Carrie Winter

Wenn du dich erinnerst...

„Es liegt in der Natur des Menschen, nach Fehlern zu suchen.“
Verwundert sah Robert sie an.
„Wie meinst du das?“ fragte er.
Sie zuckte die Schultern und richtete ihren Blick wieder auf das Buch, das aufgeschlagen in ihrem Schoß lag.
Er kannte sie schon lange genug, um ihr Verhalten einschätzen zu können, deswegen fragte er nicht weiter, sondern sah sie schweigend an.
Nach etwa einer Viertelstunde wurde sein Schweigen belohnt.
Sie sah zwar immer noch in das Buch, sagte aber: „Die Menschen sagen immer, dass sie glücklich sein wollen. Sie sagen, dass sie Harmonie haben wollen. Und wenn sie es sagen, dann glauben sie es sogar. Das ist das Verrückte daran. Verstehst du?“
„Die Menschen wollen also gar nicht glücklich sein?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Wie kommst du darauf?“ fragte er interessiert.
„Wenn sie mal glücklich sind, dann zerstören sie dieses Glück.
Alles ist perfekt. Und was tun sie? Sie suchen nach etwas, dass nicht perfekt ist. Sie kämpfen sich durch ihr ganzes Leben auf der verzweifelten Suche nach etwas, dass die Harmonie stört.
Und wenn sie dann endlich etwas gefunden haben, beklagen sie sich darüber, dass sie nie glücklich sein können.“
„Du übertreibst etwas.“ meinte Robin.
Mit einer entschlossenen Geste schlug sie das Buch zu und stand auf. Ihr Blick war kalt geworden. Ihre Stimme hätte Eisen durchschneiden können, als sie sagte: „Warte nur ab. Irgendwann wirst du auch glücklich sein und dann beginnt deine Suche nach Problemen.“

An dieses Gespräch erinnerte sich Robin, als er sich in dem verlassenen Wohnzimmer umsah, in dem er seine Jugend verbracht hatte. Zusammen mit Carrie. Aber diesmal war Carrie nicht da. Sie würde nie wieder mit ihm auf dem Sofa sitzen, Kaffee trinken und über unheimliche Dinge sprechen.
„Robin?“
Er zuckte zusammen und fuhr herum. Hinter ihm stand David.
„Ist alles in Ordnung? Du siehst ziemlich blass aus.“
„Mir geht es gut. Mir ist nur gerade etwas eingefallen...“
Neugierig sah David ihn an.
„Ich hab mich an ein Gespräch erinnert, dass ich hier mal geführt habe.“ antwortete er widerstrebend.
„Mit Carrie?“ fragte er und versuchte, beiläufig zu klingen.
Aber seine Augen verrieten, wie gespannt er war.
„Ja.“ antwortete Robin einsilbig und wandte sich ab.
Er hatte keine Lust, mit David über Carrie zu sprechen.
Natürlich war David sein Freund. Vielleicht war er sogar sein einziger Freund. Aber das mit Carrie war etwas, dass niemanden etwas anging. Seine Erinnerungen an sie waren etwas Heiliges geworden. Besonders, seit sie nicht mehr da war.
Robin ging aus dem Wohnzimmer in die große Halle, die im Laufe der Jahre viel von ihrem Glanz verloren hatte. Vielleicht hatte sich aber auch nur seine Sichtweise geändert. Er war kein Teenager mehr, der sich durch Geld und Materialismus beeindrucken ließ. Er war ein erwachsener Mann, der ins Haus seiner Jugend zurück gekehrt war, um...
Warum eigentlich?
Bekannten gegenüber hatte er behauptet, er wolle seine alten Sachen ausräumen, um das Haus verkaufen zu können. Aber stimmte das? War es nicht viel eher so, dass er Carries alte Sachen holen wollte? Dass er hoffte, sie wieder besser spüren zu können, wenn er Dinge, die einst ihr gehörten, in der Hand hielt?
Vermutlich war es das.
Er wollte gar nicht zu genau über seine Beweggründe nachdenken. Es wäre zwar nicht unmoralisch gewesen ( seit zwei Jahren war er geschieden ) aber trotzdem.
Mit langsamen Schritten ging er die Treppe hinauf, die ächzende Geräusche von sich gab. Oben angekommen zögerte er allerdings, weiterzugehen.
Sollte er das wirklich tun?
Wäre es nicht viel einfacher, wenn er wieder runtergehen, in sein Auto steigen und nach hause fahren würde?
Er könnte sich an seinen Schreibtisch setzen, einen neuen Roman anfangen und wie besessen daran schreiben, bis er fertig war.
Aber was dann?
Es würde so kommen, wie schon bei den letzten drei Romanen, die er geschrieben hatte. Er würde sich alles noch mal durchlesen und sich schlecht fühlen, weil er die ganzen Gefühle, die er in seiner Geschichte beschrieb, nicht empfinden konnte.
Und damit war er mit seinen Überlegungen wieder an dem Punkt angelangt, warum er überhaupt hier war. Empfindungen war das Stichwort. Er wollte wieder empfinden. Und sollte es auch nur der Schmerz sein, weil er sie diesmal nicht retten konnte.
Entschlossen steuerte er auf die Tür zu, die ganz am Ende des Ganges lag, und drückte auf die Klinke. Nichts geschah.
Er versuchte es noch einmal, aber wieder ließ sie sich nicht öffnen. Sie musste wohl abgeschlossen sein.
Aber wieso?
Und vor allem: Wer hatte diese Tür abgeschlossen?
Ihm gehörte dieses Haus seit seine Eltern gestorben waren und er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals Carries Tür abgeschlossen hatte.
Stirnrunzelnd wandte er sich an die Tür daneben und stellte fest, dass diese offen war. Er betrat einen kleinen muffigen Raum, in dem nur ein Bett und ein Schreibtisch standen.
Er wollte es nicht tun aber irgendetwas zwang ihn, zu dem Bett zu gehen und die Matratze umzudrehen. Dabei wirbelte er einen Haufen Staub auf und kriegte einen Hustenanfall.
„Robin?“
Diesmal drehte er sich noch schneller um als vorhin. David stand im Türrahmen und musterte ihn besorgt.
„Was tust du da?“ fragte er und ging zu ihm.
„Ich drehe die Matratze um.“ antwortete er.
David warf ihm einen merkwürdigen Blick zu und sah dann auf die Matratze.
„Was ist das?“ fragte er und deutete auf den braunen Fleck, der sich deutlich von dem schmutzig gelben weiß abhob.
Robin sah jetzt ebenfalls darauf und eine erneute Erinnerung überflutete ihn.

„Ich habe Angst.“ flüsterte Carrie.
„Ich bin doch da.“ flüsterte Robin zurück.
Sie presste sich noch enger an ihn und er spürte ihren heißen Atem in seinem Gesicht.
Beruhigend strich er über ihren Rücken, der eiskalt war.
„Es wird wieder gut.“ murmelte er.
„Ich sterbe, oder?“ schluchzte sie.
Ihre Fingernägel krallten sich in seine Haut. Er unterdrückte einen Schmerzenslaut und zog stattdessen die Bettdecke noch enger um ihren zitternden Körper.
„Du stirbst nicht. Ich passe auf dich. Es kann dir nichts passieren.“ sagte er, obwohl er sich da selbst nicht so sicher war.
„Was ist wenn sie kommen? Sie werden mich holen, oder? Und dann werden sie mich...“ Der Rest des Satzes ging in einem erneuten Schluchzen unter.
„Ich werde nicht zu lassen, dass sie dich holen.“
„Aber ich...“
Sie brach ab. Mit einem Schlag hörte sie auf zu Zittern und es schien ihm, als würde sie auch kurz mit Atmen aufhören.
„Was ist los?“ fragte er und spürte, wie Panik in ihm aufstieg.
Statt zu antworten richtete sie sich langsam auf und schlug die Decke zurück.
Da es vollkommen dunkel war, konnte er nicht erkennen, was los war.
„Mach den Vorhang auf.“ sagte sie tonlos.
Er rannte förmlich zum Fenster und riss den schweren Stoffvorhang weg. Ihm nun einflutenden Mondlicht konnte er etwas Dunkles erkennen. Mit wackligen Beinen ging er zurück zum Bett und folgte ihrem Blick auf die Stelle zwischen ihren Beinen. Ihr weißer Slip war vollkommen rot, genau wie ihre Schenkel. Einen Moment wusste er nicht, was los war, dann begriff er. Es war Blut!
Carrie schien es im selben Moment zu begreifen, denn sie begann zu schreien. Ein Schrei, der durch Mark und Bein ging und ihm eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
„Ich verblute! Sie sind gekommen und lassen mich verbluten!“
Er wusste zwar nicht genau, was er tat, aber er wusste, dass er etwas tun musste. Kurzerhand packte er sie und trug sie ins angrenzende Badezimmer.
Sie schrie immer noch, als er sie in die Badewanne setzte und anfing, Wasser auf ihre Beine zu spritzen, um das Blut wegzuwischen. Nach kurzer Zeit musste er allerdings merken, dass das sinnlos war, denn es kam immer neues Blut. Noch dazu war der Stöpsel im Ausguss und Carrie saß in einer Wanne voller rotem Wasser, was sie nicht gerade beruhigte.
Dieses Bild von ihr, wie sie in der halbvollen Wanne saß und alles um sie herum rot war, brannte sich in seinen Verstand ein.
Besonders, weil er dasselbe Bild Jahre später noch mal sehen würde. Nur, dass sie dann nicht sitzen sondern liegen würde.

„Ist das Blut?“
Davids Stimme holte Robin aus seinen Erinnerungen zurück.
„Was?“ fragte er, während er immer noch das Bild vor Augen hatte.
„Ob das Blut ist.“ wiederholte David seine Frage.
„Ja.“ sagte er, hatte aber nicht vor, weiter darauf einzugehen.
Natürlich könnte er David die ganze Geschichte erzählen.
Aber dann würden Fragen auftauchen. Zum Beispiel, ob Carrie und Robin damals nicht schon etwas zu alt gewesen waren, um zusammen in einem Bett zu schlafen. Und warum sie überhaupt in diesem Zimmer gewesen waren, wenn doch Jeder von ihnen ein eigenes hatte.
Er könnte dann antworten, wegen den Langoliers.
Und genau an diesem Punkt wäre es dann zu Ende mit der vernünftigen Unterhaltung. Denn David würde nie verstehen können, welche Angst die Langoliers Carrie gemacht hatten.
„Ist irgendwas? Du machst irgendwie den Eindruck, als wärst du schlecht drauf.“ meinte David.
„Ich bin nur müde.“ log Robin und flüchtete vor weiteren Fragen in den nächsten Raum. In seinen ehemaligen Raum.
Es sah alles noch genauso aus wie damals, als er ausgezogen war. Seine Eltern hatten nichts verändert.
Er wusste nicht, ob er ihnen dafür dankbar sein sollte.
Sicher war es nett die kleinen Pokale zu sehen, die ordentlich aufgereiht auf dem Regal standen. Und es war auch schön, die Poster von seinen Lieblingsstars zu sehen. Was er damals doch für einen Geschmack gehabt hatte! Unglaublich!
Aber es war eben auch so, dass nicht alles, was sich in seinem Zimmer befand, ihm Freude bereitete, wenn er es ansah.
Besonders wenn sein Blick das Fenster streifte und den Balkon, der dahinter lag, krampfte sich sein Herz zusammen. Zweifel stiegen langsam in ihm hoch. War es wirklich so eine gute Idee gewesen, hierher zu kommen? Hätte er nicht lieber vorhin, als er an der Treppe zögerte, schon gehen sollen?
Er wollte seine Erinnerungen an Carrie wieder auffrischen, aber doch nicht auf so eine Weise!
Und trotz seines Widerstandes gingen seine Augen immer wieder zum Balkon, bis er nicht mehr wegschauen konnte. Und je länger er seinen Blick auf die braunen Fließen und das braune Geländer gerichtet hatte, desto intensiver wurde die Erinnerung...

„Und? Wie war es in der Schule?“ fragte seine Mutter ihn.
„Ging so. Weißt du, wo Carrie ist? Ich hab draußen vor der Schule auf sie gewartet, aber sie ist nicht gekommen.“
„Sie ist nach der dritten Stunde nach hause gekommen.“ antwortete seine Mutter, während sie weiter das Fenster putzte.
„Warum?“ fragte er verblüfft.
„Sie hatte früher aus.“ sagte sie und konzentrierte sich auf einen besonders festen Schmutzfleck.
Er schwieg. Im Gegensatz zu seiner Mutter wusste er, dass Carrie nicht früher aus gehabt hatte.
Er ging nach oben und sparte sich die Mühe, an ihre Tür zu klopfen, weil er aus seinem Zimmer laute Musik hören konnte.
Manchmal ging sie in seinen Raum, um Musik zu hören, weil ihre Anlage sich nicht sehr laut aufdrehen ließ. So auch heute.
Sie saß auf der Brüstung des Balkons und starrte hinunter.
„Hi!“ begrüßte er sie und machte die Musik leiser.
Sie drehte sich nicht um, sondern blieb unbeweglich sitzen.
Er stellte sich neben sie und versuchte, in ihr Gesicht zu sehen,
aber sie wandte den Kopf ab.
„Du bist heut schon nach der Dritten nach hause gegangen. Warum?“
Sie zuckte die Schultern.
„Irgendetwas stimmt nicht. Ist es wegen Jason?“
Carrie riss ihren Kopf herum und starrte ihn an.
Er zuckte fast unmerklich zusammen. Ihre Haut war leichenblass und ihre Augen rot und geschwollen.
Ohne lange zu überlegen nahm er sie in die Arme und drückte sie so fest, wie er es früher immer getan hatte, als die Langoliers gekommen waren. Nur das es heute etwas anderes war. Etwas, von dem er nichts wusste. Von dem sie ihn ausschloss.
Sie löste sich aus seiner Umarmung, stieg von der Brüstung auf den Balkon und ging aus dem Zimmer.
Er machte keine Anstalten, ihr zu folgen. Er wusste, dass das jetzt sinnlos gewesen wäre. Später würde er es versuchen.
Während er seinen Schulranzen aufräumte fiel ihm ein Zettel auf, der auf dem Boden lag. Carrie musste ihn dort vergessen haben.
Robert hob ihn hoch, faltete ihn auseinander und las.
Als er zum Schluss des Briefes gekommen war, war er ebenso blass wie Carrie vorhin und in seinem Magen war ein Gefühl, als müsse er sich gleich übergeben.
Und ab diesem Moment hatte er jedes Mal, wenn er wegging, sein Zimmer abgesperrt. Natürlich war das töricht gewesen. Carrie war nicht auf seinen Balkon angewiesen. Es gab genug andere Mittel und Wege. Aber Robert war damals nur ein verwirrter Teenager, der hoffte, dass alles wieder von alleine gut werden würde.

Mit einem Ruck kam er zurück in die Gegenwart.
Ohne es zu merken hatte er seine Zähne in seine Unterlippe gegraben. Wohl, um keinen Schrei auszustoßen.
Seit diesem Ereignis auf dem Balkon und Heute hatte er viele Abschiedsbriefe von Carrie gelesen. Aber der Erste hatte ihn am meisten getroffen. Weil er absolut nicht darauf vorbereitet gewesen war.
Er konnte zwar nicht sagen, dass er sich im Laufe der Zeit an diese Briefe gewöhnt hatte, aber er hatte wenigstens damit gerechnet. Deswegen war der Schock kleiner gewesen bei den anderen Malen.
Verzweifelt schloss er die Augen. Konnte es denn nicht auch irgendetwas in diesem Haus geben, dass ihn in positiver Weise an Carrie erinnerte?
Der Dachboden!
Er hastete an David, der im Gang stand, vorbei und riss an der Schnur, die von der Decke baumelte. Fast hätte ihn die herunterkommende Treppe im Gesicht getroffen, aber er war viel zu aufgeregt, um sich weiter damit zu beschäftigen. Auch dem Gedanken, dass die Treppe alt und morsch war, schenkte er keine Beachtung.
Glücklicherweise kam er unbeschadet oben an.
Seine Augen brauchten einen Moment um sich an die Dämmerung zu gewöhnen, dann nahm er die alten Möbel wahr, die hier schon seit mehr als 20 Jahren standen und auf denen Carrie und er immer gesessen hatten, wenn sie sich Geheimnisse erzählt hatten. Das hier oben war ihr Versteck gewesen. Ihr Schlupfloch. Hier hatten sie so was wie ihre eigene Welt gebaut.
Niemand hatte ihnen hier etwas anhaben können.
Nur sie beide, ein aufgerissener Sessel, eine durchgesessene Couch und Kartons voller Gerümpel...

„James! Wir brauchen ihre Hilfe! Schnell! Das Leben des Präsidenten ist in Gefahr! Nur Sie können ihn jetzt noch retten!“
Robert Parker alias James Bond stand auf, nahm seine Waffe
( eine Wasserspritzpistole ) und machte sich dafür bereit, das Leben des Präsidenten zu retten.
Unterstützt wurde er dabei von seiner wunderschönen Assistentin Carrie alias Janis, die eine perfekte Giftmischerin war und für jeden Feind die passende Droge hatte.
Nachdem sie es mit vereinten Kräften geschafft hatten, den Präsidenten zu retten, kehrten sie in ihr Hauptquartier zurück.
„Das war saubere Arbeit!“ sagte Robert und ließ sich in den Sessel fallen.
„Wir werden immer besser.“ kicherte Carrie und setzte sich neben ihn auf die Lehne.
„Uns kann eben keiner stoppen...“ murmelte er zufrieden.
Als Carrie nicht reagierte sah er zu ihr und stellte fest, dass ihre Augen einen merkwürdigen Glanz angenommen hatten.
„Was ist los? Du siehst aus, als hättest du was von deinen eigenen Drogen genommen.“ witzelte er.
„Hättest du John F. Kennedy gerettet ?“ fragte sie.
„Natürlich! Schließlich bin ich James Bond! Es ist meine Pflicht, die Präsidenten zu retten!“ sagte er bestimmt.
„Auch wenn sie Mörder sind?“
Verblüfft sah er sie an. „Die Präsidenten sind doch keine Mörder!“
„John F. Kennedy hat angeblich Marilyn umgebracht.“
Robert machte eine abwinkende Handbewegung. „Sie hat sich selbst umgebracht. Das weißt du doch.“
„Aber warum?“ fragte Carrie und er glaubte, so etwas wie Verzweiflung in ihrer Stimme zu hören.
„Sie war unglücklich, nehme ich an. Deswegen bringen sich Menschen doch um, oder? Weil sie traurig sind...“
„Aber warum war sie traurig? Sie sah so schön aus und sie war so berühmt und jeder hat sie gemocht und jeder Mann wollte sie heiraten und...Sie hatte doch alles!“ rief Carrie.
„Das wissen wir doch nicht. Wir kannten sie doch nicht. Vielleicht wollte sie ja ein einziger Mann nicht heiraten und genau diesen Mann hat sie geliebt! Da war doch dieser Fotograf...Ich weiß jetzt gerade nicht, wie er heißt, aber...“
„Milton Greene?“ unterbrach sie ihn.
„Ja, genau der. In irgendeiner Zeitung stand, dass sie in ihn verliebt war. Aber er ist ja verheiratet. Also...“
„Wenn ich mal blonde Haare habe und große blaue Augen und einen roten Mund und alle lachen, wenn ich lache, und alle Männer mich so aufmerksam anschauen wie ein Footballspiel dann werde ich mich nie umbringen! Dann werde ich ewig leben!“
Sie sprang auf und drehte sich mit weit ausgestreckten Armen im Kreis, bis ihr schwindlig war und sie sich auf den Teppich fallen ließ. Dabei lachte sie die ganze Zeit.
Robert konnte nicht genug von diesem Lachen kriegen.
Es klang so frisch und natürlich. Er war sich sicher, dass Marilyn Monroe in keinem ihrer Filme so gelacht hatte wie Carrie.
Er warf sich neben sie auf den Teppich und begann, sie zu kitzeln. Lachend kringelte sie sich unter ihm und er wünschte sich, dass dieser Moment niemals endet. Ihre zersausten Locken, ihr offener Mund, ihre weißen Zähne...
Irgendwann ließ er von ihr ab und sie holte erschöpft Luft.
Robert saß immer noch auf ihr und ihre Blicke trafen sich.
Langsam beugte er sich nach unten, ihre Lippen berührten sich sanft, der Geschmack von Erdbeeren war auf einmal in seinem Mund und es war wirklich so fantastisch, wie die Leute es immer beschrieben.


„Willst du von hier oben auch was mitnehmen?“
Gedankenverloren starrte Robert auf den Teppich, auf dem Carrie und er gelegen hatten, als sie sich zum ersten Mal küssten.
Er hatte Davids Frage gar nicht gehört.
„Hey!“ Er rüttelte ihn sanft an der Schulter, als wollte er einen Schlafenden aufwecken. „Willst du von dem Zeug hier auch was mitnehmen oder nicht?“
„Ich weiß nicht.“ antwortete Robert langsam.
Für einen Moment hatte er wirklich geglaubt, Erdbeeren schmecken zu können, aber es war schon wieder weg.
„Sieht alles nicht mehr so brauchbar aus. Was ist denn in der Kommode drin?“
Ohne eine Antwort abzuwarten machte David schon die erste Schublade auf und durchsuchte sie.
„Vorhänge, Geschirrtücher, Taschentücher...“ zählte er auf und wandte sich dann der zweiten Schublade zu.
„Geschirr, Geschirr, Geschirr...Mann, wie viel Geschirr habt ihr gehabt? Wir hatten ja nicht mal so viel Essen!“
Jetzt kam er zu der dritten und letzten Schublade.
„Hm...Auch lauter Wäsche...Obwohl...Warte mal...Was ist das denn? Liebesbriefe? Jetzt wird’s interessant!“
Robert sah einen Moment verwirrt dabei zu, wie David einen Stapel Briefe aus der Kommode nahm und den Ersten aus dem Umschlag holte, um ihn zu lesen.
Robert hob das Kuvert auf, das auf den Boden gefallen war, und schaute auf die Vorderseite. Dort stand mit unsicheren großen Buchstaben `Für Robert.` Einen Moment war er wie erstarrt, dann packte er Davids Hand und wollte ihm den Zettel entreißen, aber er kämpfte sich frei und las weiter.
Als Robert es endlich schaffte, an den Brief zu kommen, hatte David ihn schon zu Ende gelesen und sah ihn bestürzt an.
„Was hat das zu bedeuten?“ fragte er schließlich.
„Du verstehst das nicht.“ antwortete Robert und nahm die restlichen Briefe an sich.
„Sie hatten Recht, oder? Die Gerüchte haben gestimmt, oder?
Du hast gesagt, dass sie lügen! Du hast behauptet, dass...“
„Ich weiß!“ rief Robert. „Ich weiß, was ich gesagt habe! Verdammt noch mal! Sollte ich etwa sagen, dass es stimmt? Sollte ich etwa sagen, dass sie ihr Leben hasst und Tabletten nimmt und ich nicht mehr weiß, was ich tun soll? Hättest du sie jemals wieder normal anschauen können, wenn du das gewusst hättest?“
Er rang nach Atem. Die Ader an seiner Schläfe trat hervor und sein Herz raste, als hätte er gerade einen Marathonlauf hinter sich.
Einige Minuten herrschte Stille zwischen ihnen, dann sagte David leise: „Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht unterstellen, dass du dich falsch benommen hast. Es war nur...Alle haben mir gesagt, dass etwas nicht mit ihr stimmt. Und ich habe ihnen dann immer gesagt, dass sie die Klappe halten sollen und das sie Carrie gar nicht kennen und deswegen können sie gar nicht beurteilen, ob etwas nicht mit ihr stimmt. Und dabei...Dabei hab ich selbst immer gedacht, dass irgendetwas mit ihr sein muss.“
„Jeder wusste es, oder? Alle haben sie angesehen und das gesehen, was ich die ganzen Jahre lang nicht sehen wollte...“
„Es waren nur Gerüchte.“ sagte David und legte Robert den Arm um die Schulter. „Niemand hat das so ernst genommen. Sie wussten nicht wirklich was. Es war nur...Erinnerst du dich an den ersten Schultag vom Abschlussjahr? Jason war in den Ferien auf Mallorca gewesen und hatte sie dort betrogen. Sogar mehrmals. Und damit hat er vor seinen Freunden geprallt. Und Carrie hat das natürlich erfahren. Sie stand da auf dem Flur, hat ihn angestarrt und...“
„Ich weiß.“ unterbrach ihn Robert. „Sie hat sich den Arm mit ihrer Nagelfeile aufgekratzt. Das hat die Gerüchte natürlich noch mehr vorangetrieben. Ich kann es den Leuten eigentlich gar nicht verübeln. Wenn ich ein Mädchen sehen würde, dass sich den Arm blutig kratzt, dann würde ich mich auch fragen, ob vielleicht irgendetwas nicht mit ihr stimmt.“
„Vielleicht hättest du nicht her kommen sollen.“ meinte er nachdenklich.
„Das habe ich mir auch schon gedacht. Aber ich hatte keine andere Wahl. Ich musste her kommen. Ich muss endlich etwas tun oder sie wird auf ewig da sein.“
„Wie meinst du das?“ fragte David vorsichtig.
Robert schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich brauche etwas zu essen. Das Ganze hat mich hungrig gemacht.“
„Ich kann runter ins Dorf gehen und was holen.“ bot er an.
„Okay.“ stimmte Robert zu, der schon gehofft hatte, dass David dieses Angebot machen würde.
„Soll ich irgendetwas Bestimmtes mitbringen?“
„Erdbeeren wären nicht schlecht.“ meinte Robert lächelnd.
David sah ihn einen Moment zweifelnd an, ging aber dann nach unten und war wenige Minuten später aus dem Haus.
Mit einem gewissen Gefühl der Erleichterung stieg Robert die Treppe hinab. Er hatte schon den ganzen Morgen etwas vorgehabt, hatte es aber wegen David nicht tun können.
Es dauerte nicht lange, bis er die Schallplatte im Wohnzimmerschrank gefunden hatte. Sie lag ziemlich oben auf dem Stapel, obwohl sie seit mindestens 10 Jahren keiner mehr angehört hatte.
Mit leicht zitternden Händen legte er sie auf und bekam erst nur ein Kratzen zu hören.
Er spürte schon Verzweiflung in sich aufsteigen, als plötzlich eine Melodie erklang. Die Platte war also doch noch in Ordnung!
Neil Diamonds Stimme erfüllte das Wohnzimmer und gab ihm etwas von dem Leben zurück, das früher hier geherrscht hatte.
Robert ging nach nebenan in die Küche, schenkte sich ein Glas Wein ein und kehrte dann zu der Musik zurück, die ihm so vertraut in den Ohren klang, als hätte er die letzten Monate nichts anderes getan, als sie anzuhören.
Er drehte noch etwas lauter, so dass er die Vibration der Boxen auf dem Boden spüren konnte. Zufrieden setzte er sich auf die Couch, zog ein Foto aus der Tasche, legte es auf den Tisch und betrachtete es eingehend.
Blonde Haare, roter Mund, blaue Augen...
Sie hatte Marilyn Monroe imitiert. Aber nicht nur das Aussehen.
Auch ihr Verhalten hatte sie auf sich übertragen. Und so war es dann wohl zu diesem Abend gekommen, der erfüllt gewesen war von Neil Diamonds Stimme und dem Weingeruch...

Robert schloss leise die Tür auf und stellte dann im Flur fest, dass das gar nicht nötig gewesen wäre. Carrie war noch wach, der lauten Musik aus dem Wohnzimmer nach zu urteilen.
Seine Eltern waren wohl von ihrem Besuch bei Freunden noch nicht zurück, aber es war ja noch ziemlich früh.
Robert selbst hatte auch nicht vorgehabt, um diese Uhrzeit schon von der Party zurück zu kommen, aber es war so langweilig gewesen und ständig hatte er an den Englisch Aufsatz denken müssen, den er noch machen musste. Also war er doch schon früher nach hause gekommen.
Er machte die Wohnzimmertür auf und ging hinein.
Carrie lag auf dem Boden, neben ihr ein leeres Weinglas.
Grinsend dachte er, dass sie wohl wieder heimlich an der Minibar der Eltern gewesen war, was diese ihr eigentlich streng untersagt hatten.
„Hey!“ rief er laut, um Neils Stimme zu übertönen.
Sie reagierte nicht, sondern blieb bewegungslos liegen.
„Was ist los? Bist du schon besoffen?“ fragte er lachend und zog an ihrer Schulter, um sie auf den Rücken zu drehen. Das Lachen blieb ihm im Hals stecken, als er ihr Gesicht sah.
Es war totenblass, die Augen waren merkwürdig herausgequollen und ihre Zunge ragte zwischen ihren Lippen hervor.
„Carrie!“ schrie er und schüttelte ihren Körper.
Sie gab ein undeutliches Stöhnen von sich und verdrehte die Augen. Das war aber auch alles.
Panisch blickte er um sich und entdeckte die Schachtel Schlaftabletten, die ein Stück entfernt vom Weinglas lag.
`Sie hat eine Überdosis geschluckt!` schoss es ihm durch den Kopf. Und im gleichen Moment fiel ihm eine Geschichte ein, die er mal gelesen hatte. Dort hatte auch eine Frau zu viele Schlaftabletten geschluckt, sie aber wieder erbrochen und war dadurch am Leben geblieben.
`Ich muss das Zeug irgendwie aus ihr rauskriegen!` sagte er zu sich selbst und, ohne wirklich zu wissen, was er tat, drückte er auf ihren Bauch.
Immer und immer wieder, so fest er konnte, bis er schließlich ein würgendes Geräusch gehörte. Er hörte auf und sah zu Carries Gesicht. Sie war noch blasser geworden aber jetzt bewegten sich ihre Lippen. Und im nächsten Moment erbrach sie sich auf den Teppich.
Danach rang sie keuchend nach Atem, während Tränen an ihren Wangen hinunterliefen.
Robert nahm sie, wie schon so oft zuvor, in die Arme und klammerte sich an ihren kalten Körper. Mittlerweile musste er auch weinen. Und so saßen sie eng umschlungen auf dem Wohnzimmerboden, mit Tränen im Gesicht und neben ihnen lag ein kaputtes Weinglas, auf das sich Robert gekniet hatte, eine leere Packung Schlaftabletten und mehrere kleine weiße Tabletten, die durchweicht und nass waren.
Plötzlich begann Carrie, überschwänglich sein Gesicht zu küssen.
„Du hast mich gerettet.“ flüsterte sie. „Du hast mich gerettet.“
Irgendwann traf sie seine Lippen und verharrte.
Roberts Zunge strich vorsichtig an ihren Zähnen entlang, an ihren Lippen, an ihrer Zunge.
Er war auf einmal so erregt, wie noch nie zuvor in seinem Leben.
So kam es ihm wenigstens vor.
Seine Hand tastete sich unter Carries Pullover, zu ihrem BH und streichelte durch den dünnen Stoff ihre weichen Brüste.
Sie streichelte gleichzeitig seine Brust und ihre kalten Finger auf seiner heißen Haut machten ihn fast verrückt.
Mit einer ungeschickten Bewegung zog er das T-Shirt aus, während Carrie dasselbe mit ihrem Pullover tat.
Er sah fasziniert ihre milchig weiße Haut an, zeichnete mit seinen Fingerspitzen Muster darauf, strich über die roten BH Träger, die einen scharfen Kontrast dazu bildeten.
Alles war so intensiv geworden: ihr Chanel Duft, ihr Geschmack auf seiner Zunge, ihr leises Stöhnen an seinem Ohr.
Er wollte sie spüren. Er wollte mit ihr verschmelzen. Er wollte sie nie mehr loslassen, für immer halten, ein Teil von ihr werden.
Für ihn hörte die Welt sich in diesem Moment zu drehen auf.
Robert zog seine Jeans aus und beobachtete mit glänzenden Augen, wie Carrie Ihre ebenfalls auf den Boden warf.
Die Unterwäsche umschlang ihren zierlichen Körper und schien sich leuchtend von der blassen Haut abzuheben.
Seine Lippen wanderten über ihre Brust, ihren Bauch, hinunter zu ihrem Slip, den er ihr langsam auszog. Carrie blieb vollkommen ruhig liegen und nur ihr rasches Atmen zeigte ihm, wie erregt auch sie war.
Robert war vorsichtig. Er behandelte sie wie eine Porzellanpuppe, die jederzeit zerbrechen könnte. Und so ähnlich war es ja auch.
Er wusste, wie wichtig dieses Erlebnis für Mädchen, für Carrie war. Und er wollte, dass es für sie so schön wie möglich wurde.
Seine genauen Gedanken waren, dass er ihr den Himmel schenken wollte. Mitsamt den Sternen, der Sonne und dem Mond.
Während Neil Diamond von vergangenen Liebesbeziehungen sang, erlebte Robert etwas, dass er nie wieder vergessen sollte und das ihm jedes Mal einfallen sollte, wenn er das Wort Liebe hörte.
Nach einer scheinbaren Ewigkeit war es vorbei, die Ekstase schwand und machte Befriedigung Platz. Die Hitze klang ab und ein wolliges Gefühl der Wärme blieb.
Nackt lagen Robert und Carrie nebeneinander auf dem Wohnzimmerteppich und sahen sich an.
„Ich liebe dich.“ sagte er und sah in ihre blauen Augen, die von den geschwollenen Lidern halb verdeckt wurden.
„Du hast mich gerettet.“ murmelte sie verwundert, schon so gut wie eingeschlafen. „Du hast mich wirklich gerettet...“



Die Platte endete zusammen mit Roberts Erinnerung.
Er sah auf das Weinglas, das mittlerweile leer war und überrascht stellte er fest, dass er einen Weingeschmack im Mund hatte. Und noch etwas stellte er fest. Er war erregt.
So unmöglich es auch schien, dass man durch etwas erregt werden konnte, dass schon so viele Jahre zurück lag, es war ihm passiert.
Er wartete geduldig bis die Erregung abgeklungen war, lehnte sich dann zurück und dachte nach.
Vermutlich war es etwas makaber, dass er zum ersten Mal mit Carrie geschlafen hatte, nachdem er ihr zum ersten Mal das Leben gerettet hatte. Aber vielleicht hatte das einfach sein müssen. Wenn er nur ihr Leben gerettet hätte und danach nicht mit ihr geschlafen, dann hätten sie irgendetwas anderes tun müssen. Er hätte sie gefragt, warum sie das versucht hat und sie hätte gesagt, dass sie ihr Leben hasst und er keine Ahnung davon hat, wie es ist, solche Schmerzen ertragen zu müssen. Er hätte gesagt, dass er immer für sie da ist und das sie mit ihm über alles reden kann. Und sie hätte gelacht – ihr schrecklich hohes Lachen, das nichts mit dem Lachen auf dem Dachboden gemein hatte – und erwidert, dass sie auf sein Mitleid gut verzichten kann.
Dann wäre sie gegangen und hätte ihn alleine gelassen.
Und das wäre es gewesen.
Also konnte man es doch ganz gut nennen, dass er mit ihr geschlafen hatte. Dass sie miteinander geschlafen hatten. Denn sie hatte es ja auch gewollt und getan.
Letztendlich hatte es natürlich nichts gebracht und auch nichts verhindern können aber damals war es richtig gewesen.
Und er fand es auch heute noch richtig.
Als er Carrie gesagt hatte, dass er sie liebt, da hatte er es wirklich so gemeint. Das sie ihm daraufhin nicht gesagt hatte, dass sie ihn auch liebte, hatte ihn nicht verletzt. Sie war müde gewesen, sie hatte gerade einen Selbstmordversuch hinter sich, sie hatte gerade ihr erstes Mal erlebt. Es war klar, dass sie sich in so einem Moment nicht darauf konzentrierte, was sie für ihn empfand. Außerdem war sie immer noch verwundert gewesen, dass er sie gerettet hatte. Wenn ihn etwas an ihrem Verhalten verletzt hatte, dann das.
War ihr nicht klar gewesen, dass er sie retten würde?
Hatte sie angenommen, dass er sie da sterbend auf dem Wohnzimmerboden liegen lassen würde?
Konnte sie wirklich so etwas von ihm denken?
Er wusste es nicht. Und jetzt würde sie ihm auch nie mehr Antworten auf diese Fragen geben können.
Seufzend schloss er die Augen und sofort durchbrach ein Bild seine Gedanken.
Ein dünner Blutfilm, der sich auf ihren Schenkeln abzeichnete.
Verdammt!
Es zog sich durch ihr ganzes Leben!
Als sie das erste Mal ihre Periode bekommen hatte, als er zum ersten Mal mit ihr geschlafen und ihr Jungfernhäutchen durchtrennt hatte und dann das nächste Ereignis, bei dem Blut auf ihren Schenkeln war...

Robert hörte eine Tür ins Schloss fallen, dann hastige Schritte, die Treppe hinauf. Er sah, wie sich die Klinke der Badzimmertür nach unten drückte, aber die Tür ging nicht auf, weil er abgesperrt hatte.
Er erwartete, dass Jemand fragen würde, wie lange er noch braucht, aber stattdessen entfernten sich die Schritte und eine andere Tür wurde geöffnet und geschlossen.
Er nahm an, dass es sich bei diesem Jemand um Carrie handelte.
Sie war als Einzige von ihnen Vier heute Abend weggegangen und konnte infolgedessen auch die einzige von ihnen sein, die jetzt nach hause kam.
Eilig putzte er sich die Zähne fertig und ging aus dem Badezimmer zu Carries Zimmertür. Er wollte unbedingt erfahren, wie ihr Date gelaufen war.
Auf sein Klopfen reagierte sie nicht und so machte er einfach die Tür auf. Eigentlich war das nicht seine Art und auch nicht die von irgendeinem anderen hier im Haus, deswegen hatte auch keiner von ihnen einen Zimmerschlüssel.
Aber diesmal machte er eine Ausnahme, weil er seine Neugier einfach nicht bezähmen konnte. Und auch seine Eifersucht nicht.
Als er eintrat fielen ihm als erstes die Klamotten auf, die verstreut auf dem Boden lagen. Darunter auch ein Slip. Ein weißer Slip, auf dem rote Flecken waren.
„Carrie?“ fragte er, den Blick immer noch auf die Unterwäsche gerichtet.
„Lass mich in Ruhe.“ kam es aus einer Ecke, unter einem Berg von Bettwäsche hervor.
„Was ist denn los? Wie war es mit dem Typen?“ fragte er und stellte sich vor Carries Versteck.
„Lass mich in Ruhe.“ wiederholte sie, diesmal etwas schwächer.
Kurzerhand zog er ihr das Bettzeug weg.
Ihr Anblick traf ihn wie ein Schlag in den Magen.
Nicht, weil sie nackt war. Sondern weil sie vollkommen zerkratzt war. Über ihre Arme, ihren Bauch, ihre Beine zogen sich lange rote Striche. An manchen hingen Blutstropfen.
„Geh weg!“ schluchzte sie. „Geh weg! Verschwinde!“
„Was ist passiert?“ fragte er und sank auf die Knie, weil seine Beine unter ihm nachgaben.
„Nichts! Lass mich in Ruhe! Hau ab! Ich will dich nicht sehen!“
Und in diesem Moment sah er das Blut auf ihren Schenkeln.
Sein Blick ging zwischen dem blutbefleckten Slip und ihren Beinen hin und her. Unglaublicher Hass explodierte in ihm.
„Was hat er mit dir gemacht?“
„Nichts. Er hat nichts gemacht. Er...“
„Was hat dieser gottverdammte Hurensohn mit dir gemacht?“ schrie er.
Ihr Körper wurde von einem erneuten Schluchzen geschüttelt und seine Wut wurde schwächer. Die Schmerzen wegen ihren Schmerzen überwogen in diesem Moment und er hielt sie.
Hielt sie so lange, bis sie nicht mehr weinte und nicht mehr schluchzte.
„Was hat er gemacht?“ fragte er wieder, aber diesmal sanft.
„Ich wollte das nicht...“ flüsterte sie und sah ihn aus großen Augen flehend an. Es schien ihr unglaublich viel daran zu liegen, dass er ihr glaubte.
Robert nickte und sagte: „Ich weiß.“
„Er...Er hat gesagt, dass ich es machen muss. Ich kann nicht so einen Rock anziehen und behaupten, ich hätte nicht vorgehabt, ihn anzumachen und...Es ist meine Schuld, hat er gesagt.
Ich hatte Angst. Ich hatte solche Angst. Ich wollte doch nicht, dass er mir etwas tut! Ich hatte doch nur Angst...“
„Ganz ruhig.“ murmelte er und strich ihr über den Kopf.
„Es hat weh getan...Und ich wollte schreien aber ich konnte nicht. Ich konnte es einfach nicht. Ich wollte sagen, dass er aufhören soll aber mein Hals war...Er war zu. Ich hab geglaubt, dass ich keine Luft mehr kriege. Ich dachte, ich ersticke und ich habe sie gesehen...Ich habe sie wieder gesehen und ich habe mir gesagt, dass es meine Strafe ist. Weil ich mich so benommen habe und weil ich diese Sachen angezogen habe...“
„Wen hast du gesehen?“ fragte er, so sanft wie vorhin.
Carrie hob den Kopf, sah ihn mit leeren ( so verdammt leer! ) Augen an und sagte: „Die Langoliers. Ich habe die Langoliers gesehen. Sie sind nicht weg. Sie sind da. Sie waren die ganze Zeit da. Sie haben mich damals unten bluten lassen. Und jetzt haben sie mich wieder da unten bluten lassen. Weil ich bestraft werden musste. Weil ich mich nicht so verhalten dürfte. Ich wusste das, aber ich dachte sie wären weg. Ich dachte doch, dass sie weg wären!“
Den letzten Satz sprach sie voller Verzweiflung aus.
„Die Langoliers...“ wiederholte er langsam und merkte, dass ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief.
Carrie hatte schon so lange nicht mehr über sie gesprochen, dass er sie schon ganz vergessen hatte.
Er hatte gedacht, dass es vorbei wäre. Dass es die Monster ihrer Kindheit gewesen wären. Aber jetzt waren sie wieder da.
Und er wusste, was das bedeutete. Er wusste besser als jeder andere, was dieser Hurensohn ihr angetan hatte. Er hatte sie nicht nur verletzt, er hatte auch die Langoliers wieder zum Leben erweckt.
Robert wusste nicht, wie lange es diesmal dauern würde, bis sie wieder weggehen würden. Oder ob sie überhaupt wieder weggehen würden.
„Er wird dafür büßen.“ sagte er leise. „Er wird dafür büßen, dass er dir das angetan hat.“
„Was hast du vor?“ fragte sie ängstlich. „Er hat die Langoliers auf seiner Seite. Er kann dir weh tun. Ich will nicht, dass sie dir weh tun. Sie sind mächtig. Sie sind so stark wie...“
„Keine Sorge. Ich werde aufpassen.“ beruhigte er sie.
„Ich habe schon meine Eltern wegen ihnen verloren. Ich will dich nicht auch noch verlieren.“ sagte sie leise und streichelte seine Hand, die ihre Hand hielt.
Einen Moment war er versucht, zu fragen, warum sie ihre Eltern wirklich verloren hatte. Aber dann ließ er es.
Wie gern Robert auch daran zweifeln würde; tief in seinem Inneren wusste er, dass Carrie davon überzeugt war, dass ihre Eltern von den Langoliers umgebracht worden waren.
So verrückt das auch klingen musste, es war so.
Er wusste nicht, wer ihr von den Langoliers erzählt hatte und sie auf diese Idee gebracht hatte, aber wer immer es auch gewesen war:
Robert hasste ihn so sehr, wie keinen anderen Menschen.


+Fortsetzung folgt+

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.03.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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