Petra D.

Der Lebensbaum

Mühsam schob sie den Rollstuhl durch den menschenleeren Park. Es war ein nasser, kalter Herbsttag und sie war wütend, dass ausgerechnet sie heute mit der alten Dame an die frische Luft musste. Überhaupt, gefiel ihr der soziale Dienst in diesem Altenheim nicht besonders. Jeden Tag alte Menschen um sich zu haben, jeden Tag dem Tod im Haus begegnen zu müssen, die Gerüche nach vollen Windeln, nach abgestandener Luft und ungemachten Betten, das war ihr sehr unangenehm. Doch diesmal hatte der Richter kein Einsehen gezeigt, und sie zu 6 Wochen sozialer Arbeit verurteilt.

" Da vorne am See können wir einen Moment halt machen!" sagte die alte Dame und zeigte mit einem zittrigen Finger auf eine Stelle am Ufer, an der eine Bank unter einem Baum stand. " Ihre Finger wirken wie die knorrigen Äste dieses Baumes." dachte sie. Mürrisch und ohne zu antworten brachte sie den Stuhl zu dieser Stelle, befestigte die Bremsen und setzte sich auf die Parkbank. Sie hatte keine Lust auf ein Gespräch, und blickte schweigend auf den See. Natürlich wollte sich die alte Frau mitteilen, doch sie beschloss einfach nicht zu antworten.

Tanja war im Altenheim bekannt und jeder wusste, dass sie nicht freiwillig hier war. Man kannte sie als mürrisch und schweigsam. Das hätte ihre Gesprächspartnerin wissen müssen, doch die erzählte munter drauflos. " Es ist so eine schöne Stelle hier am See! Als ich noch ein Kind war, bin ich oft auf diesen Baum geklettert, habe ein Buch mitgenommen und gelesen."

" Wollen wir hier lange bleiben?" fragte sie in der Hoffnung, dass sie schnell wieder ins Haus kam, um einen heißen Kaffe zu trinken. Die kalte, feuchte Luft ging ihr durch und durch. Die alte Dame antwortete nicht darauf, sondern führte ihren Monolog weiter:" Unter diesem Baum habe ich mit meiner ersten großen Liebe gesessen, und ich vergesse nicht, dass es hier war, als er mir sagte, er müsse in den Krieg ziehen!" " Nun kommt wieder mal eine Kriegsgeschichte!" dachte sie und wünschte sich weit weg. " Warum müssen diese alten Leute immer nur vom Krieg erzählen?"

Leise erzählte die Frau weiter:" Er war so ein stiller Mensch. Niemals hat er jemandem wehgetan. Können sie sich vorstellen, was es bedeutet, wenn man von zu Hause weg muss, und auf andere Menschen schießen soll? "
" Nein!" sagte sie einsilbig und vergrub ihre Hände in den Manteltaschen. Ein Seitenblick auf die alte Frau zeigte ihr, dass sie Tränen in den Augen hatte. Ihr wurde unbehaglich zumute, Nun weinte sie auch noch! Das gab ihr so ein hilfloses Gefühl.
" Was ist mit ihm geschehen?" fragte sie, um die Frau abzulenken. " Er blieb lange weg und ich wartete auf ihn. Eines Tages kam er zurück- Stand einfach vor meiner Tür und nahm mich wortlos in den Arm." " Ja und?" fragte Tanja " Wir haben geheiratet, aber er war nicht mehr derselbe Mann, den ich so geliebt habe. Der Krieg hatte seine Seele zerstört. Hatte aus ihm einen ganz anderen Menschen gemacht."

" Das ist ja wohl oft im Krieg passiert." antwortete sie und dachte an die Wärme im Pausenraum des Altenheimes- " Er hat nie mit mir darüber gesprochen, was geschehen ist, und ich traute mich nicht zu fragen. Jeden Abend saß er in der Küche und betrank sich. Oft kam er danach ins Schlafzimmer, riss mich aus dem Bett und schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Es gab Tage, da konnte ich nicht aus dem Haus gehen, so grün und blau war mein Gesicht angelaufen." - Tanja kannte es nur zu gut. Ihr Vater hatte ihre Mutter auch oft verprügelt. Sie erinnerte sich daran, wie sie als Kind hinter der Tür gestanden und gebetet hatte, dass er sie am Leben ließ!

" Haben sie sich das gefallen gelassen?" fragte sie nun doch ein wenig interessiert. -" Was sollte ich machen? Ich hatte niemanden zu dem ich hätte gehen können! Erst als ich schwanger wurde, fasste er mich nicht mehr an. Doch am Abend der Geburt unseres Kindes, als ich noch erschöpft von den Strapazen der Geburt im Bett lag, kam er wieder betrunken zu mir und verprügelte mich so stark, dass ich ins Hospital musste. Er hatte dem Arzt im Hospital gesagt, die Hebamme würde sich um das Kind kümmern. Doch als ich endlich wieder nach Hause kam, war das Kind gestorben. Er hatte es verhungern lassen. Noch nicht einmal einen Namen hatte das kleine Wesen bekommen!"

Nun liefen dicke Tränen über das Gesicht der Frau und Tanja konnte nicht mehr gleichgültig sein. Sie holte ein Taschentuch aus der Manteltasche und gab es der Frau. " Was haben sie dann gemacht? Er musste doch sicher dafür ins Gefängnis?" fragte sie und stellte sich vor, wie es gewesen sein musste, mit solch einem Mann zusammen zu wohnen. " Nachdem das Kleine leblos in der Wiege lag, hatte er der Hebamme erzählt, es hätte hohes Fieber bekommen und sei über Nacht gestorben." - " Aber man muss doch gesehen haben, dass es verhungert ist!" entrüstete sich Tanja nun. " Kind, es war eine andere Zeit! Wir hatte alle nicht viel zu essen, und die kleinen Kinder auf der Strasse sahen alle dünn und hungrig aus. Es gab eben nichts!"

Tanja schämte sich ihrer abweisenden Haltung von vorhin. Was hatte diese Frau alles ertragen müssen! Und nun kam sie und ging so lieblos und unfreundlich mit ihr um! " Was haben sie dann gemacht?" fragte sie, denn auf einmal fand sie es interessant, etwas vom Leben ihrer Gesprächspartnerin zu erfahren. " Ich wurde krank und bekam Depressionen. Jeden Tag ging ich hier zum See, setzte mich unter diesen Baum und starrte ins Wasser. Seine Schläge und seine Grausamkeit waren mir gleichgültig geworden. Ich ertrug alles, was er mir antat, und hoffte, er würde mich eines Tages totschlagen" " Das ist ja schlimm, warum haben sie das Niemanden erzählt?" " Sei froh Tanja, dass Du nicht in dieser Zeit groß geworden bist. Scheidungen waren selten und das der Mann zu Haus den Ton angab, war normal. Außerdem wusste ich nicht, wohin ich gehen sollte, denn ich hatte keinen Beruf."

Der kalte Wind nahm zu, peitschte in Böen durch die Äste des Baumes. Wie riesige Finger bewegten sie sich und schienen nach ihnen zu greifen. Vor ein paar Minuten hätte sie das alles noch gestört, hätte sie gefroren und auf Rückkehr gedrängt, doch nun wollte sie wissen, was aus der Ehe der alten Dame geworden war. " Ich wurde dann wieder schwanger, doch diesmal blieb ich bei meinem Kind. Ich hatte mir geschworen, dass es leben würde, und dass sein Leben nicht durch seinen Vater zerstört werden sollte. Die Depression war einem tiefen Hass gewichen und der gab mir Mut, für das Kind zu leben und es zu beschützen." Sie sah Tanja an und Tanja nahm etwas Ungewöhnliches an der Frau wahr: Sie schien plötzlich wieder jung zu werden. " Ich habe gekämpft wie eine Löwin. Er wollte nun auch das Kind schlagen, und oft habe ich es mitten in der Nacht aus dem Haus gezogen und bin mit ihm hierher gegangen. Auf dieser Bank haben wir zwei dann gesessen , verängstigt, weinend und hoffend, sein Zorn werde sich wieder beruhigen."

" Immer wieder dieser Baum! - Er scheint tatsächlich eine große Rolle in ihrem Leben gespielt zu haben." sagte Tanja. Sie stellte sich vor, wie es sein musste, so einen festen Punkt im Leben zu haben. Etwas, an das man sich immer erinnern konnte, wohin man allezeit gehen konnte und sie beneidete die alte Frau ein wenig um diese stumme Zuflucht, bei der sie wieder und wieder Schutz hatte finden können. Egal was kam, der Baum stand hier am Ufer, hielt seine Äste schützend über sie, und schien auf sie zu warten, um sie durch seine Nähe und durch das Rauschen seiner Blätter zu beruhigen. Er war einfach nur da, von der Kindheit, bis ins hohe Alter. Es gab ihn schon, als die Frau geboren wurde und er würde noch da sein, wenn die alte Dame gestorben war, ja vielleicht sogar sie selbst würde er überleben.
Ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie nichts in ihrem Leben hatte, das für Beständigkeit stand. Wenn ihr etwas durcheinander geriet, so wie jetzt, konnte sie nirgendwohin. Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, sagte die alte Frau: " Es ist so ein schöner Platz hier! Ich werde den nächsten Sommer nicht mehr in seinem Schatten sitzen können. Meine Zeit mit ihm läuft ab. Warum trittst Du nicht mein Erbe an, und besuchst ihn ab und zu? - Es würde mir leichter fallen zu gehen, wenn ich wüsste, dass wieder ein Mensch seine Stärke genießen kann. Das wieder jemand unter seinen Ästen sitzt und dem Wind lauscht, der sanft seine Blätter streichelt!" Tanja nickte stumm dankbar, für das Geschenk, das sie so unverhofft bekommen hatte. Sie war auf einmal sehr gerührt.

" Wie ist es Ihnen denn nun weiter ergangen?" fragte sie, um sich abzulenken. " Eines Tages ging ich zur Polizei und meldete meinen Mann als vermisst." - " Er war verschwunden? Hat er Sie und das Kind verlassen?" fragte Tanja erleichtert, denn sie konnte sich vorstellen, wie Mutter und Kind unter dem Mann gelitten haben mussten. " Weißt Du Kind, ich bin alt und ich habe Dir gesagt, meine Zeit läuft bald ab. Deshalb verrate ich Dir ein Geheimnis!"
Ein Lächeln umspielte die faltigen Lippen der Frau. " Sie muss sehr schön gewesen sein, als sie jung war." dachte Tanja.
"Dieser Baum, der mir soviel bedeutet, der mich vor seiner Wut beschützt hat, der mich getröstet hat, der mir einen schattigen und geschützten Platz geboten hat." Sie beendete den Satz nicht sofort, sondern deutete mit einem Finger auf eine Stelle in der Nähe des Stammes-" Schon einige Jahre spendet er auch ihm Schatten."

Der Wind blies stärker, und es war inzwischen dunkel geworden, als Tanja den Rollstuhl zurückschob. Sie schwiegen, doch es war ein anderes Schweigen, als auf dem Hinweg. Ein stummes Verständnis verband die beiden und Tanja hatte zum ersten Mal das Gefühl dass sie etwas Sinnvolles mit ihrem Leben anfangen könnte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.04.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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