Manfred Gries

Die kleine Archäologin

Sie stocherte fasziniert in den Scherben von alten Bierflaschen und Ziegelsteinen, die den Boden nahe Wien schmückten. Das Auto hatte in einem kleinen Feldweg Platz genommen und seine Fahrgäste schauten über jenen Acker, auf dem vor langer Zeit angeblich ein Schloss der Vorfahren von ´Ich find deine Stimme schön´ gestanden hatte. Jedenfalls sagte sie so - und wenn sie so sagte, dann musste etwas dran sein an dem Gesagten. “Schau einmal, Kuckuck, dieser Ziegelstein stammt bestimmt aus dem Ostflügel des Schlosses.“ Ich trug die Plastiktaschen, zwei ihrer Art, links und rechts an meinen Händen und folgte der kleinen Archäologin andächtig. Der Acker lag direkt gegenüber einer kleinen Kapelle, die sicherlich in früheren Zeiten dem Schlossherrn als Gebetsstätte gedient haben musste. Ein aufregend roter Ziegelstein verschwand in einer der beiden Taschen und die Archäologin richtete ihren Blick schon auf das nächste Relikt, während meine Arme sich anschickten, länger zu werden.

Länger wurden auch die Schatten, die unseren Weg begleiteten. Stein für Stein untersuchte ´Ich find deine Stimme schön´ den Acker, der heute allein dem Getreideanbau diente. Früher musste es hier menschliches Leben gegeben haben, davon zeugten die Bierflaschenscherben. Und noch viel früher erhob sich die Schlossmauer aus Ziegelsteinen schattenspendend auf dem Acker der Zeit. Wieder nahm eine der Plastiktüten einen neuen Stein auf. “Der stammt ganz sicher aus dem Schlafzimmer des Schlossherren“, lächelte die Archäologin mich an. “Aber genau werden wir das erst zuhause feststellen können.“ Mir wurde die Last der Vergangenheit langsam lästig. “Können wir nicht nach Hause fahren?“ fragte ich sie. “Unser Wagen vereinsamt immer mehr und ich habe Hunger.“ Das war wahrscheinlich das falsche Argument, denn eine besonders aufregende Glasscherbe schien Zeugnis vom Eheleben des Schlossherrn abzulegen. “Schau, Kuckuck, die ist noch handgeblasen.“ Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Coca Cola gar so alt nicht sein könne. Für sie aber stammte die Glasscherbe vom Spiegel der Schlossherrin, die sich für ihren Gemahl allabendlich schmückte. Und Abend wurde es langsam, davon zeugten die Schatten der Kapelle.

“Wenn wir jetzt nicht augenblicklich nach Hause fahren, beantrage ich Asyl in der Kirche“ - der Ernst meiner Worte schien sie erreicht zu haben. Die Drohung, dass sie die Plastiktüten nun selber tragen müsse, gab der Ausgrabung die mir angenehme Wende. Wir traten den Rückweg an - natürlich nicht, ohne die restlichen Ziegelsteine aufzusammeln, die die Archäologin vorher übersehen hatte. Die Plastiktüten wurden auf eine Zerreisprobe gestellt - meine Arme passten sich den länger werdenden Schatten an. Endlich verstaute ich die Relikte aus der Vorzeit im Kofferraum des wartenden Wagens auf dem Feldweg. “Das ist spannend, gell, Kuckuck? Die Steine erzählen uns, wie die Menschen früher gelebt und geliebt haben.“ Ich liebte die kleine Archäologin, nahm auf dem Beifahrersitz Platz und ließ meine Arme baumeln.

Zuhause angekommen, in jenem kleinen Gartenhaus, das aus anderen Erlebnissen hinreichend bekannt ist, sortierten wir die Ausbeute unserer Ausgrabung. Eigentlich hatten wir gar nicht gegraben. Das hatte der Pflug des Bauern für uns getan. Wir hatten nur aufgesammelt, ich hatte getragen. Akribisch genau untersuchte die Archäologin nun Stein für Stein. Das Ergebnis förderte ein Gebäude aus dem Jahre 1900 zutage, das von einem gewissen Alois erbaut wurde. Alois war der Großvater des Bauern, der heute den Acker bestellte und der eigentlich kein Kirchgänger war. “Da kannst du einmal sehen, wie wenig dankbar die Menschen sind“, ließ sich ´Ich find deine Stimme schön´ vernehmen. “Sie bauen ihre Ziegelbauten direkt gegenüber einer Kapelle, ohne diese zu besuchen.“ Ich steckte die beiden Plastiktüten in den dafür vorgesehenen Abfallkorb - sie lächelten erleichtert, die Plastiktüten. “Morgen werden wir den Karlsplatz umgraben. Da hat einmal eine Schwester meiner Oma gewohnt“, kommentierte ´Ich find deine Stimme schön´ den Sonnenuntergang, der heute besonders schön war.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.05.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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