Günter Schrön

Telak besiegt den Wächter der Tiefe

Es war Telak, der mit seinen scharfen Augen als erster den auf die Insel zulaufenden Katamaran draußen auf der See sah. "Erkennst du ihn, Häuptling?" fragte er den alten Nagoon, der ebenfalls angestrengt zum Horizont blickte.

"Es muß etwas geschehen sein", sagte der Häuptling, und leise Sorge klang in seiner Stimme, während er unverwandt auf die See sah. Als der Katamaran in die Lagune einfuhr, erkannte Telak, daß das Schiff von Gawun gesteuert wurde. Dem anschließenden Landemanöver an dem Sandstrand vor den Palmen fehlte die gewohnte Sicherheit und Eleganz, mit dem Tabor sonst das Schiff auf den Strand setzte.

Nagoon, er hatte sich inzwischen im Schatten vor seiner Hütte niedergelassen, fragte: "Wo ist Tabor?" als Gawun an der Spitze der Perlenfischer vor ihm hintrat.

Frauen und Kinder hatten sich bereits um sie geschart, als Gawun mit der nötigen Ehrerbietung in der Stimme, leise, aber deutlich von allen zu hören, sagte: "Der Wächter der Tiefe hat Tabor geholt." In einiger Entfernung erklang ein heller Ruf des Schreckens, sonst nichts. Es war Samrei, Tabors Tochter.

"Ein aufrechter Freund, ein mutiger Mann und ein wertvoller Ratgeber ist von mir gegangen", sagte Nagoon leise und damit war der ersten Trauer Genüge getan. Auf Niihau war es üblich, der Toten erst zu gedenken, wenn der Mond seine dritte Bahn über den Himmel gezogen hatte.

"Folge mir, Telak", sagte der Häuptling entschieden und zog sich in seine Hütte zurück.

Als Telak die Hütte betrat, wandte Nagoon ihm den Rücken zu und als er sich nach einer Weile dem jungen Mann wieder zuwandte, hielt er ein Messer in der Hand, wie Telak es noch nie gesehen hatte. Nagoon hockte sich auf die Palmfasermatte und bedeutete Telak, sie ihm gegenüber niederzulassen. "Viele Jahre hat sich der Wächter der Tiefe nicht mehr gezeigt", sagte der Häuptling mit leiser Stimme, während er dabei prüfend mit dem Daumen über die scharfe Schneide des Messer fuhr, "aber da er nun wieder da ist, muß sich einer von uns ihm zum Kampf stellen."

Schweigend, aber fordernd streckte Telak die Hand nach der Waffe in Nagoons Händen aus. Abweisend hob der alte Mann das Messer an die Brust. "Das Ungestüm der Jugend", meinte er mißbilligend, "ist deine größte Schwäche. Es ist eigentlich die Aufgabe des Häuptlings", sagte er nach einiger Zeit die er nachdenklich schweigend verbracht hatte, "aber ich bin zu alt für einen solchen Kampf, und es bleibt keine Zeit, einen neuen Häuptling zu wählen."

Das Rauschen der Brandung, in der sich die Wellen außerhalb der Lagune brachen, klang durch eine Fensteröffnung herein, während Nagoon überlegte.

"In drei Tagen kommen die Händler mit den Wasserfahrzeugen", sagte er dann, "um den Fang der Perlenfischer aufzukaufen, und wir haben noch nicht soviel gefangen, um unsere Vorräte bis zu nächsten Jagdzeit bezahlen zu können."

Dann meinte Nagoon noch, daß sie auch nicht draußen im Meer fischen könnten, so lange der Wächter dort noch lauern würde. "Ein Häuptling sollte nicht so alt werden wie ich", sagte er müde lächelnd. "Es fällt mir schwer, dich als Kämpfer für den Wächter zu bestimmen, Tabor hat mir erzählt, daß du für Samrei eine Hütte bauen willst."

"Ich werde Tabor rächen", sagte Telak bestimmt. "Rache ist eine schlechte Grundlage für den Kampf mit dem Wächter", flüsterte Nagoon mißbilligend. "Du sollst mit ihm kämpfen, weil du um Samreis und dein Leben kämpfst und auch dafür, daß wir alle hier auf Niihau so weiterleben können wie bisher."
"So werde ich kämpfen", sagte Telak fest.

Nagoon legte das Messer zur Seite und zog seine Tabakpfeife zu sich heran. "Vor vielen Jahren, ehe ich Häuptling wurde", erinnerte er sich, lächelnd den hellen Tabak in die Pfeife stopfend, "habe ich selber einmal gegen einen Wächter gekämpft und ihn besiegt."

"Du bist ein ausdauernder Taucher", fuhr er fort, nachdem er den Tabak entzündet und eine blaue Wolke aromatischen Rauchs zur Decke geblasen hatte. "Du hast Mut und bist klug, deshalb glaube ich, daß du den Wächter besiegen und töten kannst und du mußt ihn töten, wenn du ihn nur verjagst, dann kommt er zurück."

"Du mußt mir sagen, was ich tun soll", meinte Telak.
"Der Wächter ist ebenfalls klug", erklärte Nagoon, während draußen die Sonne schnell im Meer versank. "Er ist stärker als du, man sagt, daß er einen Hai in der Mitte zerreißen kann, und er braucht nicht tauchen zu können, denn er kommt aus den tiefsten Tiefen des Meeres."

"Man sagt, daß der Wächter so groß wie ein Mensch ist und acht Arme hat?" fragte Telak. "Es gibt Wächter, die sind so groß wie drei Menschen", bestätigte der Häuptling, "und ihre Arme sind stärker als deine Oberschenkel."

Nagoon erzählte an diesem Abend noch viel von den Wächtern der Tiefe, welche aus unerfindlichen Gründen in langen und unregelmäßigen Zeitabständen aus der ewigen Nacht der Tiefsee an die Oberfläche kamen und die Menschen in Angst und Schrecken versetzten. Die Menschen hatten nur die Wahl, sich den Wächtern zum Kampf zu stellen und sie zu vernichten oder ihren Lebensraum aufzugeben und in eine Welt zu fliehen, welche ihnen wesensfremd war. "Es hat keinen Sinn zu fliehen, wenn der Wächter angreift", sagte Nagoon leise und nahm wieder das Messer mit der breiten, langen und scharfen Klinge in die Hand. "Mit diesem Messer bist du ihm überlegen, wenn er dich packt. Wehre dich nicht gegen die Kraft seiner Arme, du bist ihnen ohnehin nicht gewachsen. Laß dich so schnell wie möglich in die Nähe seines Kopfes bringen, aber hüte dich vor seinem scharfen Maul, mit dem er dich in Augenblicken zerreißen kann."

Nagoon hob das Messer, dessen Schneide im Mondlicht silbern glänzte. "Sieh zu, daß du an eines seiner Augen kommst", sagte er völlig ruhig, "und dann stoße zu!"

Der Häuptling trieb das Messer in den festgestampften Boden, wo es ohne Geräusch bis zum Heft verschwand.

"Nur wenn du durch sein Auge die Waffe bis in das Gehirn treibst", sagte er, "dann hast du eine Chance, den Wächter zu töten."

"Ich werde ihn töten", sagte Telak fest und zog die Waffe aus dem Boden. "Du solltest zu Samrei in Tabors Hütte ziehen", lächelte der alte Häuptling.

Das Licht des Mondes ließ das Messer an Telaks Hüfte kalt glänzen, als er sich mit festen Schritten auf dem Weg zu Tabors Hütte befand.

Die warmen weichen Wellen der See schlugen über Telaks Körper zusammen, als er bereits am frühen Morgen mit einem gewaltigen Kopfsprung an jener Stelle in das Meer sprang, wo der Wächter am Tage zuvor Tabor in sein dunkles Reich geholt hatte.

Mit kräftigen Armstößen das Wasser teilend und sich mit Fußstößen vorwärtstreibend, sicherte er die in Frage kommenden Stellen des Riffs und beobachtete aufmerksam das Wasser unter sich. Der Schattenriß des Katamarans über ihm, wo die Männer seines Stammes auf sein Auftauchen warteten, war in dieser Wasserwelt die einzige Verbindung zu seiner Welt.

Telak war ein geübter Taucher und konnte lange Zeit unter Wasser bleiben, dennoch mußte er dreimal auftauchen, ehe er die nähere Umgebung abgesucht hatte.

Beim vierten Mal verspürte er plötzlich eine leichte Berührung an der linken Schulter. Es war, als hätte ihn ein Tentakel gestreift. Blitzschnell fuhr Telak herum und streckte das Messer vor. Aber es war nur eine Streifenbarbe, welche erschrocken das Weite suchte, als sie sah, was sie da angerichtet hatte. Wieder tauchte Telak auf, um neue Luft zu schöpfen. Als er erneut eintauchte, hatte sich die Umgebung verändert. Die See schien plötzlich tot zu sein. Wo sich eben noch die bunten Fische der Tropen getummelt hatten, war plötzlich alles ausgestorben.

Als Telak nach unten blickte, sah er mit großer Geschwindigkeit den Wächter nach oben jagen. Er streckte dem riesigen Tier abwehrend die Hand mit dem Messer entgegen und verfiel für einen Augenblick in Panik.

‚Mit dem Messer bist du ihm überlegen, wenn er dich packt', erinnerte er sich an Nagoons Worte, ‚wehre dich nicht gegen seine Arme, du bist ihrer Kraft ohnehin nicht gewachsen'. Blitzschnell schoß der Tentakel nach vorn, packte Telak um die Hüften und riß ihn mit wahnsinniger Geschwindigkeit durch das Wasser. Telak hatte das Gefühl, auseinandergerissen zu werden, während ihm gleichzeitig Flammen die Haut zu versengen schienen. Instinktiv wehrte er sich in einer sinnlosen Reaktion gegen diese beinahe urweltliche Kraft, welche ihn vernichten wollte. ‚Laß dich so schnell wie möglich in die Nähe seines Kopfes bringen', klangen die Worte des Häuptlings in diesem Augenblick durch seinen Kopf, ‚aber hüte dich vor seinem scharfen Maul, mit dem er dich in Augenblicken zerreißen kann'.

Als das Tier Telaks Körper an sich preßte, hatte er das Gefühl, als wollte es ihn bei lebendigem Leibe zerquetschen. Undeutlich erkannte er unter sich das sich träge bewegende Maul mit den messer- scharfen Lippen - Und dann blickte er in das große Auge des Kraken.

‚Nur, wenn du durch sein Auge die Waffe bis in das Gehirn treiben kannst', erinnerte er sich an Nagoons Worte, ‚dann hast du eine Chance, den Wächter zu töten'. Die Welt unter Wasser ist eine stumme Welt. Aber als Telak mit aller Kraft die Waffe in das Auge stieß, schien es für einen Augenblick, als habe das Tier einen gewaltigen Schrei ausgestoßen. Augenblicklich ließ die Kraft der Tentakel nach, die Arme des Wächters glitten von Telaks Körper und sanken schlaff nach unten.

Eine mächtige Wolke dunklen Blutes nach sich ziehend glitt der riesige Körper zum weit entfernten Meeresboden, während Telak mit letzter Kraft zur Oberfläche strebte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.01.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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