Klaus Eylmann

Der Finger

Als Ellen seinen Finger brach und mit einem Messer von der Hand trennte, wurde Daniel ohnmächtig. Das weiße Oval eines Gesichts war das erste, was er danach sah. Ellen stand vor ihm und weinte. Der Schmerz versuchte ihn in die Bewusstlosigkeit zurückzustoßen. Seine verbundene Hand erschien ihm wie ein Fremdkörper. Fremd schien ihm auch Ellen. Dass sie seinen leichtfertigen Vorschlag in die Tat umsetzte. Der seelische Schmerz war schlimmer.

“Ich bin besorgt“, hatte der Zentral-Computer gesagt. Das war vor ein paar Wochen gewesen. Besorgt? Ein Computer? Ebenso wenig konnte der Monitor einen bekümmerten Ausdruck annehmen.
Obwohl Daniel als Kybernetiker Zugang zu ihm hatte, hatte sich die Kommunikation mit dem Zentral-Computer seit einigen Jahren auf einen verbalen Austausch beschränkt. Fünfzig Meter unter der Erdoberfläche, von Robotern gewartet, verwaltete dieser die Stadt Dunbar und den Rest der Welt.
“Ich bin besorgt.“
“Wieso?“
“Die Kirche“, teilte der Computer mit, “hat in ihren Labors ein Gott-Modul entwickelt.“
“Für wen?“
“Für mich. Sie sucht nach einem Weg, es mir einzusetzen.“

Der Schmerz warf Daniel in die Gegenwart zurück. Sein Blick schien durch Ellen hindurch zu gehen. Er nahm nicht wahr, dass sie ihm die Jacke anzog und hörte kaum, wie sie zu ihm sagte: “Er steckt in der rechten Tasche.“

Daniel hatte Ellen von den Befürchtungen des Zentral-Computers erzählt.
“Sie schließen die Kirchen“, sagte sie darauf. “Das macht mir Angst.“
Ellens trotz ihrer vierzig Jahre jung wirkendes Gesicht sah mit den zusammengezogenen Augenbrauen merkwürdig streng aus. Sie legte eine Hand auf Daniels Arm.
“Hilf den Menschen.“ Sie sagt Menschen und meint die Kirche, dachte Daniel. Er wehrte sich in Gedanken. Seit er den Unfall hatte, waren ihre Ansicht über dieses Thema auseinander gedriftet. Logik und Glauben schlossen sich für ihn aus. Für Ellen nicht. Bei Kontroversen zwischen Dunbars Administration und den kirchlichen Autoritäten hatte sie sich stets auf die Seite der Kirche geschlagen.
“Die Macht, die die Kirche vertritt, ist nicht von dieser Welt.“ Und besitzt damit eine übergeordnete Autorität. So verstand Daniel sie.
“Du kannst nicht von mir verlangen, dass ich es mache“, hatte er gemeint.
“Finde einen anderen Weg“, sagte sie nur. Und er fand ihn.

“Wir wissen das Opfer, das Sie gebracht haben, zu würdigen. Mit Gott wird die Welt eine bessere sein.“
Kneipengänger standen in Reihen an der Theke. Ihr Rufen, Lachen, Kreischen übertönte jede Unterhaltung. Die beiden Männer saßen sich an einem Tisch gegenüber. Daniel, hager, in mittleren Jahren und einem hellgrauen Anzug. Blassblaue Augen in bleichem Gesicht.
Der andere, Monsignor Rizzoli, ein alter Mann mit kaltem Blick und festgezurrtem Lächeln, fiel in der Cromium Bar ebenso wenig auf. Etliche Gäste trugen wie er das Kreuz der Kirche auf dem Revers ihres dunklen Anzuges. Zwei Robotpolizisten gingen am Fenster vorbei. Daniels Fingerstumpf begann zu schmerzen. Er wandte sich dem Gottesmann zu, dessen Blick sich an dem Päckchen, das auf dem Tisch lag, festsog. Daniel schob es ihm zu, stand auf und verließ das Lokal. Er bahnte sich den Weg durch eine Gruppe von Priestern, die singend durch die Gernotstraße zogen und auf diese Weise gegen die Schließung ihrer Kirchen protestierten.
Daniel kniff die Augen zusammen. Durch die aufgerissenen Wolken kam die Sonne und spiegelte sich im Metall der Roboter, die an ihm vorbei gingen. Kaum war das rötliche Licht ihrer Augen zu erkennen.
Die Gernotstraße mündete in den Platz der menschlichen Einsicht, um den sich das Kybernetische Institut ausbreitete. Kinder spielten Himmel und Hölle. Das Fauchen eines Raumfrachters übertönte ihr Geschrei. Dann tauchte das Raumschiff hinter den Gebäuden auf und verschwand in den Wolken. Daniel sah, wie einige Roboter in einem niedrigen Gebäude verschwanden und am anderen Ende wieder heraus kamen. Vorbei die Zeiten, dachte er, als wir uns mit Badehosen in der Waschanlage hinter die Metallmänner gestellt haben.
Daniels beugte sich vor, kämpfte gegen die Windböen an, die über den Asphalt fegten, als er auf das Institut zuging. Kaum sah man, dass er das rechte Bein nachzog. Ein Unfall, hatten die Ärzte gesagt. Daniel konnte sich nicht daran erinnern.
Ein Robotpolizist stand verloren auf dem riesigen Platz und grüsste. Eine Taube ruhte auf seinem Kopf. Daniel konnte nicht lachen. Seine Stimmung war grau wie der Tag.
Er war einer der Wenigen, die noch im Institut arbeiteten. Als er das Gebäude betrat, war er der einzige Mensch in der Halle. Eine Kehrmaschine zog brummend ihre Runden. Daniel war, als lauere am Ende der Halle der Fahrstuhl auf ihn. Fuhr er nach oben, gab er dem Mann der Kirche eine Chance, seinen Anschlag auszuführen. Daniel ging auf den Lift zu und legte den Finger seiner Linken auf den Scanner. Die Tür des Fahrstuhls öffnete sich und er fuhr mit dem Lift in die Tiefe.
Von dort aus führte eine Treppe weiter nach unten. Es war keinem Menschen gestattet, den Fahrstuhl bis zu dem Ort zu benutzen, an dem der Computer stand, und Daniel benötigte zehn Minuten, bevor er den Finger auf den nächsten Scanner legen konnte.
Hinter der Tür lag ein metallener Würfel. Hoch wie ein Mensch. Nichts deutete auf einen Computer hin, wie er ihn kannte und Daniel erschrak. In was hatte sich die Maschine entwickelt? Er ging um den geschlossenen Würfel herum. Das war´s Rizzoli, dachte er.
“Ich bin besorgt.“ Nun klang es wie Hohn. Der Mann der Kirche führte die Zeichnung eines Computers mit sich, den es in dieser Form nicht mehr gab.
Hinter dem Würfel öffnete sich eine weitere Tür und Daniel ging hindurch. Verloren stand er in dem kleinen Raum.
“Ich weiß das Opfer, das Sie gebracht haben, zu würdigen“, sagte der Computer und wiederholte damit die Worte des Kirchenmannes. Zufall? Er musste Augen und Ohren in der Stadt haben. Wenn Daniel es nicht besser wüsste, hätte er glauben können, der Computer wolle ihn verspotten. Dieser hier schien Machiavelli studiert zu haben. Computer kannten weder Emotionenen noch Leidenschaft. Auch keine Ehrfurcht. Und nun bemühte sich ein Missionar mit einem Gott-Modul zu ihnen herab, um dem Computer Ehrfurcht beizubringen. Summen durchzog den Raum, in dem ein Stuhl und ein Tisch standen. Mannshohe Bildschirme beherrschten die Wände, aus denen die Frauenstimme des Computers zu hören gewesen war.
“Ich wünsche einen guten Morgen, Daniel.“ Der Gruss des Computers galt nicht ihm, sondern dem Mann, der Daniels Finger vom Scanner nahm und wieder einsteckte. Daniel sah auf dem Monitor, wie Rizzoli in den Fahrstuhl stieg. Er kannte den Weg, musste Daniels Beschreibung auswendig gelernt haben. Er kam aus dem Lift und ging ohne zu zögern die Treppe hinab. Nun stand er vor dem letzten Scanner und der Tür, die ihn vom Computer trennte. Daniel beobachtete, wie Rizzoli den Finger aus der Tasche zog und auf den Abtaster drückte, wie die Tür sich öffnete. Dann verschwand der Mann. Daniel sah ihn nie wieder.

“Es war ein Anschlag auf meine Integrität. Du hast das Richtige getan“, sagte der Computer, als Daniel sich anschickte, den Raum zu verlassen.
“Ich habe den steinigeren Pfad genommen“, entgegnete Daniel.
“Sieh her!“, befahl der Computer. Ein gigantisches Raumschiff hob sich von den Sternen ab. Roboter krochen wie Ameisen auf ihm herum. Dann wurde der Bildschirm dunkel.
“Wir bauen ein Generationsschiff.“
“Wo?“
“Auf dem Mond.“
“Für wen?“
“Die Frauen und Männer der Kirche.“
“Aber die leben doch im Zölibat!“, rief Daniel.
“Eines noch“, hörte er die Frauenstimme sagen. “Der Finger liegt auf der Krankenstation. Melde dich dort morgen. Der Medbot wird Deine Hand wieder herstellen.“

Der Robotpolizist grüßte wie gewohnt, als Daniel dem Kybernetischen Institut zustrebte. Autobusse mit vergitterten Fenstern fuhren an ihm vorbei auf den Spaceport zu. Flugzeuge landeten dort in dichter Folge. Zwei Mal am Tag schossen Frachtraumer in die Wolken und flogen Richtung Mond. Bevor Daniel seinen Arbeitsplatz aufsuchte, ging er zur Krankenstation.
Als Ellen am Abend bemerkte, dass seine Hand wieder hergestellt war, wusste sie, dass etwas schiefgelaufen war. Einen Tag später war sie verschwunden.

Wochen darauf, an einem herrlichen Sommertag, als Menschen in lustvoller Langsamkeit durch die Gernotstraße schlenderten, sah Daniel seine Frau an einem Schaufenster stehen. “Ellen!“, schrie er und lief auf sie zu. Sie drehte sich um. Für einen Moment sah er ihr bleiches Gesicht, dann verschwand sie in einer Seitenstraße. Wieso kehrte sie nicht zu ihm zurück? Hatte sie Angst? Wovor? Er, Daniel, war es doch, der Rizzoli seinen Finger gegeben hatte.

Einen Tag später machte sich Daniel auf den Weg zur Nachkontrolle in der Krankenstation und ging durch die verwaisten Korridore des Instituts. Die Namensschilder an den Türen waren das Einzige, was an Kollegen erinnerte, die vor Jahren das Gebäude bevölkert hatten. Ein Fahrstuhl spieh eine Gruppe von Menschen aus. Ihre Augen schienen ohne Leben. Sie bewegten sich wie Automaten neben ihm, als sie von Robotern zur Krankenstation geführt wurden.
“Wer sind diese Leute? Was macht ihr mit ihnen?“, fragte Daniel den Medbot, der einen nach dem anderen durch eine Tür schob.
“Es sind Gläubige. Wir deaktivieren ihr Gott-Modul.“
“Ihr Gott-Modul? Wo befindet es sich?“
“Im Lobus-Temporalis.“
“Was?“
“Im Schläfenlappen des Gehirns.“
Eine neue Gruppe kam herein. Seine Frau erkannte ihn nicht.
“Ellen!“, rief Daniel. Der Medbot schob sie durch die Tür.
“Ellen!“ Daniel lief hinter ihr her. Zwei Roboter schnallten sie auf einen Stuhl.
“Hier können Sie nicht rein.“ Der Medbot ging auf Daniel zu. Eine Metallklammer fixierte Ellens Kopf. Ihr Schädel wurde rasiert. Ein Robot justierte den Strahler. Der Medbot packte Daniel bei den Schultern, dann ließ er plötzlich von ihm ab. Der Strahler summte und Ellens Kopf kippte zur Seite.
“Was macht ihr mit der Frau?“
“Wir behalten sie die Nacht über hier. Danach kann sie gehen.“

Daniel wachte an ihrem Bett. Er konnte nicht anders. Er liebte sie noch immer. Am Morgen übermannte ihn der Schlaf.
“Daniel“, hörte er. “Daniel, was mache ich hier?“
“Sie hatten einen Unfall.“ Der Medbot stand in der Tür und ging an ihr Bett.
“Versuchen Sie aufzustehen und ein paar Schritte zu gehen.“
Ellen ging im Krankenzimmer auf und ab. Kaum war zu sehen, dass sie das rechte Bein nachzog.
So wie ich, dachte Daniel und erschrak.
“Ich kann mich an den Unfall nicht erinnern. Was ist mit meinem Bein?“, fragte Ellen.
“Wir haben es hergestellt, so gut wir konnten“, antwortete der Medbot und hob in einer menschlichen Geste die Arme.
Das Gott-Modul. Haben sie es mir auch... . Daniel zwang sich, den Gedanken nicht weiter zu spinnen. Er legte seinen Arm um Ellens Schulter.
“Komm Ellen. Lass uns nach Hause gehen.“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.04.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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