Manfred Gries

Blasenschwäche

Der Abend schaute lüstern in meine Gedanken und weckte meine Sinne für einen Spaziergang mit “Ich find deine Stimme schön“. Blumendüfte, Frühjahrsglanz in meiner Seele und die Dame meines Herzens neben mir - was kann schöner sein, als gemeinsam einen Abend in Wien bei lauschiger Frühjahrsluft und dem Käuzchen von nebenan zu verbringen. Das Käuzchen stimmte zu. “Kuckkuck, heute schauen wir uns einmal ein paar wunderschöne Häuser an. Ich will dir zeigen, wie mein Haus einmal aussehen wird“, lächelte mich die Architektin an und ich wechselte vorsorglich schon einmal das Schuhwerk. “Klar machen wir das“, erklang meine Antwort, während ich mir die Schuhbanderln durch die Finger gleiten ließ und geschickt eine Schleife band. Hübsch anzusehen. “Ich find deine Stimme schön“ ging noch einmal ins Gartenhaus zurück - ich trat derweil in die klare Nacht hinaus. Das Käuzchen klang seltsam lächelnd heute Abend, als würde es mehr von der Situation verstehen, die sich ereignen sollte auf diesem Spaziergang durch die kleine Gartensiedlung mit den schönen Häusern.

“Ich bin fertig“, folgte mir “Ich find deine Stimme schön“ nach 5 Minuten. Was in dieser Zeit geschah, weiß ich nicht. Später wurde mir klar, dass sie noch schnell das WC aufgesucht hatte - man kann ja nie wissen, wie lange so ein Spaziergang dauert, Zwar hatte ich schon einige Erfahrungen gesammelt - das Abendessen mit Stockfisch und Spiegeleiern lag hinter mir - aber so richtig vorbereitet war ich denn nun doch nicht. Nur meine Schuhe machten einen angepassten Eindruck und so ging es los. Verschiedene Bauten begleiteten ihre Erklärungen, die sie mir zu geben wusste. “Lehm ist eigentlich ein sehr schönes Material“, erklärte sie. “Aber so ganz bin ich noch nicht überzeugt. Auch die Holzbauweise hat ihre Vorteile.“ Im Dunkel des Abends erschien ein aus Kiefernholz bestehendes Bauwerk vor unseren Augen. “Weißt du, Kuckuck, eigentlich sind natürlich Ziegel günstiger“, erklärte sie das nächste Bauwerk - ich verspürte einen leisen Druck auf meiner Blase. “Natürlich kann man auch in einem Lehmbau mit Fußbodenheizung beträchtlich Energie sparen“, erklärte sie dem aufkommenden Gefühl in meinem Unterleib. “Und das WC bringt man am besten im Keller unter, da spart man Kanalisation.“

Vorsichtig nahm ich das Thema auf, das sie mir und meinem Unterleib zugeworfen hatte. “Du, ich muss einmal auf die Toilette“, ließ ich mich vernehmen. “Später“, lautete ihre Antwort und das Käuzchen schien kurz vor einem Lachanfall zu stehen. “Du kannst hier nicht einfach zu einem Busch gehen, wir sind hier in Wien. “Vielleicht können wir ja kurz ins Gartenhaus zurück“, warf ich ein. “Später“, antwortete sie. Das Wort “später“ prägte sich in meine Sinne und begleitet fortan den lauschigen Spaziergang, der uns nun zu einem weiteren Bauwerk mit WC im Keller führte. “Die Leute, die dieses Haus bewohnen, kenne ich“, fuhr sie fort. “Die haben das Holz selbst gesägt und mit einem Schreiner zusammen für wenig Geld die Außenfassade gestaltet. Sieht das nicht hübsch aus?“ Notdurftgedrungen stimmte ich ihr zu, während meine Lust eine erhebliche Verlagerung erfuhr und meine Sinne sich auf das Ende des Spazierganges zu konzentrieren begannen. “Können wir nicht kurz einen Abstecher nach Hause machen?“ Das Wort “später“ hatte ich vorausgesehen - trotzdem, einen Versuch war es wert.

Bau für Bau begleitete meinen Leidensweg und mit jedem Detail, das sie zu berichten wusste, suchten meine Gedanken Abwechslung im Keller jener Fassaden, die jede auf ihre Weise schön war. Das Käuzchen war inzwischen verstummt - wahrscheinlich vor Lachen vom Baum gefallen und der Abend neigte sich seinem Ende zu. Gerade rechtzeitig erreichten wir das kleine Gartenhaus, dass uns den Frieden der Nacht und mir das Ende meines Leidens gewährte. Es war “später“ geworden.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.04.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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