Björn Gottschling

Noch lange nicht praktisch, und schon gar nicht gut

“Wann hast du das letzte Mal in ein Poesiealbum geschrieben?“
Auf Bernds Schreibtisch lag so ein Exemplar im klassischen Stil: Quadratische Form, dick, insgesamt unhandlich, dazu bunt und herausfordernd. Ein Stilbruch zu Bernds sonstiger Einrichtung. Er legte Wert auf ein einheitliches Bild, nicht auf ein steriles, aber auf ein Bild, das nicht bunt, sondern in Holzfarben und weiß gehalten war. Und irgendwie passte zu diesem Bild kein buntes, quadratisches Poesiealbum. Er überlegte, was heutzutage, außer Poesiealben und Ritter-Sport-Schokolade, noch quadratisch war, fand aber keine Antwort. Vielmehr vertiefte er sich in den Ritter-Sport-Slogan “Quadratisch, praktisch, gut.“ und fragte sich, wieviel man dem qpg-Werbetexter wohl gezahlt hatte. “Wohnst du noch, oder lebst du schon?“, oder “Ich bin doch nicht blöd!“, das waren Werbeslogans! Auch wäre der Slogan “Wohnst du noch? Ich bin doch nicht blöd!“ interessant gewesen, aber “Quadratisch, praktisch, gut.“, dass war weder interessant, noch verständlich. Er sah keinen Zusammenhang zwischen quadratisch und praktisch, oder zwischen quadratisch und gut. Wenn etwas praktisch war, dann war es auch gut, das leuchtete ein. Aber wenn etwas quadratisch war, war es noch lange nicht praktisch, und schon gar nicht gut. Konnte Schokolade überhaupt praktisch sein? Und war Schokolade nicht genauso gut, wenn sie statt quadratisch, rechtecktig oder auch rund war? Ritter-Sport konnte doch wohl kaum behaupten wollen, dass sie rechteckig anders schmeckte! Und Bernd erinnerte sich an seinen letzten Ritter-Sport-Verzehr: Er aß ein Ritter-Sport-Mini (für alle, die keine Kindheit hatten: Ein Ritter-Sport-Mini setzt sich aus vier kleinen Quadraten zu einem großen Quadrat zusammen), indem er es teilte und somit zwei zusammenhängende Quadrate, also ein Rechteck (!), aß. Das verblüffende Ergebnis: Das Rechteck schmeckte wie ein Quadrat! Und nicht nur bei Ritter-Sport-Vollmilch, sondern auch bei Ritter-Sport-Marzipan, Ritter-Sport-Haselnuss, Ritter-Sport-Yoghurt und Ritter-Sport-Rum. Möglicherweise auch bei allen anderen Sorten. Jedenfalls hatte Annas Poesiealbum, und möglicherweise auch alle anderen Poesiealben, mit der Ritter-Sport-Schokolade viel gemeinsam: Es war genauso quadratisch und es war genauso wenig praktisch (ob es genauso gut war, darüber streiten sich die Gelehrten). Versuchte man es ordentlich in ein gewöhnliches Bücherregal zu stellen, scheiterte das Experiment, weil es wesentlich niedriger als andere Bücher war, und dazu noch wesentlich tiefer. Gegen „Momo” sah es regelrecht verloren aus. Und ein Buch, das nicht mit Momo harmonierte, hatte in einem Bücherregal auch nichts verloren. Das Poesiealbum seiner Mutter stand somit auch nicht im Regal (in ihrem Haushalt gab es auch Momo), sondern lag (eine Ritter-Sport-Tafel konnte man genausowenig stellen), eine Etage unter dem Fach für Süßigkeiten, dort, wo auch unförmige Schokolade zu finden war.
Daniel aber bedachte nicht, dass ein Poesiealbum, genauso wie eine Ritter-Sport-Schokolade, quadratisch, weniger praktisch und gut war, besaß auch kein Bücherregal, geschweige denn Momo. Er dachte in der Tat nur daran, wann er das letzte Mal in ein Poesiealbum geschrieben hatte, fand aber keine Antwort. Er wusste zwar, dass er grob geschätzt zwanzig Zahnspangenträgerinnen mit seinem Eintrag glücklich gemacht hatte, aber wann die letzte dahingeschmolzen war, das wusste er nicht. Nur an seinen Spruch (er bediente sich immer des gleichen) konnte er sich erinnern: “In allen vier Ecken soll Liebe drin stecken.“. Später merkte er schon, dass Verse wie “Sei gehorsam, sei bescheiden, folge gern der Eltern Wort. Lerne reden, lerne schweigen, aber stets am rechten Ort.“ hier und da angesagter waren, sein Vier-Ecken-Spruch verfehlte trotzdem nie die Wirkung. Er fühlte sich auch niemals zu Kreativität verpflichtet, wenn ihn ein Spruch wie „Halte mir mein Album rein, sonst schreibe lieber nicht hinein. Reiße mir kein Blatt heraus, sonst ist unsre Freundschaft aus.” begrüßte. Seine Kreativität hätte er vermutlich eher - wenn er PC-Freak gewesen wäre - in die Erstellung der Homepage www.gaengige-poesiealbum-sprueche.de gesteckt.
“Keine Ahnung. Warum?“
“Anna hat mir ihr Album gegeben.“
“Anna?“
Daniel schenkte dem Telefonat nicht die volle Aufmerksamkeit.
“Ja, die kleinere Schwester von Andrea.“
Er saß am Rechner und überlegte, welchen Bildschirmschoner er aktivieren sollte.
“Andrea?“
Es war nicht einfach, sich zwischen Britney Spears, Dolly Buster, Gina Wild, Claudia Schiffer, Heidi Klum und Pamela Anderson zu entscheiden.
“Hallo? Bist du es wirklich? Erde an Daniel, Erde an Daniel! Andrea. Sebastians Freundin. Oder muss ich dir noch sagen wer Sebastian ist?“
Da alle blond waren und Ohren hatten, entschied er sich einfach für die Schönste, die Katjes-Frau Heidi Klum.
“Nee, schon gut.“
Anna war 13 Jahre alt. Vielmehr bestand sie darauf, dass sie schon 13½ war. Und wenn sie 13¾ gewesen wäre, 13 war ein gefährliches Alter für Mädchen (Jungen waren grundsätzlich immer gefährlich). Mit 13 versenkten sie ihren Kopf in Mutters Schminktopf, liefen auf Schuhen mit ungefähr 30cm-hohen Absätzen, kauften sich den ersten Tanga in Größe 46 (der dann immer noch so üppig war, dass er bis unter die Brust gezogen werden musste), trugen ihr erste MissSixty-Jeans (die überflüssig war, weil der bis unter die Brust gezogene Tanga auch unter Schlabberhosen hervorgeguckt hätte), veränderten ihre Frisur (von lang nach kurz, von kurz nach lang - Hauptsache anders) und rasierten sich unter den Armen (zum Glück nur da!). Und wenn 13½-jährige “Frauen“ (Mädchen waren die Kleinen, die 12jährigen) ihre Poesiealben an 20jährige “Boys“ verliehen, war das mehr als nur eine Geste. Als Bernd sich überwunden hatte das Buch aufzuschlagen, fand er auf seiner vorgemerkten Seite, die nicht zu übersehen war, Annas fetten Lippenabdruck mit dem Kommentar “für Bernd“, der zu allem Überfluss noch mit einem Herzchen umrandet war. Annas dreißig Freundinnen waren wahrscheinlich schon jetzt auf den Eintrag ihres “Schatzis“ gespannt. Und hundert kleinere Boys starben vermutlich erstmalig an Eifersucht.
“Was schreibst du denn rein?“
Heidi Klum wackelte von links nach rechts.
“Keine Ahnung, deswegen hab ich ja gehofft, von deinen Poesiealbumerfahrungen zu profitieren.“
Heidi Klum wackelte von rechts nach links.
“Hm. Möchtest du denn, dass sie dich weiter anhimmelt, oder willst du sie loswerden?“
Dass man aus dem Gefallen einen eigenen Nutzen ziehen könnte, hatte Bernd noch nicht bedacht. Jetzt, da der Gedanke da war, dachte Bernd aber an seine “Beziehung“ zu Anna. Er hatte das Babysitten satt, denn Anna verkaufte ihren Babysitter als Lover und die Babysitterstunden als Dates.
“Wenn du willst, dass sie dich weiter anhimmelt, dann schreib ihr einen von den typischen Handy-Sprüchen rein, du weißt schon.“
“Sei wie das Veilchen im Moose, sittsam, bescheiden und rein. Nicht wie die stolze Rose, die immer bewundert will sein?“
“So ähnlich.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.04.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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