Ines Wertenbroch

Strohfeuer


Das Gefühl schien schnell erloschen zu sein. Wir vermissten uns nicht mehr. Der Alltag miteinander war von Anfang an still gewesen.
Er war jemand, der weder perfekte noch unperfekte Musik mochte. Und so hörten wir bei unseren Treffen meistens Jazz. Dabei konnten wir über jedes einzelne Instrument sprechen. Wenn wir nicht redeten, hörten wir den einzelnen Tönen zu und niemand störte den anderen dabei.
Vielleicht konnten wir uns in der Distanz besser kennen lernen. Ohne das Wort Bindung, das uns zu etwas verpflichten konnte oder von uns etwas zu erwarten schien. Die Entscheidung dazu fiel an einem Samstag.
Ich ging davon aus, dass wir uns erst ein paar Tage nicht sehen und die Treffen insgesamt seltener würden. Doch schon am Montag klingelte mein Telefon. Er fragte, ob er in einer Stunde bei mir vorbeikommen dürfe. Er sei gerade in der Nähe.
Eine halbe Stunde früher stand er vor meiner Tür. Wir umarmten uns, wobei er mir sanft über meine Arme und meinen Rücken strich. Er blieb zwei Stunden. Wir saßen auf dem Sofa. Jeder an einem Ende. Wir unterhielten uns über die Zeit, die wir ohne den anderen verbracht hatten. Er betrachtete mich, wie ich an der Wand gelehnt in den Raum schaute, wie ich aufstand, um die Schallplatte umzudrehen und er sah mir zu, wie ich den Tee zubereitete.
Zum Abschied drückte er mich lange an sich und fuhr mit seiner Hand über meinen Nacken in das Haar hinein. Ich schloss die Augen und fühlte, dass es schön war.

Am Mittwoch trafen wir uns durch Zufall beim Einkaufen. Ich war müde und angespannt. An diesem Tag hatte ich mich für etwas rechtfertigen müssen, das ich nicht getan hatte. Ich erzählte ihm davon. Er lächelte und schaute mir in die Augen: „Was kann ich tun, um dich auf andere Gedanken zu bringen?“ Seine Stimme wirkte wie eine Einladung.
„Morgen läuft außer der Reihe eine Wiederholung von einem Film“, antwortete er selbst.
„Sollen wir uns dann 19.30 Uhr vor dem Kino treffen?“ In der ersten Zeit, noch bevor wir zusammen gewesen waren, hatten wir uns dort immer um diese Uhrzeit getroffen. Ich hatte die Kinokarten aufgehoben, um für später zu wissen, wann ich mit ihm welchen Film gesehen hatte. Er schien sich auch an die ersten Treffen zu erinnern, denn er zögerte in diesem Moment, in dem er mich länger anschaute und stimmte dann erst zu.
Bevor wir auseinander gingen, fuhr er leicht mit seiner Hand über meine Wange und sah mir lächelnd in die Augen.

Als ich mich am Donnerstagabend für den Kinobesuch fertig machte, konnte ich nicht umhin, die Musik zu hören, die ich in der ersten Zeit mit ihm immer gehört hatte.
Ich stand vor dem Spiegel und überlegte, was er denken könnte, wenn ich auf ihn zuging. Er hatte mir in der ersten Verliebtheit gesagt, dass er mein Gesicht sinnlich fand. Ob er das noch dachte, wenn er mich anschaute? Sicher erinnerte auch er sich an die Abende, in denen wir die Haut des anderen berührten und den Duft des anderen Körpers nicht nur einatmeten, sondern regelrecht spüren konnten. Ich sah im Geiste, wie er über mir lag und mich anschaute. Er hatte mich an sich gedrückt und die Wärme seiner Haut wurde zu meiner eigenen. Das waren die einzigen Momente, in denen wir uns nahe waren. Daran musste ich mich immer erinnern, denn außerhalb der Nächte wurde es kühl.
Ich sah mir in die Augen. Warum waren wir uns so fern, wenn wir uns auch so nah sein konnten? Warum war es uns nicht möglich, das Gefühl der Nacht in den Tag zu retten?

Er wartete schon vor dem Kino, als ich dort ankam. Er lachte, als er mich sah.
„Pünktlich wie immer. Auf die Minute zehn Minuten zu spät.“
„Es tut mir leid.“ Bei ihm hatte ich nie versucht, Ausreden für mein konsequentes Zuspätkommen zu finden. Er schien es mir auch nie übel zu nehmen.
Wir gingen aufeinander zu. Selbstverständlich zog er mich an sich heran und umarmte mich fest. Mit einer Hand fuhr er langsam von meinem Nacken den Rücken hinab. Als Antwort drückte ich ihn mit meiner Hand an seinem Rücken noch näher an mich heran. Ich atmete tief ein. Er erwiderte es.

Im Kino setzten wir uns auf einen Zweierplatz ohne Lehne in der Mitte. Als der Film begann, legte er den Arm um mich. Ab und zu strich er mir übers Haar oder legte eine Hand auf mein Bein. Alle Bekannten, die wir dort trafen, konnten nicht erkennen, dass wir nicht mehr zusammen waren.

Als der Film zuende war, ging ich mit ihm noch in seine Wohnung. Statt wie sonst neben mir auf dem Sofa zu sitzen, setzte er sich auf den Platz gegenüber in einen Sessel. Im Hintergrund lief eine Jazzplatte. Eine Gruppe mit vier Musikern spielte eine Jazzversion von „Bye bye Blackbird“. Die Instrumente konnte ich beim ersten Lied noch nicht vollständig heraushören. Doch das würde ich sicher bald wissen. Entweder, weil ich es selbst in diesem stillen Raum hören konnte oder weil er es mir irgendwann sagen würde.
Am Ende des Abends hatte ich es selbst herausgefunden. Es war ein Klavier, ein Bass, eine Gitarre und ein Schlagzeug. Selbst die Basslinien hatte ich in den einzelnen Stücken hören können, obwohl mich das Klavier mehr interessierte.
Von seinem Platz aus schaute er mich immer wieder wortlos an. Wenn ich zurückschaute, lächelte er und hielt den Blickkontakt. Da er jedoch auf seinem Platz sitzen blieb, reagierte ich bald nicht mehr darauf. Irgendwann hatte ich mich halb auf das Sofa gelegt, so dass für ihn kein Platz mehr blieb. Selbst wenn er in den Momenten dachte, dass ich ihm gefiel, so verlief sich diese Möglichkeit, weil er von seinem Platz nicht aufstand und zu mir kam.
Ich fröstelte und fühlte mich wie eine bewegungslose Statue, die nur scheinbar lässig auf einem Sofa lag. Er machte mich so bewegungslos wie sich selbst.
Endlich gähnte er und sagte, dass er ins Bett wollte. Endlich konnte ich aufstehen und gehen. Es würde nichts mehr passieren.

Ich hatte seine Haustür schon geöffnet und zog mir meine Jacke über. Er schaute mir dabei zu. Als ich fertig war, standen wir uns eine Weile gegenüber. Ich erwartete, dass er mich umarmte. Eine kühle Starre ging von ihm auf mich aus und hielt mich davon ab, selbst auf ihn zu zugehen. Er hatte mich den ganzen Abend in seiner Wohnung daran erinnert, warum wir uns bis jetzt kaum kennen lernen konnten. Ich ging, ohne enttäuscht zu sein.
Als ich draußen war, spürte ich den Mai wieder. Mir wurde wärmer. Ich freute mich darauf, in meine Wohnung zu gehen. Und darüber, dass morgen ein neuer heller Tag sein würde.


Als ich zu Hause war, räumte ich meine Tasche aus. Ich musste an den ersten Teil des Abends denken, als ich die Kinokarte fand. Ein wenig nah bin ich ihm gewesen. Es ist schwer, nichts zu erwarten.
Ich legte die Kinokarte auf meinen Schreibtisch. In einigen Tagen oder Wochen konnte es sein, dass ich wissen wollte, wann ich diesen Film mit ihm gesehen hatte.


(Ines Wertenbroch, 15.Mai 2004)

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