Beena Siddiqui

Jagdfieber

Es geschah an einem Faschingsdienstag. Henry streckte sich noch einmal und betrachtete sich dann vor dem Spiegel. Das Indianerkostüm saß prima, die bunten Striche und Symbole, die er sich mit Schminke ins Gesicht gepinselt hatte, waren nicht verwischt und die federn, die an seinem Stirnband klebten, leuchteten hell. Heute war eine der letzten Gelegenheiten, noch einmal richtig zu feiern. Und zwar bei Wilhelm im Gartenhäuschen. Henry warf noch einen letzten blick auf sein Spiegelbild. Er sah einfach genial aus. Jetzt aber schnell zu Wilhelm. Dort wurde Henry auch schon freudig empfangen. Jeder bewunderte sein Kostüm. Die Feier dauerte ziemlich lange und bald wurden Wilhelms Gäste übermütig. "Hey, Adlerauge da hinten", rief ein Mädchen Henry zu, "wie sieht's aus? Wo hast du dein Maultier gelassen?" Henry lief rot an. Der Ton des Mädchens war zwar provozierend, aber andererseits war sie bildhübsch. Sie hatte hellbraune Haare, die ihr bestimmt bis zu den Kniekehlen reichten und ihre smaragdgrünen Augen strahlten wie die Sonne. "Jetzt bloß nichts Falsches sagen", dachte Henry. "Komm mit, dann zeig' ich es dir", sagte er. Zögernd folgte ihm Martha, denn so hieß das hübsche Mädchen. Henry führte sie zu einem Stall, der sich in der Nachbarschaft befand. Die Hefersdorfer Kinder konnten hier Reitstunden nehmen. Leise öffnete Henry die Tür. Martha hielt den Atem an. "Du wirst doch nicht....", flüsterte sie. Doch Henry nickte. Auch er hatte einmal Reitstunden genommen. Freilich war er damals noch klein gewesen, aber er hatte Einiges in Erinnerung behalten. Mit klopfendem Herzen betrat er den stall. Wie war es gleich gewesen? Ach ja, dritte Tür, rechts. Hoffentlich war das richtig. Die Tür quietschte als Herz sie öffnete. Er und Martha betraten das kammerartige Zimmer. Es roch nach Heu und Stroh. Vorsichtig zündete Henry eine Laterne an, um besser zu sehen. Jetzt erst konnte er das Pferd erkennen, das da ein paar Meter neben ihm stand. Martha stieß ein entsetztes Keuchen aus, den es bewegte sich auf die beiden zu. Henrys Herz machte einen Hüpfer. Ja, das war Sunny, sein treuer, alter Kamerad. Jetzt musste er ungefähr fünf Jahre alt sein. Vorsichtig strich Henry über Sunnys glattes, braunes Fell. Wie damals. Auch das Pferd schien ihn wiederzuerkennen, denn es lief mit, als Henry es nach draußen führte und es rieb seien Kopf an seinem Kostüm. "Was, wenn wir...", begann Martha. "Wenn wir was?", entgegnete Henry genervt, "du wolltest doch, dass ich mir ein Maultier beschaffe. "Martha war zwar hübsch, aber Verstand schien sie keinen zu haben. "Wir könnten erwischt werden und Ärger bekommen. Ich meine das nicht so vorhin." "Dann hättest du's ja gleich sagen können. Jetzt ist es zu spät", fauchte Henry. Was sich dieses Mädchen einbildete. Was glaubte sie, wer sie war? "Wenn uns jemand erwischt, dann sage ich, dass du es warst!", rief sie mit schriller Stimme, "Tu das Pferd zurück!" Das reichte jetzt. Sollte sie doch machen, was sie wollte. Zornesröte stieg Henry in Gesicht und er ballte seine Hände zu Fäusten. Das Blut pochte in seinen Schläfen. Blöde Ziege. Sollte sie ihn doch verraten. Er würde ihr jetzt mal zeigen, wie sich ein echter Indianer verhielt. Schwungvoll schwang er sich auf Sunnys Rücken und warf Martha einen letzten verächtlichen Blick zu. Dann ritt er fort. Erst die Straße entlang und dann in den Wald. Weit weg von diesem hochnäsigen Mädchen. Die sonne war am unter-gehen und die ersten Sterne funkelten bereits am Himmel. Stille senkte sich über den Wald. Der Himmel schimmerte in den schönsten Farben und ein kühler Wind ließ die Bäume tanzenden Riesen gleichen. Es war wunderschön und auch ein wenig unheimlich zugleich. Langsam begann Henry in seinem Indianerkostüm zu frieren, denn der Stoff war ziemlich dünn. Gedan-kenverloren starrte er auf den grünen Untergrund doch auf einmal - was war das? Sunny bäumte sich auf und versuchte seine Hufen freizubekommen frei zu bekommen. Er steckte fest!! Doch worin? Und jetzt machte Henry die grauenhafteste Entdeckung seines Lebens. Das Pferd versank im Schlamm. Sie waren geradewegs in einen Sumpf geritten! Henry war wie gelähmt. Er musste mit Entsetzen ansehen, wie sein Pferd immer tiefer einsank, wie ihm der Schweiß das Fell hinuntertropfte, wie Sunny kämpfte und trat, wie er sein Bestes gab, um freizukommen und letztendlich keuchend aufgab. Kalter Schweiß lief Henry die Wangen hinunter und er vermischte sich mit Tränen - mit Henrys Tränen. Sie rannen ihm über das Kinn und tropften auf Sunnys Rücken. Armer Sunny. Es war allein Henrys Schuld, dass sie jetzt beide in der Tinte steckten. Sie würden beide sterben. Es gab niemanden, der sie aus dieser misslichen Lage befreien konnte. Er würde sterben und Sunny mit in den Tod gerissen haben, denn er war der Schuldige. Das arme Pferd. Es war immer treu gewesen, es hatte nie Befehle missachtet und jetzt musste es seinetwegen sterben und nicht gerettet werden. Er hätte alles dafür getan, dass Sunny wieder in seinem Stall war. Und dann legte er seinen Kopf in den Nacken und schrie aus Leibeskräften, aus Verzweiflung, aus Trauer. Als Henrys Stimme versagte, schlang er seine Arme um den hals seines Pferdes und er wollte es leben lassen. Noch nie hatte er eine derartige Liebe zu einem Wesen verspürt, wie jetzt. Und dabei hatte er den guten alten Sunny doch schon Jahre nicht mehr gesehen oder besucht. Es tat ihm alles so leid. Henrys Tränen liefen über Sunnys Rücken und tropften auf die moosbewachsene Oberfläche es Sumpfes. Er konnte nicht zusehen, wie sein Pferd. Sein treuer Kamerad starb. Er musste etwas tun. Wenn er weiter weinend Sunny umklammerte, stand ihr Schicksal fest. Also rutschte Henry widerstrebend von dem Rücken seines Pferdes und versuchte, dessen Füße aus dem Schlamm zu ziehen, jedoch vergeblich. Nun begann er den Schlamm zu beiden Seiten der Füße wegzuschöpfen, doch es klappte einfach nicht. Das Pferd kam einfach nicht frei. Wieder und wieder ver-suchte es Henry, doch er blieb erfolglos. "Ich muss Hilfe holen", dachte Henry verzweifelt. Er selbst sank schon beinahe im Schlamm ein, doch er schaffte es, sich freizubekommen. Dann rannte er los. Henry wusste nicht mehr wo er war, welchen Weg sie geritten waren, doch er lief und lief und war nicht bereit stehen zu bleiben oder sich umzuschauen. Hätte er das getan, dann hätte er vielleicht die rötlichen glühenden Augen entdeckt, die aus einem Busch hervorschienen. Sie musterten ihn und leuchteten erfreut auf, als sie erkannten, dass es sich hier um Beute handelte. Es fiel niemandem auf, als das dunkle Wesen sich langsam von hinten anschlich. Ja, Fleisch hatte es schon lange nicht mehr gefressen und frisches schon gar nicht... Henry rannte durch das Gebüsch. Er musste zurück zum Dorf, er musste Hilfe holen. Er muss-te! Das war er Sunny schuldig. Leise folgte das Wesen Henry. Ja, es schien ihn einzuholen. Es glitt lautlos hinter ihm her. Es schwebte beinahe. Fleisch. Das Wesen wollte seine Beute zu Boden stürzen und sie mit seinen nadelspitzen Zähnen zerreißen und zerfetzen. Ja, das wollte es. Voller Gier heftete es sich immer wieder an Henrys Fersen, es schnüffelte nach seiner Spur, wenn es ihn aus den Augen verlor. Speichel lief an den Fangzähnen hinunter. Wie sehr sehnte sich Henrys Verfolger nach Frischfleisch, nach der Jagd. Es war ein wunderbar tolles Gefühl, die Beute zu zerfetzen. Henry hatte es bald geschafft, das wusste er. Er lief und lief und plötzlich geschah es: Er stürzte über eine Baumwurzel und schlug sich das Knie auf. Henry stöhnte entsetzt auf. Der Schmerz durchzuckte sein Bein wie ein Blitz. Er stach in es ein wie Tausende von giftigen Pfeilen. Sie schienen sein Knie zu durchbohren. Aber das Schlimmste kam noch. Als Henry aufsah, blickte er direkt in die Augen seines Verfolgers. Rot glühend und dicht bei den seinen. Henry stieß einen gellenden Schrei aus, der Jedem, der ihn hörte durch Mark und Bein ging. Henry rappelte sich blitzschnell auf und raste davon. Das Wesen, das Monster, stürzte sofort hinter ihm her, die wilde Jagdlust hatte es gepackt, es war wild und mordlustig. Henry wandte sich um - war das Vieh noch da? Ja! Wieder schaute er in die roten, grauenhaften Augen. Es hatte ihn schon fast eingeholt, es schnappte schon nach ihm, es geiferte, sein Hecheln löste bei Henry reine Panik aus. Er rannte um sein Leben, weg von dem Wesen - zum Dorf - weg. Er atmete rasend, Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Er wollte aus dem Wald, weg. Und dann sah er es. Es kam von einer Laterne. Ja! Das Dorf. Das Wesen hatte Henry fast erreicht. Er spürte schon den heißen Atem an seinen Beinen, doch auf einmal ertönte ein gequältes Winseln. Das Licht blendete das Wesen, das sich als eine Mischung aus Wolf und Löwe entpuppte und entgeistert floh. Völlig außer Atem erreichte Henry das Dorf. Er stürzte nach Hause, doch es war niemand da, also rannte er zur Feuerwehr. "Mein Pferd - ist steckengeblieben - Sumpf - Wald", keuchte Henry. Die Feuerwehr zog nach einigen Erklärungen auch gleich los, nur das Monster blieb ungeklärt. Die Stelle, in der Sunny eingesunken war, fand sich ziemlich leicht und das Pferd wurde mit einem Kran herausgezogen. " Ihr beiden kommt jetzt allein klar, nicht?", erkündigte sich ein Feuerwehrmann. "Klar", rief Henry. Freudig umarmte er den treuen, braunen Sunny und streichelte ihn. Es war zwar wieder dunkel, doch jetzt war ja Sunny bei Henry. Vorsichtig brachte er das Pferd dazu weiterzulaufen. Plötzlich fiel Henry eine Bewegung auf. Es raschelte im Gestrüpp und zwei rote Augen glühten aus der Dunkelheit hervor. Fleisch. Frisches Fleisch. Nein. Nein! Das konnte nicht sein. Doch. Es wollte seine Beute zerreißen und zerfetzen. Ja, die Zeit der Rache war gekommen. Es roch nach Fleisch, der Geruch wurde immer stärker und dann, dann stand das Wesen plötzlich vor Henry und Sunny. Es schaute ihm direkt in die Augen. Mit seinen eigenen, rot glühenden schien es sie zu durchboh-ren und es leckte sich über die Fangzähne. Voller Entsetzen stieß Henry einen schrillen, grauenerfüllten Schrei aus - zu Recht, denn jetzt würde ihm niemand mehr zu Hilfe kommen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.03.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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