem Tisch vorbei tanzte. Sekt Hausmarke. Sie hatte einen schlechten Geschmack im Mund. Wieviel Gläser? Wo hat sie ihren Wagen abgestellt? Sie würde wohl wieder um den ganzen Block herum laufen müssen.
Peter, so rücksichtsvoll. Er duftete gut. Ein solider Mann, bearbeitete An- und Abmeldungen von A – F. Heinz. Sie war Karin so dankbar, dass sie sich um ihn kümmerte. Nun hatte er doch etwas anderes als die Kiff-Bude ‘Sahara’ im Kopf.

Heinz kam erst am Sonnabend Morgen nach Haus. Sein Gesicht war fahl. Irma ahnte, er war auf dem Kiez gewesen. Nein sie wusste es.
“Zieh dich an. Karin hat angerufen, du sollst sie um zehn Uhr am Museum für Völkerkunde treffen. Du kannst da auch was essen.” Irma rieb sich nervös die Hände und sah auf die Uhr.
“Nimm den siebenunddreißiger Bus. Der geht in zehn Minuten.” Heinz polterte die Treppe hinab. Sie blickte aus dem Fenster. Menschen standen vor dem Fahrplan der Haltestelle. Sonnabend-Abfahrtzeiten brachten ihr Gehirn zum Überlaufen. Heinz saß auf der Bank und stützte den Kopf in die Hände. Kugelkopf. IBM-Schreibmaschine. Zweihundertzehn Anschläge pro Minute und ohne Fehler. Dann kamen das Karpaltunnel Syndrom und Heinz. Irma musste aussetzen. Und irgendwann wurde sie Verkäuferin bei Woolworth.
Der dreiundsiebziger Bus kam heran und Heinz sprang hinein.
Irma öffnete das Fenster und schrie: “Siebenunddreißiger nicht dreiundsiebziger!” Dann fuhr der Bus ab. Irma ging in Heinz Zimmer und öffnete den Wäscheschrank. Das Ballett-Trikot fehlte.
Später fragte Karin am Telefon: “Wo ist er?”
“Er hat den dreiundsiebziger genommen.”
“Der fährt doch zum Tierpark Hagenbeck!” Irma legte auf, zwang sich, an Peter zu denken. Diesmal noch würde sie allein nach Haus fahren. Nächsten Mittwoch...
Sie zog sich das Geblümte über, stieg in ihre Pumps und griff nach der Handtasche, als es an der Tür klopfte.
“Frau Striebel, ist das Ihr Sohn?” Irma nickte. Zwei Polizisten hielten Heinz in ihrer Mitte.
“Hier haben Sie ihn zurück. Er hüpfte in einem Ballett-Trikot vor dem Gorillakäfig herum. Der Wärter hat uns angerufen. Zu dieser Zeit waren nur Affe, Wärter und Ihr Sohn am Platz, sonst hätte es eine Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses gegeben.”
Irmas Finger krampften sich um die Handtasche, als die Polizisten verschwanden. Sie sah an Heinz vorbei und sagte: “Ich gehe jetzt.”

Am Tag darauf fasste sie den Entschluss, nicht bis zum nächsten Mittwoch zu warten. Sie wollte es einfach nicht. Es war Sonntag, und sie lud Peter zu sich in die Wohnung ein. Und Heinz würde zu Karin fahren. Irma ging mit ihrem Sohn zur Haltestelle und setzte ihn in den richtigen Bus.
In der Wohnung lief sie hin und her. Stundenlang. Würde Peter kommen? In Heinz Wäscheschrank fehlte das Trikot.
Es klingelte. Zwei Mal. An der Tür, das Telefon. Irma riss die Tür auf, drückte auf den Knopf, der den Hauseingang öffnete und lief zum Telefon.
“Ja?” Es dauerte eine Zeit, bis sie wieder etwas sagen konnte. Jemand rief: “Hallo, ist da jemand?” “Hallo!”
Langsam legte Irma den Hörer auf die Gabel und ging ebenso langsam zum Korridor, griff nach ihrer Handtasche, ließ die Wohnungstür hinter sich zu fallen und lief an dem dürren, bebrillten Mann vorbei, der mit einem Nelkenstrauß vor der Tür stand und ihr nachsah. Dann rannte er hinter ihr die Treppe hinab.
“Irma, was ist?”
“Es ist was passiert.”
“Was?”
“Mit Heinz.”
“Wer ist Heinz?”
“Mein Sohn.”
“Du hast einen Sohn?”
Irma lief zum Straßenrand und stieg in ihren alten Ford. Peter ließ sich in den Beifahrersitz fallen.
“Ich komme mit. Warum hast du mir nicht von deinem Sohn erzählt?”
Irma hörte nicht, wie Peter rief: “Fahr nicht so schnell. Du bekommst einen Strafzettel.”
Sie hielt am Blumenkamp, hastete aus dem Auto und lief in das Haus hinein. Eine Wohnungstür war angelehnt. Auf dem Schlafzimmerteppich lag eine Frau.
“Karin!” Irma ging vor ihr in die Hocke. “Ist sie tot?”
“Ich-ich weiß nicht”, stammelte Heinz. Speckfalten beulten das Trikot aus, in dem sein Rumpf wie eine Riesenwurst auf dicken Beinen neben dem Bett stand.
“Sie ist mit mir ins Schlafzimmer gegangen und hat mir gesagt: “Zieh dich aus.” Dann hat sie gelacht und gelacht und gelacht und...”
“Was ist denn hier los!?” Was ist mit der Frau und wer sind Sie?” Peter zeigte mit dem Finger auf Heinz.
“Ist das etwa dein Sohn? Das ist ja ein..”
“Schwarzer”, vollendete Irma den Satz. “Heinz zieh dich an!”, rief sie und an Peter gewandt: “Fass mal mit an. Tragen wir sie weg.”
“Aber - aber”, stotterte Peter, “das geht doch nicht. Wir müssen die Polizei anrufen.”
“Irma griff der Toten unter die Arme, zog sie aus der Wohnung heraus und schleifte sie die Treppe hinunter. Es waren keine Passanten zu sehen. Sie lehnte Karin gegen den Wagen und öffnete den Kofferraum. Peter stürzte aus dem Haus.
“Das muss doch alles seine Ordnung haben. Ihr könnt doch nicht mit der Leiche verschwinden!” Er wandte sich um: “Ich rufe die Polizei.”
“Whack!” Peter lag auf dem Fußweg. Seine Augen starrten leblos zum Himmel empor. Irma warf die Schaufel in den Kofferraum. Heinz kam aus dem Haus. Ohne ein Wort zu sagen, legten Irma und ihr Sohn die beiden Toten dazu.

Sie sagten auch nichts, als sie aus der Stadt fuhren. Dann konnte Irma nicht mehr länger an sich halten: “Ich hatte die beiden Schaufeln im Kofferraum gelassen. Ich habe es doch geahnt. Es musste ja so kommen. Peter war ein so netter Mann, aber ich konnte ihn doch nicht die Polizei anrufen lassen. Was soll ich denn meinen Kolleginnen erzählen, wenn sie ihn nun nicht mehr sehen?” Heinz starrte geradeaus und zuckte nervös mit den Beinen.
“Und Karin. Meine beste Freundin. Mit Dir ins Bett. Schämte sie sich denn gar nicht. Sie war so viel älter als du. Aber dennoch. Die Mühe, die sie sich gegeben hat, aus dir einen halbwegs gebildeten Menschen zu machen. Was hab ich denn falsch gemacht, dass du dich so verhältst?” Irmas Hände zitterten am Lenkrad. “Heinz, ich habe Angst.”

Ein runder Mond badete die Kiesgrube in silbernem Licht. Der Wagen fuhr an die dem Bagger abgewandte Seite. Sie stiegen aus, öffneten den Kofferraum und warfen die Leichen in den Sand. Der Schatten, den der Mond warf, verschluckte die beiden. Es blieb friedlich und ruhig, bis auf hypnotisch rhythmisches Schaufeln, einen dumpfen Schlag und Irmas weinerliche Stimme.
“Heinz, ich habe dir gesagt, ich mach das nicht noch einmal mit. So lieb ich dich hatte, aber dieses war ein Mal zuviel.”
Irma arbeitete weiter, machte eine Pause, um Atem zu holen, stützte sich auf die Schaufel und ließ ihren Tränen freien Lauf. Dann schaufelte sie so lange, bis alle drei Körper unter dem Kies lagen, ging zum Wagen, legte die beiden Schaufeln in den Kofferraum zurück und fuhr erschöpft nach Haus.














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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.03.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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