Björn Gottschling

Das Bild der Frau in der Badewanne

“Bist du eingeschlafen?“
Die Herrin des Hauses stand mitten im Badezimmer. Bernd hasste es, wenn er beim Baden gestört wurde. Das war schlimmer als beim Essen gestört zu werden, schlimmer als beim Telefonieren gestört zu werden, und fast so schlimm wie beim Sex gestört zu werden. Baden war mehr als nur eine Reinigung des Körpers. Baden war Entspannung pur. Baden war ein Lebensgefühl. Baden war geil.
“Nein.“
Er öffnete nur ungern die Augen. Die Situation erinnerte ihn an die Szene im Aufzug, als er mit der verwirrten alten Frau, die immer „Satan, du altes Mistvieh!” murmelte, festsaß. Er konnte jetzt nicht einfach gehen, konnte die Fragende nicht ignorieren, konnte nicht die Augen geschlossen halten. Aufzüge und Badewannen waren wie das Leben: Man durfte nicht einfach gehen, nicht das an einen Herantretende ignorieren, nicht die Augen geschlossen halten.
“Du liegst nun schon eine Stunde da drin. Willst du nicht so langsam mal rauskommen?“
Er bereute es die Augen geöffnet zu haben.
“Ja. Was ist denn noch?“
“Sebastian hat gerade angerufen.“
“Und?“
“Er kommt am Samstag.“
Das war wenigstens eine gute Nachricht. Wenn Sebastian kam, gab es jeden Tag leckeres Essen, niemals Linsensuppe, und manchmal sogar Nachspeise. Dann würde auch Andrea wieder zu Besuch kommen, und dann würde es garantiert Nachspeise geben. Bernd liebte gutes und reichhaltiges Essen. Essen war das Baden des Geschmacks. Ein Jammer dass man Essen und Baden nur schwer kombinieren konnte. Bisher hatte er nur eine gesehen, die diese beiden Highlights zu vereinen verstand. Es war die wunderschöne Frau aus der Eis-Werbung. Sie nahm ein volles Schaumbad und aß dabei ein Magnum Classic. Um die Wanne herum waren Teelichter aufgestellt, und sie ließ ihren Fuß über den Badewannenrand gleiten. Dann machte es leise Knack, das Eis war gebrochen und die Werbung zu Ende. Bernd fragte sich, ob nach dieser Werbeeinheit die Weltbevölkerung häufiger Magnum aß, oder öfters in die Badewanne stieg. Und er fragte sich, wieviele den Traum wirklich wahr machten und in der Badewanne ein Magnum aßen. Er probierte es nicht aus. Es wäre eine Reizüberflutung gewesen.
“Schön! Wie lange bleibt er?“
“Nur für fünf Tage.“
Das war ärgerlich. Fünf Tage, die mit einem Samstag starteten, bedeuteten nur zwei Tage, die sich lohnten. Denn Montag, Dienstag und Mittwoch aß Bernd im Altenheim. Im Altenheim war die Kost alles andere als köstlich. Das Essen wurde in Behältern serviert, die man aus Krankenhäusern kannte oder zum Küchenzubehör in Justizvollzugsanstalten zugeordnet hätte. Das Essen selbst passte sich der Servierart an. Täglich war ein Püree auf dem Teller zu finden, das man nach dem vierten Essenstag schon nicht mehr genießen konnte, und der Nachtisch bestand meistens aus einem sogenannten Joghurt, der sich in Wirklichkeit aus Fett und Geschmacksstoffen zusammensetzte. Die Zivildienstleistenden waren sich einig, dass das Essen im Heim zwei Zwecke erfüllte: Erstens sollten sie den Stuhlgang in Gang bringen und zweitens die Leidenszeit der Bewohner verkürzen. Beim Personal führte es zu außerregelmäßigen Stuhlgängen, die krankenscheinpflichtig waren und somit die Leidenszeit der Kolleginnen und Kollegen verlängerten.
“Er wird Samstag und Sonntag auch gleich bei Annette in Haltern sein.“
Damit hielt sich die anfängliche Freude in Grenzen, denn der Essensfaktor würde nicht in Kraft treten. Vielmehr setzten anderen Faktoren in Kraft, nämlich der Zimmer-belegt-Faktor, Auto-in-Gebrauch-Faktor und der Matratze-statt-Bett-Faktor. Andrea und sein Sebastian würden das Zimmer belegen, dass sich die beiden Brüder sonst teilten, sodass Bernd sie bis zu sechs Stunden (nur wenn sie schnell waren, war das Zimmer in einer Stunde wieder zu betreten) nicht stören durfte. Belegten sie das Zimmer nicht, waren sie unterwegs und brauchten somit das einzige Auto. Die Krönung aber war der Matratzen-statt-Bett-Faktor: Andrea übernachtete bei Sebastian, wodurch der kleinere Bruder nicht in seinem Bett, sondern eben auf einer Matratze im Wohnzimmer schlafen durfte, wie sie es nannten. Dass hinter der Angelegenheit ein knallhartes Muss stand, wurde nicht thematisiert.
“Du kannst dich ja dann darauf einrichten, dass sie Montag bis Mittwoch das Zimmer belegen werden, ja?“
Die anfänglichen Bitten waren zur Selbstverständlichkeit geworden. Früher klopfte Andrea noch, wenn sie Bernds Zimmer betrat. Mittlerweile musste Bernd klopfen und warten, bis er sein Zimmer betreten konnte. Er legte sich in der Sebastian-ist-wieder-da-Zeit ein paar Kassetten und Bücher raus, damit die Wartezeiten nicht ganz so langweilig waren. - Und damit er nicht mitbekam, warum er das Zimmer nicht betreten konnte.
“Schon klar.“
“Gut. Soll ich dir dann jetzt das Badewasser ablaufen lassen?“
“Danke, das schaffe ich soeben noch alleine.“
Die Badezeit war beendet, die Zeit des Genießens vorbei. Bernd verließ die Wanne der Entspannung und suchte im Gefrierschrank nach einem Magnum. Natürlich fand er keines. Er tröstete sich mit Gedanken, dass er zum Wohlfühlen ja auch keine nackte Frau und Teelichter brauchte. Und außerdem zeigte das Fernsehen die Magnum-Werbung auch nicht mehr. Wahrscheinlich beschwerte man sich über das Irreale, denn es sei unmöglich, dass man in Ruhe baden könnte, ein Magnum im richtigen Moment da wäre, oder eine nackte Frau in der Wanne liegen hätte. Selig der, der nur eines der drei Dinge behaupten konnte!
“Na schön. Ich bin jetzt weg, ich muss noch einkaufen.“
“Bringst du auch mal wieder ein Magnum mit?“
“Ein Magnum?“
Bernd hätte auch gerne eine nackte Frau bestellt, aber die gab es nicht im Supermarkt. Im Supermarkt war immer alles verpackt. Und eine verpackte nackte Frau, wäre ja keine nackte Frau gewesen.
“Classic?“
Die Frage konnte auch nur eine Frau stellen. Jeder Mann, der die Werbung kannte (und alle Männer kannten die Werbung, weil sie ständig im Fernsehen lief und Männer ständig mit Bier und Unterhemd vorm Fernseher saßen), kaufte Classic. Hätten sie Mandel gekauft, hätte die nackte (aber leider mit Wasser und Schaum bedeckte) Frau Mandel essen müssen.
“Was sonst? Natürlich Classic!“
“Die Dreier-Packung?“
“Ganz egal, Hauptsache Classic.“
Aus der Werbung ging nicht hervor, ob das Magnum aus einer Dreier-Packung stammte, oder nicht.
“Und Mama...“
“Ja?“
“Haben wir eigentlich noch Teelichter?“

“Möchtest du einen Teller Linsensuppe mitessen?“
Bernds Vater hatte seinen Kopf durch die Zimmertür gesteckt.
“Gibts denn Brötchen dazu?“
“Nein.“
Mit einer Linsensuppe konnte man ihn nicht unbedingt locken. Er schätzte keine Linsensuppe. Und selbst die Bibel gab ihm Recht, die leicht abwertend von einem Linsengericht im Falle Jakob und Esau sprach. Er konnte es schon damals in der Sonntagsschule nicht begreifen, wie man für eine Linsensuppe, wohlmöglich auch ohne Brötchen, sein Erstgeburtsrecht, was auch immer das war, eintauschen konnte. Wäre es ein Jägerschnitzel mit einem Haufen Pommes frites gewesen, oder ein halbes Hähnchen mit einer ordentlichen Portion Reis, dann hätte man ja mal über die Wertigkeit des Erstgeburtsrechts nachdenken können, aber bei einem Linsengericht (ohne Brötchen)? Esau musste dumm oder verfressen gewesen sein. Oder Jakob verstand es, ein Linsengericht so zuzubereiten, dass es fast so gut wie ein Jägerschnitzel mit einem Haufen Pommes frites, oder wie ein halbes Hähnchen mit einer ordentlichen Portion Reis schmeckte. Aber das konnte Bernd nicht glauben. Eher war Esau verfressen und dumm.
“Hm, wenn es nun eine Erbsensuppe wäre...“
Bernd unterschied sehr wohl zwischen einer Linsen- und einer Erbsensuppe. Der Unterschied zwischen den beiden Suppen lag darin, dass die Erbsensuppe einfach leckerer war. Und da es entweder nur die eine, oder die andere Suppe gab (nur in Ausnahmefällen gab es Hühnersuppe mit Nudeln), hoffte er immer auf die Erbsensuppe. Und die aß er am liebsten mit einem trockenen Brötchen, oder auch mit zwei trockenen Brötchen. Er liebte es, wenn er zur Suppe - möglichst bei jedem Löffel - ein Brötchen essen konnte. Und er liebte es noch viel mehr, wenn er nach der Suppe noch immer ein Stück vom Brötchen übrig hatte, sodass er den Suppenrest, der nur noch schwer auf einen Esslöffel zu bekommen war, per Eintunken des Brötchenstückes aufnehmen und essen konnte. Das war nicht nur lecker, das war schon fast eine Dip-Kultur. Alles was man irgendwie dippen konnte, war gut. Das fing bei knusprigen Nachos in scharfen mexikanischen Soßen an, ging über salzige Kracker in cremigen Philadelphia (oder anderen leckeren Frischkäsen), über weichem Weiß- oder Stangenbrot in Aioli, bis hin zu den einfachen Brötchen in Suppenresten (vorzugsweise in Resten von Erbsensuppen). Wenn Essen das Zigarettenrauchen der Nahrungsaufnahme war, war Dippen das Pfeifenrauchen des Essens - keine Sucht, kein Muss, sondern eine Wucht, ein Genuss.
“Die Linsensuppe ist auch lecker. Ich kann die sowieso nicht alleine aufessen. Und wegschmeißen wollen wir sie ja nicht, oder?“
Das war so nicht ganz richtig. Er hätte sie gewiss alleine aufessen können, hätte sich aber am Abend auf die Frage “Und, wie hat euch meine Suppe geschmeckt?“ etwas einfallen lassen müssen, warum sein Sohnemann keine Antwort geben konnte (und die Herrin des Hauses fragte grundsätzlich immer nach). Bernds Vater war schon immer ein guter Esser gewesen. Er liebte gutes und reichhaltiges Essen (ganz der Sohnemann) - was man ihm mit den Jahren auch ansehen konnte. Er war kein kerniger Typ, hatte aber einen ordentlichen Bauch, einen typischen Männerbauch. Die Fettreservoire der Männer lagen so natürlich in der Bauchgegend, wie sie bei Frauen in den Hüften, an den Oberschenkeln, am Po und am Bauch lagen. Das konnte einerseits gemein sein, andererseits war es auch irgendwie fair, sonst hätte der Mann sich neben dem Bierbauch außerdem noch zum Bierpo, zur Bierhüfte und zum Bierschenkel rechtfertigen müssen (nein, Bierstengel sind was anderes!). Die Fettreservoire der Frauen bekamen von den Männern keine Kosenamen. Wohlmöglich aus gutem Grund, denn im Falle eines Beschlusses der Frau, die sich fürs Abnehmen entschied, hätte der Mann mitleiden müssen, da Frauenmagazine nur Partner-Diäten kannten (bei alleiniger Diät der Frau kam es aufs Selbe hinaus, weil die Köchin dann anders, oder gar nicht kochte).
“Na gut, dann esse ich mit.“
“Gut. Mama hat auch Eis gekauft.“
Bernd wurde hellhörig.
“Magnum?“
“Ja, Classic.“
Vater und Sohn grinsten sich an. Sie brauchten es nicht aussprechen, um zu wissen, dass sie das Gleiche dachten. Vor ihnen war das Bild der Frau in der Badewanne, das Bild des Schaumbades, der Teelichter und des Magnums. Beinahe hätten sie die Linsensuppe nicht mehr angerührt. Beinahe hätten sie um den Platz in der Badewanne gekämpft. Zum Glück hatten sie keine Teelichter.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.04.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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