Das Kristall zerbrach, als er ihm aus den Händen glitt.
Jahrelang hatte er ihn in den Händen gehalten, hatte ihn gepflegt, ihn umhegt, ihn gestreichelt, ihn geschützt wie sein Eigentum und nun war er tot. Er hatte ihn überall mitgenommen, seine Freunde hatten den Kristall gekannt, hatten ihn nur zu gut gekannt, so gut sogar, dass sie seiner überdrüssig geworden waren.
Der Kristall zerbrach auf dem Boden in viele kleine Scherben, die glitzernd durch die Luft flogen, einem Tanz der Schneeflocken gleich.
Er hatte sich nicht von dem Kristall trennen können, weil er so viele Parallelen zwischen sich und dem Kristall sehen konnte. Diese Einzigartigkeit, die Art und Weise, wie sich das Licht in den Facetten brach und widerspiegelte und die Zerbrechlichkeit, all das ähnelte seinem eigenen Herzen. Niemand sonst kannte sein Herz, wusste, wie es dort drin aussah, nur er, er wusste, fühlte, sah, spürte, dass er dem Kristall ähnlich war. Genauso zerbrechlich.
Die Scherben zerbrachen in weitere, kleine Scherben, es hätte beinahe schön ausgesehen – wäre es nicht sein Kristall gewesen, der dort zerbrach.
War er nun auch gebrochen? Der Kristall war sein Herz, war deswegen sein Herz zerbrochen?
Er schrie seinen Schmerz hinaus, aber es hörte ihn niemand. Seine Freunde, die, denen er immer den Kristall gezeigt hatte, in der Hoffnung, dass sie die Parallelen bemerkten, waren nicht mehr da. Wo waren sie?
Er blickte auf die Scherben. Weg. Weg waren sie. Weil er sich nur noch um seinen Kristall gekümmert hatte. Und jetzt hörte ihm keiner mehr zu, keiner half ihm die Scherben aufzusammeln.
Er wollte weinen, spürte schon die Tränen auf seinen Wangen, als er realisierte, dass es keine Tränen waren, sondern kleine Glasperlen, die lautlos zu Boden glitten. Sie zersprangen auf den harten Fliesen und hinterließen noch mehr Scherben auf dem schmutzigen Boden. Und auch jetzt half ihm niemand, diese Scherben aufzusammeln.
Der Kristall war sein Herz gewesen, er hatte sich nur darum gekümmert, und nun war er tot. Was war übrig?
Es war niemand mehr da, der es ihm sagen konnte.
Nichts?
~Du hast dich von der Welt abgewandt und dann hat sie dir auch den Rücken gekehrt.~
Er blickte in sein eigenes Herz, diesmal ohne Kristall, etwas, dass er schon lange nicht mehr getan hatte aber nun hatte er ja keinen Kristall mehr der ihm helfen konnte der lag auf dem Boden war zersprungen und überall die Scherben und…
Er holte tief Luft. Was war dort? Sein zerbrechliches Herz? Keiner konnte ihm nachfühlen. Warum hatten sie es nicht gemerkt? Er hatte ihnen den Kristall gezeigt, und sie hatten es nicht gemerkt. Sie hatten weitergelebt, einfach so, und sich von ihm entfernt. Warum? Warum waren sie jetzt nicht da, um mit ihm die Scherben aufzuheben? Früher, da hatten sie ihm geholfen, früher, als er noch nicht den Kristall hatte. Warum hatten sie es nicht gemerkt?
~Du hast nicht mit uns geredet.~
Er blickte in sein Herz, sein zerbrechliches Herz, und als er es endlich erblickte, schrie er auf. Vor Schmerzen weinend fiel er zu Boden und Glas perlte aus seinen Augen.
~Nicht einmal mehr richtig weinen kannst du.~
Er hatte in die Leere geblickt und die Wahrheit gesehen, und deshalb weinte er. Vergessen war der Kristall, vergessen waren die Scherben, denn es war noch etwas ganz anderes zerbrochen, und er hatte es nicht bemerkt, weil er immer nur auf seinen Kristall geblickt hatte.
Er hatte in die Leere geblickt, dort, wo eigentlich sein zerbrechliches Herz sein sollte, und er hatte die Wahrheit gesehen. Vergessen war alles andere, als er stumme Tränen weinte, doch…
~…nicht einmal mehr richtig weinen kannst du…~
Vorheriger TitelNächster TitelDiese Geschichte hat einen wahren Inhalt, der allerdings sehr gut versteckt ist. Ich glaube nicht, dass es jemand errät.Andrea G., Anmerkung zur Geschichte
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.04.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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