Hans Pürstner

Der Osterhase




Ich bin in einem Haus mit großem Obstgarten aufgewachsen. Jedes Jahr, wenn der Winter zu Ende ging und die letzten Schneeflecken abtauten, erwachte der Garten zu neuem Leben. Das Gras wurde wieder richtig grün, die ersten Krokusse brachen durch die Erde und so trauerten wir nicht lange den Schneeballschlachten und dem Schlittenfahren nach. Der Frühling war da und damit Ostern nicht mehr weit. Und mit ihm der Osterhase.
Meine Oma hatte einen richtigen Hasen, das heisst genau genommen ein Kaninchen. Aber für uns Kinder war es der Osterhase. Täglich führte uns der erste Weg nach der Schule zu seinem Stall. Auf dem Weg dorthin pflückten wir noch rasch etwas frischen Löwenzahn als Mitbringsel. Da freute sich der Hase und guckte uns alle ganz dankbar an. Essen war schließlich seine Lieblingsbeschäftigung. Meine nicht unbedingt, ich war ziemlich wählerisch beim essen. Aber eines mochte ich gerne. Ein Backhendl. Das heisst für Nichtösterreicher ein paniertes und fritiertes Hähnchen. Das war etwas ganz besonderes. Sowas leckeres gab es höchstens ein,zweimal im Jahr.So wenig ich ansonsten auch essen mochte, für ein Backhendl liess ich alles andere stehen.
Eines Tages, es war Sonntag, der einzige Tag an dem bei uns groß gekocht wurde, führte mich mein Weg wieder in den Garten zum Hasenstall. Aber da war niemand. "Er wird sich halt selber was zum fressen suchen," dachte ich und ging nach oben, wo meine Oma schon zum Mittagessen gerufen hatte. Auf dem Herd stand die grosse Eisenpfanne mit siedendem Fett und darin bruzzelten appetitliche panierte Fleischstücke. Hurra, es gibt Backhendl!", rief ich begeistert, nahm am Esstisch Platz und wunderte mich nur etwas über die bedrückte Stimmung der anderen. Keiner lachte, auch gesprochen wurde kaum. Als dann die große Porzellanplatte mit den Fleischstücken auf den Tisch kam, wurde mir langsam klar, was das alles zu bedeuten hatte. Dieses Backhendl sah anders aus als sonst, schlagartig hatte ich keinen Appetit mehr auf mein Leibgericht.
Das war mein Hase den ich essen sollte.Eine Welt brach für mich zusammen. Ich sollte den Osterhasen essen. Heulend lief ich auf mein Zimmer.
Als dann Ostern näherrückte, wollte meine Mutter wissen, ob ich mich schon auf die bunten Ostereier freuen würde.
"Wer sollte die denn legen?", fragte ich empört, "den Osterhasen habt ihr doch aufgegessen!" und lief weinend davon.
Aber Kinderherzen vergessen zum Glück schnell und so hat mir der Osterhase, allerdings einer aus Schokolade, schon wieder gemundet.

Gut dass ich in Österreich und nicht in Portugal aufgewachsen bin. Dort findet man auf den Märkten zu Hauf aufgeschichtet tote Kaninchen, noch im blutigen Fell und mit Kopf. na, ja, wem´s schmeckt!Hans Pürstner, Anmerkung zur Geschichte

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