Manfred Gries

Theorien zum Blamagismus - Wie alles begann

Pierre Horatius hatte wie üblich sein Studentenfrühstück eingenommen - Corn Flakes und Orangensaft. Der Tag schien vielversprechend zu werden und Pierres Laune machte sich auf den Weg zur Vervollkommnung. Vor sich hin summend betrat er die Universität durch den Haupteingang. “Guten Morgen, Pierre“, begrüßte ihn eine Stimme. Es war sein Kommilitone Bernhard, der vorsichtig sein Herz in den Augen aufblitzen ließ. Etwas lag ihm darauf und Pierre grüßte vorbereitet zurück. “Guten Morgen, Bernhard,“ Ohne große Umschweife - Bernhard war ein einfacher Mensch - kam dieser zum Thema. “Du sag einmal Pierre, wie kommt es, dass du die letzten Aufgaben in Mathematik lösen konntest - Du bist doch auch nicht so intelligent?“ Pierre schmunzelte unerkannt. Wusste er doch, dass seine Intelligenz immer incognito blieb, wenn er sich in der Öffentlichkeit bewegte. “Weißt du, Bernhard“, antwortete er, “ich hatte einen Geistesblitz - so etwas kommt schon einmal vor.“ Er wusste genau, dass intelligente Erklärungen hier fehl am Platze gewesen wären. Bernhard lächelte ihn an und signalisierte Zufriedenheit. Was hätte es auch geholfen, wenn Pierre ihm von seinem Leben berichtet hätte. Von den ersten Erfolgen und Niederlagen im Reich der Zahlen, von den Lehrern, die seine Motivation damals mit Zensuren beeinflusst hatten. Nein, das hätte Bernhard nicht verstanden, da war er sich sicher.

Pierres Gedanken gingen zurück in seine Schulzeit. Elternsprechtage breiteten sich um in aus mit ihrem stets gleichen Gesprächsverlauf. Mutter hörte sich die Klagen an und die Lehrer suchten nach der Ursache für Pierres fehlende Intelligenz. Pierre jedoch blieb “incognito“. Und so vergingen die Jahre. Sein Interesse an der Mathematik blieb eher gering ob der Beurteilungen der Lehrer. Beobachtend verglich er die Inhalte ihrer Köpfe mit dem seines Bewusstsein. Und so zogen Green Cards für IT Experten aus Thailand und Pisa Studien an ihm vorbei. Nichts fruchtete bis Pierre eines Tages beschloss, Physiker zu werden. Zwar waren die Grundlagen dieser Naturwissenschaft in der Schule an ihm vorbei gegangen, aber das machte nichts. Sein Incognito begann sich aufzulösen und brach in die Welt seiner Gegenüber ein. Bernhard war wohl das erste Opfer und weitere sollten folgen.

In dieser neuen Welt traf Pierre auch Stimmen, die voll des Lobes waren. “Man, du bist echt klug“, meinten diese Stimmen. Und Pierre versuchte zu verstehen, was denn die Grundlage dieser Beurteilung sei. Es stellte sich heraus, dass Lob eigentlich nur dann entsteht, wenn der Lobende nichts versteht. Wie das gemeint ist? Also, man stelle sich vor, dass ein Metzger und ein Frisör sich über Innereien unterhalten. Der Metzger ist hier natürlich klar im Vorteil und am Ende des Gespräches verkündet der Friseur. “Sie kennen sich aber sehr gut aus.“ Schmunzelnd nimmt der Metzger das Lob entgegen, während er ein wenig unsicher über die Konsistenz von australischem Känguru Hoden nachdenkt, die er so trefflich beschrieben hat. Eigentlich hatte er noch nie ein Känguru gesehen. Ähnlich wie uns die Werbung neue Produkte verkauft, hatte er von Schweinen auf Kangurus geschlossen und seine Erkenntnisse überzeugend dargestellt.

Ein etwas fahler Beigeschmack nistete sich in Pierres gute Laune, weil nun die Stimmen ihn als arrogant zu bezeichnen begannen. Wer soviel Wissen besitzt, sollte eher vorsichtig und incognito bleiben, so sagten die Stimmen. Bernhard gehörte nicht dazu. Bernhard lächelte zufrieden an diesem Morgen. Nichts desto trotz nahm der Tag seinen Lauf und wechselte vom Vorwurf der Arroganz zu Pierres äußerlicher Erscheinung. Auch hier fanden die Stimmen Grundlagen für eine konstruktive Kritik. “Wie du wieder aussiehst“ flüsterten sie hinter seinem Rücken - Pierre hatte gute Ohren. Seine Jeans, aus deren oberen Ende stets ein Stück Hemd heraushing, gaben den Stimmen Recht.

Das war der Tag, als Pierre sich zu wehren begann, nicht der Tag, an dem er Bernhard traf. Seine Antworten begannen sich zu verändern. Er trat aus seinem Incognito heraus und sprach wie folgt: “Meine Leistungen sind einfach hervorragend, weil ich so intelligent bin.“ Natürlich folgte die Kritik auf den Fuß. Pierre wurde fortan als Angeber entlarvt. Seine Ausführungen über die Konsistenz australischer Känguru Hoden wurden als mathematischer Unsinn bezeichnet und auf dem Gipfel der guten Laune bat ihn ein Arzt, den Raum zu verlassen, in dem sich der Arzt, Pierres Frau und Pierre befanden. Pierre ging, sammelte Verständnis bei den Krankenschwestern und trank einen Kaffee, der seine Lebensgeister wieder weckte. Als der Arzt sich bei ihm entschuldigte, war seine gute Laune längst wieder auf dem Weg zum eigenen Selbstbewusstsein. Und Bernhard war 20 Jahre älter geworden. Und er war immer noch zufrieden mit Pierres Antwort.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.05.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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