Lothar Krist

Rocky: Der Experte

Rocky kann ganz gut Gitarre spielen. Rocky kann so gut zwanzig, na ja, vielleicht sogar dreißig Griffe. Und ein wenig Singen kann er natürlich auch. “Konnte“ wäre wohl das bessere Wort dafür. Er hat das Spielen und Singen ja schon lange aufgegeben, mehr oder weniger. Und von Jahr zu Jahr kommt es seltener vor, dass er nach der Gitarre greift. In einer herrlich warmen Sommernacht am Lagerfeuer und wenn Alle schon völlig besoffen und kirre, sozusagen völlig dicht waren - vom Leben oder so und so, und das laute Grölen schon saugut und in war, ja, da kam er damals sogar saugut an. Dann war er, der Rocky, der King.

Aber für eine eigene Band hat es irgendwie nie gereicht. Die Jungs, mit denen er es probiert hatte, die hatten Alle auf einmal und irgendwie immer wieder eine Freundin an der Seite und dann war es wieder aus und vorbei. Sie „durften“ nicht mehr regelmäßig zum Proben kommen, und na ja, die Eifersucht und so, .... eh schon wissen. Experten in Sachen Bands kennen sich da ja aus. Jedes pubertäre Kind steht auf Rockgitarristen. Das wissen sogar die Gitarristen von einer kleinen Huntata-Band, hihi. Na ja, und wenn diese „Kinder“ dann so einen Hobbygitarristen erst mal in den Fingern haben, dann wollen sie ihn nicht mehr hergeben. Shit.

So wurde Rocky dann ein Roadie, weil er seiner Musik einfach nahe sein wollte. Und echt, ja verdammt, da kannte er sich schon bald echt verdammt gut aus. Er wurde zum Experten. Als gelernter Schlosser mit ausgezeichneten, selbst erlernten Kenntnissen in Electric und Electronic wurde er bald zum begehrten Anlagentechniker, und dies nicht nur im heimatlichen, so klein gewordenen deutschsprachigen Raum. Rocky war bald bei den größten Tourneen der größten Rockbands aller Zeiten, und das weltweit, mit dabei.

Rockys Gedächtnis ist deshalb voll von so vielen, vielen irren, ja irrsten G´schichterln. Seine Freunde und Bekannten zu Hause beneiden ihn deshalb. Und das allein schon wegen der vielen, vielen Weiber, die er dabei wahrscheinlich gevögelt hat. Er hat seine Freunde und Bekannten dabei nie unterbrochen, am Stammtisch, wenn sie sich in ihren Phantasien an seiner wahren Realität vorbei vergangen haben.

Dabei hatten sie damit ja gar nicht einmal so Unrecht. Auf diesen Tourneen war schon Allerhand los. Alle möglichen Geilheiten sind ihm da über den Weg gelaufen. Manchmal lag so eine Obergeilheit sogar auf diesem Weg herum. Er musste gar nicht mehr viel tun, sich einfach nur noch dazu und dann drauf legen. Aber er, er der so harte und oft so eiskalte Rocky, er war nicht so, nicht ganz so, wie seine Freunde, seine Bekannten meinten. Natürlich hatte er seine Weiber, anbrennen, ... ja anbrennen hat er auch Nichts lassen. Aber nur Sex um des Sexes willen, ja nur so Ficken um des Fickens willen, das, ja das war Nichts für ihn. Rocky liebte ja die Menschen, und die Weiber liebte er sowieso, oder sagen wir es so: die Weiber liebte Rocky noch viel, viel mehr, als die Menschen. Rocky war also nicht so, auch wenn er sogar alleine ein halbes Wirtshaus aufräumen konnte, schließlich war ein gewisser Kampfsport ja sein Lieblingssport. Schattenboxen, also Katas üben, bis zum Umfallen im Hotelzimmer, war immer ein guter Schmäh, um tagsüber in diesen nicht gerade schalldichten Hotelzimmern schlafen zu können. Und die Zeit verging ja auch dabei, sinnvoll noch dazu. Schattenboxen trainiert ja nicht nur den Körper, sondern auch den Geist. Und was die Schlägereien mit Dummköpfen anbelangte, er hatte auch hinterher nach diesen Schlägereien nie ein schlechtes Gewissen, nicht das geringste. Auf so ein dämliches Gewissen nämlich, ja da hat er immer schon fröhlich drauf geschissen. Schließlich: das Leben ist halt so, wie es nun einmal ist. Und manche Arschlöcher wollen es halt immer irgendwie wissen. Also warum sollte er sie in ihrer Unwissenheit verdummen lassen. Und angefangen hat Rocky nie.

Und .... o Mann o Mann, echt, .... und verdammt! Ja, und außerdem, da lief auf so manchen dieser Tourneen auch so Einiges ab, was Rocky damals ganz und gar nicht gefallen hat, auch wenn diese Geschichten manchen seiner Bekannten wahrscheinlich gefallen hätten. Aber Rocky halt nicht.

Diese Band war einfach irre. Rocky stand auf diese Band und vor Allem auf diesen irre irren Gitarristen. Der war mit absoluter Sicherheit der Größte, der Allerallergrößte seiner Zeit – zumindest nach dem guten, alten Jimi. Absolut. Da fuhren achtundsiebzig mit Technik und wer weiß schon genau mit Was noch schwer beladene Tourneezüge drüber. Allein schon wie sich der beim Spielen bewegte - ein wahrer Augenschmaus. Mann o Mann, so zuzusehen, wie der gute Mann die Saiten seiner Gitarre verdrosch ....?! .... und ihnen dann kurz darauf wieder die zartesten Tönchen entlockte .... ?! Die absolute Geilheit!

Und dann geschah eines Tages diese absolute Ununglaublichkeit: Er war damals Techniker einer Vorgruppe dieser irre geilen Band. Die Anlage stand still, sie machte keinen Muckser mehr und man war schon fast daran, das Konzert abzusagen, da hatte Rocky wieder einmal sein Geistesblitzchen. Er rauchte einen Joint, ließ ihn ein wenig wirken und fühlte sich dann tief, ganz tief hinein in die Seele der Elektrik und siehe da: Rocky fand den wunden Punkt. Ein Griff nach der Lötlampe und pingo, da floss der Saft wieder durch die Kabeln, dass es nur so rauchte, und die Show lief dann ab wie geschmiert.

Das beeindruckte die Band samt Management und er wurde eingeladen. Auf einmal war er dabei. Vier steile Monate. Rocky war auf einmal im Himmel des Roadie-Seins. Rocky ging mit seiner absoluten Lieblingsband auf ihre Welttournee. Zuerst acht Auftritte im Heimatland des Rock. Als Höhepunkt dort in London die Royal Albert Hall. Dann gut zwanzig Gigs in Europa, dann waren die acht größten Städte Asiens angesagt. Von den Philippinen hatte er nachher nur mehr den Landeanflug im Hirn. Der Rest ging im Nebel des besten Grases unter, das jemals seine Lungenflügel verseucht hatte. Reines Purple Haze. Er hat bis heute nicht die geringste Ahnung, wie sie diese Anlage damals aufgebaut haben. Echt, nicht die geringste. Aber sie haben. Und das angeblich auch noch tollst. Über das Konzert auf den Philippinen stand nicht das Geringste im abschließenden Tour-Problembericht.

Ja, und dann vier Konzerte in Japan. Eine Hölle der Korrektheit, dagegen war wohl selbst das deutsche Reich noch ein Scheiß. Nichts ging, bevor nicht mindestens vier Männer - und wohlgemerkt, nur Männer - ihr scheiß Ja gedienert hatten. Höflich waren sie ja, ja, das muss man ihnen lassen, diesen Japsen. Höflich, immer höflich. Pi-Pi. Pi-Pi. Dienerchen und Dienerchen und so. So hat er diese Aufpasser dann auch immer genannt: “Achtung die Pi-Pis kommen!“, wenn er sie bei seinen Geschichten “nachgedienert“ hat. Diese Japsen waren wahre Weltmeister im Bugerln und dabei aber eiskalt.

Ja, und dann Russland: Moskau. Seit der Wende der Siebente Himmel im Rockbusiness. Selbst die Türklinken der Hotelzimmer für die Roadies waren aus Gold. Und draußen warteten an die zweihundert Nutten. Und Alles gratis. Man konnte wählen. Ein paar nahmen gleich zwei aufs Zimmer mit und Niemand hat Was gesagt. Die Neue Mafia dort ließ sich nicht lumpen.

Diese Geschichte stand dann sogar in den Musik-Journalen der ganzen Welt. Rocky war da live dabei. War echt geil. Aber Rocky hat sich Keine mitgenommen. Rocky kann so Was nicht. Rocky ist auf diesem Gebiet ein richtiges Weichei, sozusagen eine lätscherte Nudel. Rocky war noch nie bei einer Hure. Wenn seine Freunde und Bekannten von so Was erzählten, dann konnte er nie mithalten. Er hat es auch gar nicht erst versucht. Er weiß ja, so viel Phantasie hat er nicht. Was er nicht selbst gesehen oder sonst erlebt hat, darüber kann er keine Geschichten erzählen. Scheiß drauf. Und diese armen Weiber tun ihm ja eigentlich nur leid. Er weiß auch nicht, wieso, bis heute nicht. Ohne wenigstens einen zumindest am Anfang glaubhaften Anflug von Liebe geht bei Rocky nichts, gar Nichts.

Na ja, dann kamen Rio, Buenos Aires, ein Hochgenuss. Die Stadien waren ein einziges, überkochendes Samba-Meer. Ja, und dann kam diese so unsagbar öde und so ewig lange Sechswochenochsentour durch diese endlos weiten Vereinigten Staaten von Amerika. Er dachte zuletzt schon diese Tortur würde überhaupt nicht mehr enden. Die Motels für die Roadies waren oft die reinsten Saubuden. Im Süden unten schlief er mit einem Heer von Kakerlaken im selben Bett. Er war nur noch dicht. Sechs Wochen lang Tag und Nacht dicht. Zum Frühstück rauchte schon der erste dicke Joint. Völlig meschugge, völlig kirre, nur noch völlig deppendüsterdicht. Aber die Anlage stand jeden Tag. Na ja, einen Haufen Gaudi hatten sie natürlich auch, aber …. puh. Es ist nicht ohne, jeden Tag zu schuften wie ein Irrer, die Show auf- und abzubauen und dann stundenlang das schnurgerade und auf Dauer so langweilig werdende Meilenband eines Highways hinunter zu düsen, noch dazu wenn man eigentlich nur noch schlafen, schlafen und schlafen möchte.

Und dann kam wieder Europa. Und da war dann dieses Aids-Konzert. Irgend so ein Geldeintreiber-Konzert mit hundert Bands weltweit und über ein ganzes Wochenende verstreut, vierzig der besten natürlich an einem Ort, der Rest über Leinwand. Seine Band hatte einen eigenen Gig bei einem ebenfalls größeren Festival in Deutschland. Auch sie wurden dort laufend in den Pausen über die Leinwand informiert. Dauernd wurden immer geiler und immer geiler werdende Zahlen genannt. Ein Haufen Geld kam herein, durch Spenden, Eintritte und so.

Und nach diesem Gig geschah dann Etwas, das den alten Rocky zerbrochen hat. Rocky wollte dann nicht mehr. Er hatte nach gut fünfzehn Jahren von einem Tag auf den anderen genug von diesem Rockbusiness. Und er hatte ja diese Band inzwischen genauer kennen gelernt, insbesondere diesen Gitarrengott. Der schoss echt Alles bisher da gewesene ab, was Rocky so an Scheußlichkeiten erlebt hatte. Und all seine Kollegen hingen ihm auch schon irgendwie zum Halse raus, denn die fanden da Nichts dabei. Das gehörte ja zum Business. Er weiß bis Heute nicht, weshalb er nach diesem Gig nicht einfach ausgestiegen ist. Das wäre ja gar nicht so schwer gewesen. Seine Korrektheit? Er fängt ja Nichts an, das er nicht auch zu Ende bringt. Seine Begierde als Hobby-Dichter nach Live-Geschichten? Wer weiß, na ja, scheiß drauf. Jedenfalls waren die letzten drei Wochen dann für Rocky nur noch Hölle.

Dabei lief eigentlich Alles super ab. Alles war geil. Die Truppe um ihn war inzwischen zusammen geschweißt. Selbst die alten Hasen respektierten ihn. Sie verstanden sich. Kein Handgriff zu viel. Jeder wusste genau, was er zu tun hatte. Die Arbeit war eine echte Freude. Eine schönere „Arbeit“ gab es nicht. Rocky jubilierte eigentlich die ganze Zeit. Abgesehen von der Monster-Tour durch die Vereinigten Staaten von Amerika ist ja Alles im Großen und Ganzen ein aufregendes Erlebnis gewesen. Und gearbeitet hat Rocky auch immer gerne. Er hätte also zufrieden sein müssen.

Nach ihrem Gig ging es dann gegen Mitternacht gleich ab ins Hotel und dort dann gleich in den Speisesaal zum Buffet. Ein irrer Hunger brannte in ihren Eingeweiden und sie sind gleich wie König Arthus mit seinen Rittern über die Tafel hergefallen. Immer wieder ein Riesenbahöö. Die europäischen Veranstalter ließen sich da nie lumpen. Die besten Whiskey-, Congnac- und Wodkasorten flossen bei diesen Gelagen neben Bier und Wein in Strömen. Ihr Urin war wochenlang so scharf, dass ganze Heckenreihen unverzüglich eingegangen sind, wenn sie vor der Abfahrt alle gemeinsam noch schnell ihre dicken Piss-Strahlen dort hinein abgestellt haben. Die Gärtnereien an ihren Tour-Aufenthaltsorten hatten wohl ihre Freude an ihnen, die machten nach so einem kurzen Tourneeaufenthalt immer ein tolles Geschäft. Die Tujenpflänzchen gingen weg, wie die sprichwörtlichen warmen Semmeln beim Bäcker.

Na ja, das war mal, also vergessen wir es. Und dort, am Buffet, wartete dann schon dieses alt gewordene 68er-Groupie auf sie. Sie hat sich draußen vor dem Hotel gleich bei einem seiner neuen Freunde, den sie schon seit einigen Tourneen kannte, eingehenkt und hat dann fest mitgefuttert.

Mister Gitarre kannte sie ja gut. Wie Rocky im Laufe des Abends schon so mit bekommen hatte, hatte der sie damals 1969 noch nicht ganz fünfzehnjährig nach einem irre geilen Gig in dieser Stadt aufgerissen und sie im Laufe der Nacht in der Hotelbar - aber eines anderen Hotels - schwer eingeraucht. Sie hatte zuvor noch nie einen Joint gesehen, und geraucht hätte sie damals auch noch nicht, wie sie erzählte. “Hihi“ lachte sie, „aber was tut man nicht Alles für einen Gitarero der absoluten Himmelsklasse im Bett? Hihi.“ Ja, und ein paar andere Weich- und Dichtmachergifterln, so kleine blaue, rote, grüne und gelbe Kugerln, hätte er ihr beim Schmusen mit seiner raugeilen Zunge auch auf ihre immer geiler und geiler werdende Zunge gelegt.

Jedenfalls lief Alles bestens. Sie schwärmte während des Essens die ganze Zeit davon, auf welch geile Weise sie vom Gitarrengott höchst persönlich entjungfert worden wäre. Sie meinte, es wäre die absolut geilste Nacht ihres Lebens gewesen. Alle anderen Männer hinterher wären dagegen die reinsten Schlappschwänze gewesen. “Fünf von Euch haben da nicht annähernd seine Klasse .... an der Gitarre, hehehe,“ sagte sie zu uns.

Das hätte sie lieber nicht sagen sollen. Alle lachten zwar laut und grölend mit, aber das kostete sie anschließend im Bangbus sicher ein paar böse blaue Flecken. Na ja, aber sie muss es ja wissen, schließlich kennt sie als Expertin seither alle Winkerln aller Bangbusse auf ihren Europatourneen vom Herumschieben her in und auswendig.

Sie erzählte weiter, dass es überhaupt nicht wehgetan hätte und sie hätten dann die ganze Nacht lang und auch noch den halben Tag lang durch gebudert. Dieser Dauerbuderer wäre ein einziger und ewig langer Orgasmus gewesen, sie hätte geschrieen, gebrüllt, gekreischt, gewinselt, gestöhnt, gewimmert und gespritzt, und der Herr Gitarrengott auch. Es wäre der absolute Absolutheitswahnsinn eines ersten Ficks, noch dazu mit einem Dauerorgasmus gewesen. Und er, Mister Gitarrengott, hätte dann fast so wie sie geweint, als er gegen siebzehn Uhr in den Bus gestiegen ist. Sie könnte heute noch heulen deshalb. Aber sie verstünde es ja.

Sie ist ihm dann noch jahrelang hinterher gefahren. Den ganzen Jahresurlaub hätte sie immer wieder für seine Tourneen durch Mitteleuropa zusammen gespart. Er hat sie zwar immer wieder geherzt und auch abgebusserlt, wenn er sie bei einem der vielen Gigs gesehen hat, aber gefickt hätte er sie dann nicht mehr. Er hätte auf jedem Gig immer wieder andere junge Dinger um sich gehabt. Immer lauter Jungfrauen. Und: Frau o Frau, wie sie die um ihre herrlich ekstatischen Erlebnisse mit ihm, diesem echten Experten, was Frauen anbelangt, beneiden würde.

Aber so wäre halt das Leben. Diese Rockstars sind halt so. Ja, sie müssten sogar so sein. Das müsse man verstehen. Davon lebt sie halt, diese geile Musik. Und dieses Mal hätte er es ja wieder einmal Allen gezeigt: Rock, Rock, Rock. Purer, echter und harter Rock, ohne jedes scheiß Geschnörkel. Es gibt nur eine einzige Musik für den Unterleib, und das ist harter Rock.

Und auch ihrer Tochter, etwas über vierzehn Jahre alt, hat es gefallen. Sie war vom Herrn Gitarrengott schwer angetan. Herr Gitarrengott war ja auch großer Teil ihres Lebens. Sie ist seit ihrem neunten Lebensjahr auf allen Gigs - zumindest in der Heimatstadt – dabei gewesen. Auch das Töchterchen glaubte an Mister Guitar. Das Feuer war von der Mutter auf die Tochter über gesprungen. Seine Poster - die, auf denen er noch jung war und so saugeil aussah - und das Bild von seiner Gitarre verzieren jeden Mauerfleck in ihrem Kinderzimmer. Die Kleine kannte jede Geschichte von ihm in- und auswendig.

Na ja, und auf einmal war Mister Gitarre weg. Und die Kleine auch. Da fiel Rocky auf einmal auf, dass Mister Gitarre bisher den Speiseraum der Roadies noch nie betreten hatte. Er hatte bis jetzt, Monate ist es her, noch nie bei ihnen vorbei geschaut und sich bedankt und so. Und Rocky fragte sich: Warum war Mister Gitarre heute wohl da?

Na ja, er hat wohl gerochen, dass die Kleine es endlich wissen wollte - das nämlich, was ihre Mutter schon wusste: nämlich, dass Mister Gitarre der Beste war: nämlich ein Experte in Sachen Erstes Mal.

Nach gut vierzig Minuten musste Rocky dann mal auf die Toilette. Als er wieder heraus kam, da hörte er ein Schluchzen aus einer Mauernische. An der Wand klebte ein Schild: Telefon. Da war ein Vorhang vor. Und hinter diesem Vorhang saß ein Riesenhaufen Elend auf einer gut ein und ein halb Meter langen Bank. Rocky wusste sofort, WAS geschehen war, schließlich hatte er Ähnliches ja schon des Öfteren gesehen, aber noch nie so pur. Darin war Rocky inzwischen nun mal auch schon zum Experten geworden. Rocky war zum Wisser geworden. Scheiße. Die absolute Absolutheitsscheiße für Rockys arme Seele. Verdammt, er war doch der eisenharte, eiskalte Rocky, mit dem sich kein Mann, außer er war ein Vollidiot, zweimal angelegt hat. Und doch ist er genau so wie sie geworden, verdammt. Rocky schaut auch weg. Verdammt, dabei hat er sich damals Mitte der Siebziger doch geschworen, dass er Alles werden wolle, aber Eines mit Sicherheit nicht: nur kein Gutmensch. Verdammt! Er würde niemals weg schauen, wenn irgendwo ein Unrecht geschieht.

Rocky setzte sich zu der Kleinen auf die Bank. Einen guten halben Meter von ihr weg ans andere Ende. Sie zuckte erschrocken zusammen, als sie ihn sah. Also: Nur nicht zu nahe, .... und ganz ohne Berührung. Verdammt! Rocky verstand.

Rocky sagte zu ihr: “.... ich weiß. .....“ Mehr sagte Rocky nicht. Sein Mund war staubtrocken. Und dann schwiegen sie erst mal. Rocky schaute gerade aus auf den Kasten Telefon an der Wand gegenüber. Die Kleine schluchzte, sie bibberte am ganzen Körper. Ununterbrochen wischte sie mit ihren schon patschnassen Blusenärmeln die Tränen weg. Ihr hübscher, großer, und so überaus fest anmutender Busen lugte in strahlendem Unschuldsweiß aus dem weiten Ausschnitt ihrer Bluse und wogte in einem einzigen Erdbeben vor Rockys Augen hin und her. Wunderschön. Einfach nur wunderschön. Aber .... Rocky konnte gar nicht hinsehen.

Und in Rocky kochte es. Am liebsten wäre er zu Mister Gitarre persönlich aufs Zimmer gegangen und .... Verdammt! Es wäre gerechtfertigter Mord gewesen, einen gerechtfertigteren Mord gibt es nicht. Aber in dieser Scheißwelt gibt es dafür keinen Orden. Lauter Arschlöcher! Eben Gutmenschen-Arschlöcher, die den reinen Täterhumanismus erfunden haben.

Und irgendwann dann bricht es aus ihr heraus: Nichts wäre es gewesen mit den geil und weich machenden Joints und all den anderen schönen Sachen, die er ihrer Mama von Zunge zu Zunge hinüber gespielt hätte, .... so wie die ihr das immer und immer wieder beschrieben hatte. Mister Gitarre hätte ihr kaum im Hotelzimmer angekommen gleich die Kleider wild vom Leib gerissen, sie überall betatscht und ausgegriffen. Ihr hätte dann auf einmal vor ihm gegraust. Sie wollte weg, nur noch weg, hätte auch „no, no, no!“ gesagt. Er wäre dann eiskalt über sie her gefallen. Er hätte sie auf den Boden geworfen, ihr die Beine über den Kopf gepresst, so nackt, wie sie war. Sie wäre unfähig zu irgendeiner Gegenwehr gewesen. Sie hätte nur immer und immer wieder “no, no, no“ gestammelt. Und er wäre dann einfach sofort und mit einem einzigen mächtigen Ansatz in sie eingedrungen. Wumm. Brutal. Er hätte sie einfach auseinander gefetzt. Knochenhart. Auf dem Boden.

Nach gut zehn Minuten, in denen er sie wie ein Irrer im Wumm-Wumm-Wumm-Rausch wund gestoßen hätte, nach einer halben Ewigkeit für sie, wäre er dann aufgestanden und ins Bad gegangen. Sie hätte ihn duschen und lustig pfeifen gehört, während sie auf dem Rücken in ihrem Meer von Blut gelegen ist und in ihren Schmerzen gebadet hat.

Nach gut fünf Minuten wäre er dann wieder heraus gekommen. Er hätte sie angesehen, wie sie sich gerade angezogen hat, grinsend, eiskalt, die Augen voller Ekel, und dann zu ihr auf Englisch gesagt: “Wisch den Dreck weg, Baby, ... und dann hau ab, ja.“

“Und stell dir vor“, sagte sie entsetzt und sich selber nicht verstehend zu Rocky: “.... ich habe meinen „Dreck“ auch noch ganz brav weg gewischt.“ Sie wäre dabei auf dem Boden herum gerutscht. Und als sie damit fertig gewesen wäre, hätte er schon im Bett geschnarcht. Und weiter: “Hoffentlich erstickt er einmal dran, an seiner Schnarcherei, diese Drecksau.“ Und dann heulte sie wieder.

Und Rocky kochte. Und zu sich selber: “Rocky, Rocky, was bist du nur für eine feige Sau!“

Rocky saß dann in seiner Gutmenschen-Wut, in seinem Gutmenschen-Elend mit diesem Häufchen Elend noch lange auf der Bank. Verdammt! 199.? Was ist doch bloß aus diesem seinem Rock geworden? Eine Geldmaschinerie? Ein Hurenhaus der modernen Kunst? Ein dreckiger Sauhaufen eines Philosphenuntums? Eine Diktatur der „Ich!-und-nur-noch-Ich-Ich-Ich-Kultur“? All diese noch lebenden Gitarrengötter von VorVorVorGestern vermodert zu einem einzigen Monument der Traurigkeit? Sind Jimi Hendrix und Jim Morrison deshalb so bald von uns gegangen, weil sie Angst hatten vor diesem Verfall? Und die anderen Künstler aus dieser Zeit sind ja heute auch nicht viel anders. Diese Größen ihrer Zeit haben den Gedanken vom Individualismus weit über seine Grenzen hinaus, bis hinein in den reinen Egoismus getrieben und sich dann versteckt in ihrer Diktatur des Geistes der persönlichen Freiheiten. Und diese Grenzen sind heute weiter denn jemals zuvor gesteckt. Wenn Einer oder Eine geschickt ist, dann enden diese Grenzen im Nirgendwo. Und der in seinen Grenzen so übel Verletzte kann sich nicht einmal dagegen wehren, denn diese Ich-Verletzung nennt sich heute moderne Kunst. Und wenn du als Opfer es trotzdem wagst gegen den Täter vorzugehen, dann musst du erst einmal die Tat beweisen. Und zuletzt bist du nicht nur geschändet, nein, an dir pickt auch noch der Dreck einer Verleumdungsklage. Du wirst als Draufgabe auch noch von unserem in die Täter so sehr verliebten Gutmenschenrecht gefickt.

Rocky kochte, während er still und leise vor sich hin suderte. Rocky saß mit diesem zerbrochenen, kleinen Ding mit diesen wunderschönen, im Weinkrampf dahin wogenden Brüsten auf der Bank in der Nische, hinter dem Vorhang. Er saß mit ihr wohl so bis gegen Mittag dort. Natürlich immer einen halben Meter von der Kleinen weg. Kein einziges Mal hat er sie berührt, dabei hätte er sie so gerne in seine Arme genommen und sie getröstet. Doch Rocky verstand. Er hätte jetzt eine Frau sein müssen. Doch da war keine weit und breit, auch keine Mutter nicht.

Im Hotel war schon der regeste Betrieb. Als sie in der Frühe von irgendeinem Hotelmanager entdeckt wurden, hat er sie gefragt: “was sie da denn machen würden?“ Da sagte Rocky zu ihm: Ihre Mutter wäre nach dem Konzert irgendwo abgeblieben. Wir wüssten nicht: wo? Und ob wir da in der Nische auf sie warten dürften? Der Kleinen ginge es nicht so gut. Wir möchten nicht draußen in der Halle warten. Der Typ sah die Kleine an und sagte dann Nichts mehr und ging.

Ihre Mutter war mit fünf, sechs anderen Lusthasen auf einer Orgienparty mit gut zwanzig Roadies im Roadiebus. Da lief gerade eine höllisch heiße Fete ab. Sie holte sich gerade einen Teil ihrer Jahresdosis Rock. Rocky wusste ja, wo Mama war: im Bangbus. Aber er sagte es der Kleinen nicht. Aber vielleicht hat die Kleine es ja aus Erfahrung schon selber gewusst und wollte da auch nicht hin. Es wäre wohl das Letzte für sie gewesen. (Früher, als Alles noch nicht so groß und mächtig gewesen ist, da sind wir immer im selben Bus mit den Stars gefahren. Wir waren wie eine Familie. Na ja, Nichts ist heute mehr so, so wie es einmal war. Ob das bloß mit Rockys Alter zu tun hat? Na ja, egal.)

Die Kleine hat Rocky dann auch noch erzählt, dass ihre Mutter das ganze Jahr immer von dieser Europatournee, von ihren Stars und vor Allem von ihrem Mister Gitarre träumen würde. Sie lebe nur dafür. Der ganze Urlaub und jede übrige Mark gingen immer dafür drauf. Sie wäre noch nie, wie ihre Freundinnen, in Italien, in Griechenland oder sonstwo am Meer gewesen. Und alle Beziehungen ihrer Mutter wären deshalb gescheitert. Kein Mann hätte es deshalb lange ausgehalten, obwohl da ein, ja vielleicht sogar zwei Typen dabei gewesen wären, die sie als Ersatzvater akzeptieren hätte können. Schade, aber diesem dauernden Vergleich hielt Keiner lange stand.

Rocky hat sich dann nach dieser seiner letzten Tournee einen langweiligen Job zu Hause gesucht. Kurz darauf ging er wieder einmal auf eine Montage in die Dritte Welt, was er ja auch schon ein paar Mal so zwischendurch gemacht hat. Aber er ist zufrieden. Er liebt ja noch immer diese Musik. Er geht auch noch immer gerne auf Konzerte. Aber manchmal schmeckt dabei sein Gaumen etwas bitter, insbesondere wenn er eine CD seiner einstigen Lieblingsband anhört. Rocky weiß zu viel. Zu viel Wissen ist nicht gut. Oft ist zu viel Wissen sogar beschissen ungut. Verdammt.

Und jetzt hat man diesen professionellen Jungfrauenkiller verhaftet. Die Nachrichten im Fernsehen waren voll davon. Rocky hatte damals in den vier Monaten der Tournee über den Blauen Planeten genau neun unschuldige Mädchen „sterben“ gesehen. Rocky hat nicht die geringste Ahnung, wie viele Jungfrauen dieser Gitarrenschänder auf seinen Tourneen in den vielen, vielen Jahren und auch sonst noch irgendwo und irgendwann „ermordet“ hat. Wahrscheinlich weiß das dieser Gitarrenschänder nicht einmal selbst.

Angeblich hatte Mister Gitarre seine Festplatten von mehreren Computern voller Bilder und Filme mit Kindern, und ein paar hundert CD-Roms voll damit hätte man auch gefunden, Alles in Allem einen kleinen Lastwagen voll. Sie haben das sogar im Fernsehen gezeigt, wie dieser Wagen damit beladen wurde. Und er redet uns jetzt ein, es wäre Alles bloß für einen guten Zweck gewesen. Er hätte nur die weltweite Kinderpornoszene im Internet überwachen wollen und so weiter. Lauter Scheiß! Wenn das wahr wäre, dann hätte doch auch die Meldung der Adressen an die Polizei genügt. In Wahrheit wird es wohl so sein: der arme Hund ist jetzt alt und glatziggrau, sozusagen ein von seinem langen und ausgiebigen Rockleben völlig abgefuckter, schiacher alter Narr. Samt seinem geilen Gitarrenton hüpfen ihm die jungen Dinger wohl heute nicht mehr so mir nix dir nix in sein Bett oder gar auf den Boden der Hotelzimmer. Und auch für Geld wird ihm wohl nicht jeden Tag eine Jungfrau serviert, so wie damals in Moskau. Also bleiben ihm wohl nur die Bilder davon.

Und was Rocky am Meisten wurmt: diese irre Welt von Heute ist sogar gewillt, es ihm, diesem ehemaligen Gitarrengott, zu glauben. Schließlich brauchen wir ja diese Gitarrengötter immer und immer wieder, damit sie für die nächste Hilfsorganisation die nötigen Spendengelder einspielen, welche gerade irgendwo in jenen Teilen der von uns Gutmenschen der westlichen Hämisphäre so sehr beschissenen Dritten Welt ein paar Tropfen auf die glühend heißen Hunger- und Krankheitssteine gießt.

Verdammt! Rocky weiß! Und Rocky glaubt inzwischen an gar Nichts mehr, auch nicht mehr an seinen Gott Rock. Irgendwie ist ihm Göttin La Bumm von Heute sogar schon lieber geworden. Verdammt! Das hätte er sich früher nicht träumen lassen. Und diese ganze 68er-Gutmenschenbande, der es heute nur mehr um ihre Kohle und ihre so genannten wohl erworbenen Rechte geht, die geht ihm mehr als nur am Arsch vorbei.

Rocky weiß natürlich, dass seine Geschichten seine Welt nicht interessieren. Kein bisschen. So viel ist ihm inzwischen auch schon mehr als nur klar geworden. Also schweigt Rocky.

Doch sein anderes Ich, der Buji, diese echte Dichtersau seiner Zeit, dieser stinkende Spiegel, der kann halt einfach seine Goschen nicht halten. Diese Dichtersau, dieser Buji, dieses Bujerl, dieser Bu, dieser Schaaß auf unsere Zeit von Heute, dieses wirklich letzte Arschloch im wohlstandsverwahrlosten Reich der Gutmenschen, der plaudert immer wieder Alles aus, und das auch noch bis ins letzte böseste Detail, ohne irgendwas schön zu reden, das nicht schön zu reden ist. So macht man sich halt keine Freunde, das ist doch klar?! Oder etwa nicht?

Verdammt! Diese Geldmaschinerie der Gutmenschen-Organisationen hat seinen Rock entmenscht. Rocky ist heute oft so traurig, und so wütend ist er auch. Und am Traurigsten ist er darüber, weil ihn Niemand versteht, weil er darüber mit wirklich Niemandem reden kann, außer mit Miss Di, seiner Göttin Danae. Rocky fragt sich immer öfter, ob er vielleicht verrückt ist? Vielleicht sieht ja nur er das so und eigentlich ist Alles eh paletti? Rocky mag irgendwie nicht mehr. Alles stinkt!

Diese scheiß Gutmenschenwelt, die zu Nichts und Niemandem böse sein will, nicht einmal zu den Bösen, die ist gerade voll und ganz dabei, an ihrem „Zu-Allen-Gutsein“ zu zerfetzen. So viel ist Rocky klar. Entweder dreht jetzt die Welt durch oder Rocky dreht durch. Entweder oder! Dazwischen ist Nichts mehr. Scheiße! Absolut!

Und immer, wenn er daran denkt, und er denkt leider immer öfter daran, dann fällt ihm das kleine zarte Ding aus Düsseldorf ein, die mit ihren süßen Titten, die er so gerne lieb gehabt hätte. Er hat sich ja schon vor dem Konzert in sie verliebt. Und das, obwohl ihm völlig klar war, dass es nicht ging, schließlich war er schon viel zu alt für sie. Er war ja kein .... Und außerdem:

Als sie sich vorgestellt hat, da sagte sie in ihrem Düsseldorferisch: “Hi. Ich bin die Sivvy.“ Ihm ist der Bissen Kebab im Hals fast stecken geblieben, an dem er gerade herum gekaut hat. Mensch, er war ja schon zuvor schwer geschockt, als er sie in der Menge der Mädchen vor der Bühne entdeckt hat. Sie sah ein wenig aus, wie seine Tänzerinnenschlank. Dasselbe Gesicht, dieselben Haare, der Busen, der Hintern in ihren Jeans, ihre ganze Gestalt. Und verdammt! Jetzt hieß sie auch noch so. Sivvy. Rocky dachte, Lucifer höchst persönlich würde sein Spielchen mit ihm spielen.

Und da muss Rocky auf einmal weinen. Manchmal ist Rocky ja eine echte Heulsuse. Natürlich heult er nur, wenn Niemand dabei zusieht, so wie gerade jetzt, wo er diese Geschichte schreibt. Rocky tippt und tippt dabei, wie in einem Rausch ertrunken, und kann den Bildschirm gar nicht sehen. Alles verschwimmt. Und Alles tut so weh, so furchtbar furchtbar weh. Noch immer, dabei ist das jetzt ja schon gut über fünfundzwanzig Jahr her. Aber es tut noch immer sooo weh. Heul. Rockys Hemdärmel sind an den Oberarmen inzwischen schon patschnass.

“Verdammt! Sivvy, bitte, verzeih mir! Verzeih mir, bitte, dass ich nicht das geworden bin, Was ich dir damals im Krankenhaus doch so hoch und heilig versprochen habe, bevor du damals weggegangen bist, oder besser, bevor sie dich mir Stück für Stück von meiner Seite weg geschnitten haben.“ Rocky wischt sich wieder einmal seine Tränen aus den Augen.

“Mein Gott! Wir beide wollten doch so richtige, ehrliche Künstler werden, so echte Künstler, die wieder mit dem Boden verbunden sind, auf dem sie leben, und mit den Menschen darauf. Du wolltest keine Bilder malen ohne Worte. Und ich wollte die richtigen Worte finden, die den Menschen helfen, wenn sie in der Scheiße sitzen, und das womöglich bis zum Hals.“ Rocky wischt. “Wir wollten den Menschen keine Halbwahrheiten erzählen, sondern was halt Sache ist, auch wenn die vielleicht nicht gar so schön klingt. Wir wollten uns gegen diese damals schon so berühmten Verallgemeinerer, gegen diese “Alles-nach-unten-Nivellierer“ und gegen diese “Ihr-Volk-so-sehr-Hasser“ stellen. Wir wollten unserer deutschen Sprache das Selbstvertrauen zurück geben, das ihr von den Nazis gestohlen wurde. Wir wollten Künstler sein, die dem Volk, den Menschen zur Seite stehen, auch wenn sie mal einen Fehler begehen, und ihnen dienen, so wie sich dies für Menschen nun mal gehört, die von Gott zufällig mit einer besonderen Begabung gesegnet worden sind.“

Heul. Heul. Rocky wischt. “Verzeih mir Sivvy, bitte! Ich bin heute genau so ein feiges Arschloch, wie all die anderen auch. Ich schau auch überall weg. Dabei habe ich es dir doch hoch und heilig versprochen, dass ich nicht so werde. Aber ich hatte einfach keine Kraft mehr, als du auf einmal weg warst. Ich war so allein, so unheimlich allein mit meinen Gedanken, so furchtbar furchtbar einsam und sooo leer. Am Liebsten wäre ich dir ja nachgegangen. Und irgendwie habe ich es dann nicht mehr geschafft, dass ich in meinen Geschichten die Kurve gekriegt habe. Ich habe nur mehr gesagt, was Sache ist, beinhart und ohne jeden Schnörkel. Meine Sprache ist heute eine einzige Suderei. Sie ist nicht mehr zum Lachen. Und diese vom Leben schon völlig abgehobenen Intis, wie wir zwei diese wichtigen Intellektuellen damals schon genannt haben, haben mich dann schon bald nicht mehr gemocht. Und dann haben sie mich einfach ausgespuckt, wie einen versehentlich mit abgebissenen Apfelkern. Pfui Teufel! Warum müssen Äpfel auch Kerne haben, verdammt?

Ich hätte den Mut aufbringen müssen und dir folgen sollen. Der einzige Grund, weshalb ich dir nicht nachgegangen bin, war dieser Arsch von einem Buji in mir. Der hat immer zu mir gesagt: “Warte! Warte, Rocky. Unsere Zeit kommt noch. Wir zwei, wir schreiben diese verlogene Saubande von Philosophen noch ins Grab. Wir zwei ganz alleine, du wirst schon sehen. Und wir brauchen keine Hilfe dabei.“ Dabei wollte ich Das doch gar nicht. Wir wollten doch bloß unsere eigentlich schöne, aber doch ein wenig einäugige Philosophie mit einer anderen Liebe beleben. Wir wollten doch bloß ein bisschen Realität, das Leben, hinein bringen in unser Aller so schönen Traum. Wir beide wollten das zweite Auge sein. Aber die haben das damals einfach nicht kapiert. Alles lief für sie ja bestens. Und das sogar, obwohl das Volk, die Menschen, ihnen gar nicht auf ihrem verträumten Weg gefolgt ist, sind. Ja, und obwohl sie, diese 68er-Dichter und –Philosophen die Menschen sogar gehasst haben, ging es mit ihrer Scheinwelt nur noch steil nach oben. Die warnenden Zeichen haben sie einfach negiert. Es genügte für sie, einer einst großen Klientel aufs Maul zu schreiben.

Es war ja damals so schwer, Etwas gegen diese Gutmenschen zu sagen. Ihre Philosophie war damals einfach unangreifbar. Alles klang nur schön und so super. Wer Etwas gegen ihren Traum vorgebracht hatte, war gleich ein Madig-Macher, ein Negativist, und wenn er Pech hatte, haben sie aus so einem sogar einen bösen Nazi gemacht. Und verdammt! Niemand wollte so ein Nazi sein. Also haben wir anderen Alle feige geschwiegen.

Heute ist das ja schon viel, viel leichter, dieses “madig“ machen. Srebrenica hat wohl Alles klar gemacht. Alle Welt weiß heute, was dieser 68er-Gutmenschen-Philosoph in Wahrheit ist. Er ist auf ein und derselben Medaille die andere Seite vom Nazi, vom Stalinisten, vom Pol-Potisten und so weiter, von diesen Massenmördern. Der Gutmenschen-Philosoph der 68er-Generation ist auf seine Art zum größten Massenmitmörder aller Zeiten geworden. Er weiß einfach Alles und tut einfach Nichts. Die einzige Waffe gegen das Böse in der Welt ist sein Bla-Bla. Und kein Böser nimmt dieses Bla-Bla heute noch ernst. Und genau das wollten wir beide, du, meine Sivvy, und ich, doch verhindern. Wir wollten das doch verhindern, dass dann irgendwann mal Einer daher kommt, dem der Europäische Gutmensch mit seiner ewigen und so verlogenen Wegschauphilosophie auf den Wecker geht und der dann so gewalttätig und so böse auf den “Bush“ klopft. Ja, so einen wollten wir zwei damals schon verhindern.“

Heul. Heul, und noch mal Heul. Rocky wischt wieder und fühlt sich auf einmal so beschissen einsam, wie schon lange nicht mehr. Seine Augen sind wieder zu und dicht. Rocky muss mehrmals kräftig wischen. Und dann muss Rocky wieder an diese andere Sivvy und an all die vielen anderen kleinen Dinger denken, die dieser einstige und so einmalige Experte an der Rockgitarre, dieser Mister Guitar, höchst persönlich auf seine göttliche Art durch gezogen hat. Der ist heute auch nur noch ein armer Hund. Er ist heute bloß noch einer von diesen vielen, so vielen, so unheimlich vielen Kindermösenexperten im Internet. Und alle Welt weiß es und schaut ihrer gutmenschlichen Wegschau-Philosophie entsprechend einfach weg.

“Vielleicht hätte ich ihn damals umbringen sollen und dann ein paar Jahre lang ins Häfen gehen? Ein Zeichen setzen. Aber womöglich hätte man ihm, dem Rocky, damals seine Gründe ja gar nicht geglaubt. Diese Gutmenschen-Medienwelt hätte Rockys Worte wahrscheinlich verschwiegen, so wie bisher ja auch. Aber Mister Guitar, also sein Künstler-Ich, wäre ihm dafür vielleicht sogar dankbar gewesen. Man hätte ihn wahrscheinlich auf eine Stufe mit Jim Morrison, Jimi Hendrix, Janis Joplin und erst Recht mit John Lennon, der ja auch ermordet wurde, aus welchen Gründen auch immer, gestellt. So aber ist er heute nur noch eine arme und so unheimlich böse Drecksau - ein Kindermösenexperte unter Vielen im Internet. Tut mir leid, Sivvy. Aber ich hatte damals ja keine Kraft nicht, kein bisschen.“ Heul. So heul. Rocky flucht, die Augen brennen, der Bildschirm verschwimmt. “Diese Kraft habe ich erst wieder, seit Buji immer mehr Recht kriegt. Die Welt läuft heute genau so und nicht anders aus dem Ruder, wie er es mir immer gesagt hat. Verdammt!“

Vor Kurzem hat Rocky irgendwo gelesen, dass man dieses “WWW“ auf hebräisch “666“ schreibt. Ob dies wohl irgendeine Bedeutung hat? Rocky hat keine Ahnung nicht, auch nicht, ob dies denn wahr ist, was er da gelesen hat. Und unsere Welt von Heute wohl auch noch nicht. Aber dass es heute einen Haufen Kindermösenexperten gibt, im Internet und auch anderswo, und zwar so viele wie noch nie zuvor, das hat diese Welt inzwischen schon ein wenig begriffen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.05.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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