Manfred Gries

Irgendwo am Ende des Regenbogens

Es begann alles damals - oder war es erst gestern? Zwei Menschen schauten in den Sternenhimmel, vollbepackt mit Zukunft und Wünschen, die einander ähnlich waren. Sie hatten sie irgendwo aufgefischt, die Wünsche, mitgenommen aus Kindertagen in die Gegenwart, in der die Oma Kuchen aus der Vergangenheit zauberte, die Eltern sorgsam für die Zukunft eine Kühltruhe anschafften und der Himmel immer noch der gleiche war - ist. In die Rolle der Oma geschlüpft schien die Erinnerung ein Bild der Zeit zu malen, wie es in der Gegenwart nicht zu sehen war. Vergeblich schauten die Sterne heute auf die beiden herab. Nachts gibt es halt keinen Regenbogen, der von “damals“ nach “heute“ reicht.

“Mir ist kalt“, sagte sie, während er die Fernbedienung zu einem Sprung in seine Welt nutzte. “Die Heizung ist aber an.“ Er schaute gespannt auf den kleinen Ball, der über den Bildschirm virtuell Entfernungen überbrückte. So ein Fußballplatz war immerhin - genau wusste er es nicht - einige Meter lang und die 59 cm Bildröhre war nicht in der Lage, diese Entfernung wirklich wiederzugeben. Gestern - er hatte in der Mittagspause einen Snack in jenem Cafe mit der jungen Kellnerin zu sich genommen - gestern war alles anders und sie spürte es.

Sie waren alt geworden, zusammen und doch nicht gemeinsam. Der Regenbogen hatte irgendwann seine Farben verloren und schien an einem Ort jenseits der Zeit zu enden. “Tor“ erklang es aus dem Lautsprecher, der heute schon Dolby digitale Wiedergaben in eine Stimme zaubern konnte. Sie hatten gespart, ein Haus gebaut und schließlich hatte sie die Zeit auf die Spitze des Regenbogens getragen - nicht ans Ende. Von dort aus sieht alles anders aus. Ihre Augen schauen zum Anfang zurück und er schaut in den Himmel, sieht all die braungebrannten Engel, die ihm scheinbar zulächeln. Ihre Lippen hauchen Sterne an seinen Himmel, während der Himmel sich den Träumern zuwendet, die auf dem Regenbogen nach oben rutschen. Es ist ein schwerer Weg über den Regenbogen und das Ende scheint am Anfang nahe zu sehen, verliert sich aber im Laufe der Zeit in den Sternen, die am Abendhimmel leuchten.

“Du“, sagt sie, “du, kannst du einmal den Fernseher ausschalten?“ Verwirrt lassen seine Augen das wunderbare Geschöpf gehen, das sich seiner Seele offenbart. Sie legt die alte Platte auf, jene Musik, zu der sie tanzten, als das Ende des Regenbogens noch ihr Ziel war. Ihre leicht faltigen Gesichtszüge beginnen zu lächeln und es scheint, als erwacht er aus einem Traum, der auf der Spitze des Regenbogens tanzt. Seine Augen sehen den Weg vor sich, der abwärts führt, zum Ende des Regenbogens und die beiden nehmen einander bei der Hand.

Irgendwo, am Ende des Regenbogens werden wir wieder verstehen, wo die Reise begann. So wie wir am Anfang das Ende sahen. Und die Fernbedienung gleitet aus seiner Hand, deren Fingerspitzen sich zwischen den Falten verlieren - den Falten, die wie Farben durch sein Gemüt streifen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.04.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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