Beena Siddiqui

Eine Fahrt im Nebel


Der Abend fing eigentlich ganz gut an. Meine Eltern waren ausgegangen und ich war mit meinem großen Bruder Fred allein zu Hause. Ich saß in meinem Zimmer und las ein Buch. Auf einmal hörte ich jemanden die Treppe heraufkommen und meine Tür wurde geöffnet. Fred schaute durch den Türspalt. „Na, wie geht’s?“, fragte er und ohne eine Antwort abzuwarten fuhr er fort „Es ist eine schöne, klare Nacht. Wie wär’s mit einer Spritztour?“ Was war denn das für eine Nummer? Ist er jetzt völlig abgedreht, fragte ich mich im Stillen. Fred hatte vor ein paar Wochen seinen Führerschein gemacht und seitdem war er etwas aufgedreht. Wieso aber zum Teufel wollte er mitten in der Nacht durchs Viertel rasen? Anscheinend sah man mir an, dass ich nicht sehr begeistert war, denn Fred fragte: „Was ist los? Unsere Eltern werden nicht allzu bald auftauchen. Was hast du denn?“ „Ich weiß nicht. Wieso willst du denn um diese Uhrzeit da draußen die Stadt unsicher machen?“, murmelte ich. „Ach, Pascale, komm schon. Nur eine halbe Stunde. Zu zweit macht es doch viel mehr Spaß. Ich sorge auch dafür, dass unsere Eltern nichts mitbekommen“, versprach er. Mir war nicht gut bei dem Gedanken, dass Fred diesen Einfall hatte. Er hatte die Prüfung nur ausreichend bestanden und nachts war es doch viel gefährlicher. „Bitte, Fred. Lass uns zu Hase bleiben. Ich habe keinen Grund dafür, mit dir nachts eine Spritztour zu machen“, erklärte ich. „So? Hast du keinen? Dann werde ich dir einen geben. Wenn du mitkommst, rechne ich dir deine beiden Textaufgaben, die du noch nicht gelöst hast“, bot er mir an. Das war allerdings ein Angebot, zu dem ich nicht „nein“ sagen konnte. Hätte ich doch jetzt schon gewusst, was in ein paar Stunden geschehen würde, so wäre ich lieber ohne Hausaufgaben zur Schule gegangen, wie schon so viele andere Male. Aber ich konnte nicht wissen, was uns bevorstand. Deshalb zog ich mir meine Jacke und meine Schuhe an und begab mich auf die grauenvollste Fahrt meines Lebens. Die Nachbarshäuser entfernten sich und die Einkaufsstraße raste auf uns zu, denn Fred fuhr unglaublich schnell. Bald hatten wir auch diese zurückgelassen und Fred hielt an. „Wie steht’s? Wir sind noch nicht lange unterwegs. Ich wäre dafür, dass wir diesen Umweg nach Hause nehmen“, schlug er vor und deutete auf eine einsame Landstraße. Mir wurde so seltsam. Ich wusste nicht wieso. Besorgt warf ich einen Blick durch das Fenster. Der Himmel wurde von ein paar Wolken bedeckt und der Mond schien hell. Es konnte eigentlich gar nichts passieren. Also stimmte ich Fred zu.

Ich wusste nicht, in was für eine Gefahr ich mich hier begab. Ich wusste nicht, dass es der schrecklichste Fehler meines Lebens gewesen war. Fred gab Gas und wir fuhren nun die Landstraße entlang. Wir waren die einzigen, die sie benutzten und genau das machte sie unheimlich. Die knorrigen, alten Bäume reihten sich zu beiden Straßenseiten aneinander und ihre Zweige schienen riesige Hände mit langen, spindeldürren Fingern zu sein. Es sah aus, als ob sie nach uns greifen wollten. Mir lief es kalt den Rücken hinunter und ich schaute mich hektisch um. Wir waren immer noch die Einzigen. Auf einmal fluchte Fred. Verwundert drehte ich mich zu ihm um. „Es kommt Nebel auf“, informierte er mich. Aus das noch. Dünne Nebelschwaden hingen bereits in der Luft. Nach ein paar Minuten war der Nebel bereits so dicht, dass das Ende der Straße nicht mehr zu erkennen war. Ich spürte Schweißperlen auf meiner Stirn. Fred war kreidebleich und er starrte auf die Straße. Ich wollte hier raus. Der Nebel wurde immer dichter und man musste sich Mühe geben um etwas zu erkennen. Auf einmal tauchten zwei gelbe Lichter hinter uns auf. Fred beschleunigte, die Lichter behielten den Abstand zu uns. Verfolgte uns jemand? Was sollte das? Wieso war ich mitgekommen? Blöde Mathematikhausaufgaben! Ich wollte zu Hause in meinem Zimmer sein. Weit weg von dieser Landstraße und dem dichten Nebel, der durch die Zweige der Bäume kroch und es uns fast unmöglich machte, etwas zu sehen. Ich verspürte den Drang die Tür aufzureißen und weit weg zu rennen. Ich hasste mich dafür, dass ich Fred zugestimmt hatte. Vorsichtig warf ich einen Blick nach draußen. Die Lichter waren verschwunden. Wenigstens etwas. Auf einmal schrie Fred auf und riss das Lenkrad herum. Mir stockte der Atem. Ich klammerte mich an meinen sitz und ich presste meine Augen fest zu. Der Wagen wurde von der Straße geschleudert. Mein Herz schlug zum Zerspringen und ich atmete hastig. Ich konnte es nicht mehr aushalten. Neben mir hörte ich Fred aufkeuchen. Als wir in dem Straßengraben auftrafen, schrieen wir beide laut und gellend auf. Fred war still aber ich schrie immer weiter. Ich hielt mir die Ohren zu! So sehr schmerzte mich mein eigener schrei. Doch bald gab ich es auf. Wieso sollte ich mir die Seele aus dem Leib schreien, wenn mir doch sowieso niemand aus dieser grauenvollen Lage half. „ Was machen wir jetzt?, krächzte ich heiser. „Ich schaue mir mal den Schaden genauer an“, verkündete Fred. „Nein, nein. Geh da nicht raus! Bitte! Nein, nicht!“, flehte ich. „Ich muss. Du möchtest ja auch nicht den Rest deines Lebens hier verbringen“, erklärte er. Und mit diesen Worten stieg er aus. Ich tat das Gleiche. Es blieb mir ja nichts anderes übrig. Der Nebel umhüllte uns, er kroch uns unter die Fingernägel, unter die Haut. Wieder verspürte ich den Drang zu schreien, doch Fred hielt mir den Mund zu. Stumm zeigte er auf die Straße. Und jetzt sah ich es auch. Den Wagen. Er war schwarz wie die nacht und seine Scheinwerfer waren ausgeschaltet. Lautlos glitt er über die Straße und hielt ein paar Meter vor uns. Panik überkam mich. Was war denn das schon wieder? Meine Hände waren schweißnass und ich riss meine Augen weit auf. Ich wollte mich umdrehen und wegrennen, ich wollte fliehen. Die Wagentüren öffneten sich und zwei hünenhafte, mit schwarzen Capes gekleidete Männer kamen auf uns zu. Beide hatten Kapuzen auf und sie hatten dünne, lange Beine. Weglaufen wäre also nutzlos. Ihre Augen waren das Einzige und leider auch das Furchteinflösendste, was von ihren Gesichtern zu erkennen war. Sie schimmerten rötlich, wie vier glühende Kohlen, sie schienen uns zu durchbohren, sie schienen unser Inneres zu sehen. Ich stand da. Starr vor Angst und nicht fähig irgendetwas zu tun. Ich konnte keine Gedanken mehr fassen. Die beiden Männer blieben vor uns stehen. „Wir brauchen euren Wagen“, zischte der Erste. „Wir wurden auf unserer Flucht von der Polizei erwischt und da sie unser Fluchtmittel kennen, brauchen wir ein neues. Ich hoffe, dass ihr uns euren Wagen überlasst“, hauchte der Zweite. Wieso erzählte er uns das alles? Wir konnten jederzeit zur Polizei gehen und sie verraten – außer wenn sie uns.... Ich kam nicht dazu, weiter zu überlegen, denn Fred stupste mich an. „Wer sind Sie?“, fragte er die beiden Männer mit dünner, leiser Stimme. „Wir sind Dealer. Wir dealen hauptsächlich mit Heroin und Canabis. Manchmal auch mit Ecstasy. „Mir wurde immer unheimlicher. Wenn sie uns das alles erzählten, würden sie uns mit den Informationen bestimmt nicht wieder laufen lassen. „Wir haben euch jetzt alles gesagt und ihr seid hoffentlich vernünftig und überlasst uns den Wagen..“, begann der erste Mann. „Leider müssen wir euch jetzt unschädlich machen“, fuhr der Zweite fort. Mein Magen verkrampfte sich. Ich grub meine Fingernägel in Freds Arm. Was würden die beiden Männer mit uns tun? Sie würden uns unschädlich machen. Was bedeutete das? Ich wollte nicht sterben. Ich wollte zurück zu meinen Eltern. Ich wollte jetzt nicht hier in diesem Nebel mit zwei finsteren Dealern und meinem genauso verzweifelten Bruder sterben. Stumme Tränen rannen mir die Wangen hinunter und ich schluchzte leise auf. Wieso ich? Hätte ich nicht daheim bleiben können? Die Männer hatten inzwischen ein Fläschchen mit milchig-weiß schimmernder Flüssigkeit aus den Taschen ihrer Capes geholt. Ich kniff die Augen zusammen. Was hatte der andere Mann in der Hand? Jetzt erkannte ich es. Es waren zwei spritzen. Nein! Sie würden uns dieses Teufelspräparat injizieren. Nein! Das konnten sie nicht tun. Nun begann der erste Mann das Zeug in die Spritzen zu füllen. Dann fragte er: “Na, wer von euch beiden möchte denn zuerst? Wie wär’s mit dir?“ Er deutete auf mich!! Nein! Niemals! Ich zappelte, als er mich packte. Die Nadel der Spritze funkelte. Ich strampelte und ich schrie, doch er hielt mich gnadenlos fest. Die Nadel bohrte sich in meinen oberarm und ich verlor das Bewusstsein.

Als ich aufwachte, fand ich mich an einer Landstraße wieder. Neben mir lag mein Bruder Fred. Was war hier los? Wieso war ich nicht zu Hause? Fred und ich waren gefesselt. Wieso? Wieso? „Was ist los?“, fragte Fred. Ich zuckte mit den Schultern. Ich konnte mich beim besten Willen nicht erinnern. Gemeinsam lösten wir unsere Fesseln und schauten uns um. Jetzt dämmerte es mir. Wir waren auf der Landstraße, nahe der Einkaufsstraße. Aber wie waren wir hier hergekommen? Kopfschüttelnd machten wir uns auf den Heimweg. Kurz vor dem Eingang unseres Hauses fiel mir eine Bewegung auf. Hinter dem Holunderbusch kauerten doch zwei Gestalten. Sie hatten schwarze lange Capes and, die im Wind flatterten. Ihre Gesichter lagen im Dunkeln. Das Auffälligste an ihnen waren die Augen. Rötlich schimmernd wie vier glühende Kohlen schauten sie stechend genau in die meinen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.04.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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