B. Jung

Halbmond

Schweigend sitzen sie einander gegenüber.

Ihre Hände ruhen in ihrem Schoß, sie hält sie gefaltet. Ihr Blick ruht abwartend auf seinem Gesicht.

Er hat die Arme auf den Sessellehnen ruhen. Sein rechtes Bein hat er über das linke geschlagen, der rechte Fuß wippt nervös auf und ab. Er betrachtet sie.

Ihr Haar ist rotbraun, nur an vereinzelten Stellen von grau durchzogen. Auf ihrer Stirn zeichnen sich Sorgenfalten ab. Er trifft den Blick ihrer graugrünen Augen. Wie lang ihre Wimpern sind. Sein Blick folgt ihrer Nase, stoppt an ihrem hübschen Mund mit den vollen Lippen.

Als er sie das erste Mal gesehen hatte, hatte er sich sofort in sie verliebt. "Das ist die Frau, die ich einmal heiraten werde." hatte er seinem besten Freund gesagt. Dieser hatte nur gelacht und den Kopf geschüttelt. Als ob jemand mit 18 so etwas genau wissen konnte.

Ihre Figur hat sich kaum verändert. Nur ihr Kleidungsstil. Die weit ausgeschnittenen T-Shirts sind femininen Blusen gewichen. Er mag ihren Körper noch immer.

Wieso fällt ihm jetzt erst auf, dass sie die Kette nicht mehr trägt? Er hatte ihr diesen kleinen goldenen Halbmond vor vielen Jahren während eines Türkeiurlaubs geschenkt. Bei Sonnenuntergang, in einem romantischen Lokal, hatte er ihn ihr mit den Worten: "Meine Liebe zu dir wird erst enden, wenn aus diesem Halbmond ein Vollmond wird." überreicht. Danach hatten sie sich die ganze Nacht geliebt.

Überhaupt, was war aus ihrer Sexualität geworden? Wann war aus viermal in der Woche ein Mal in sechs Monat geworden? Was war mit den Wochenenden im Bett geschehen, an denen sie das Telefon ausgestöpselt hatten, um völlig ungestört sein zu können?

Sie fühlt sich unbehaglich, während er sie mustert. Was denkt er über ihr langsam grauer werdendes Haar? Denkt er an die hübsche junge Frau, die sie einmal war? Nimmt er die Tiefe ihrer Falten wahr? Die Lachfalten um ihre Augenwinkel stören sie nicht, doch die Sorgenfalten, die irgendwann in den letzten Jahren auf ihrer Stirn Einzug hielten.

Sie braucht ihn nicht zu mustern, um zu wissen, wie er aussieht. Er trägt seine Lieblingsjeans und den hellgrauen Pullover, der ihm so gut steht. Seine Augen sind grau, sie haben sie immer fasziniert. Jetzt fehlt ihnen das Strahlen. Auch seine Haltung hat sich verändert. Früher stand er immer gerade und aufrecht, den Kopf hoch erhoben. Heute lässt er oft die Schultern hängen. Was ist aus ihm geworden? Wohin ist der attraktive, aufmerksame, liebevolle Mann verschwunden?

Ob er bemerkt, dass sie den Halbmond nicht mehr trägt? Sie hat ihn vor einigen Wochen in die Schmuckschatulle gelegt, die sie in ihrer Nachttischschublade aufbewahrt. Ganz plötzlich hatte sie das Gefühl, dass der Mond sie zu Boden drückt. Wann hatte der Halbmond das Gewicht eines Vollmondes angenommen? Ihre Hand fährt an ihren Hals, sie blinzelt, dann sagt sie: "Aus dem Halbmond ist ein Vollmond geworden." Und er nickt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.05.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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