Hendrikje Streiter

Das Mädchen mit den schwarzen Haaren

Ich würde jetzt am liebsten irgendwo auf einer Wiese liegen und in einen blauen Himmel mit vielen kleinen Schafwolken schauen. Es muss ganz still sein, fern vom Internatsstress und Elkes fettem Schulfraß. Ich will einmal nur daliegen und nichts tun…

Ich wache auf, irgendwie muss ich eingeschlafen sein. Ich gehe raus in den Wald, den Pfad entlang, mein Gepäck ist schwer und ich versuche, die Reisetasche irgendwie auf meinen Rücken zu bekommen, um das Schleppen ein wenig zu erleichtern. Ich komme den Pfad entlang hinaus aus dem Wald auf den Bahnhof zu. Mein Zug steht auch schon da, ich beeile mich, weil ich Angst habe ihn zu verpassen. Als ich dann einen Platz finde, und meine Tasche verstaue, lasse ich mich erschöpft vom schweren Tragen, in einen bequemen weichen, Abteilsitz fallen. Es ist ein sehr alter Zug, er macht quietschende Geräusche während wir fahren. Im Abteil sitzt schon ein alter Mann. Mit dicker Brille und ernstem Blick liest er en Buch, ich packe meine Brote aus. Ich weiß, eigentlich darf man sie nicht schon am Anfang der Fahrt auspacken, aber ich hab schon wieder Hunger, dass ist immer so. Ich hole auch mein Buch raus, ich muss es noch für den Deutschunterricht lesen und habe eigentlich gar keine Lust darauf. Plötzlich habe ich ein leeres und ungutes Gefühl ich kann nicht sagen warum, es ist als würde mich etwas mit einem Karabinerharken in meine Magengrube packen und mit ins Dunkle ziehen. Ich habe keine Lust mehr auf mein Brot mit viel zu viel Mettwurst. Plötzlich hält der Zug. Ich höre draußen Schritte, es klingt nicht so als hätte der jenige, der den Gang entlang kommt, Schuhe an. Die Abteiltür geht auf und was ich dort sehe, lässt mir keine Möglichkeit, zu schreien, zu weinen, wegzurennen oder mich gar zu bewegen. Es steht ein Mädchen in der Tür, sie genauso aus wie ich, nur hat sie kinnlange, schwarze Haare und nichts weiter an als ein knielanges, weißes Kleid. Sie hat ein Loch in der Brust und hält ihr Herz in beiden Händen, als hätte sie einen Vogel eingefangen. Der Tod scheint sie von hinten zu umarmen, mit einem Zylinderhut auf seinem schwarzen Schädel. Er grinst mir entgegen, doch dass Mädchen schaut mir mit einem liebevollen Blick entgegen. Sie sieht mich nicht verlangend, oder bittend an, sie aus der Umarmung vom Tod zu befreien-wie könnte ich auch. Sie weiß ich kann nichts tun, ich fühle eine starke Verbindung zwischen uns und ich schreie auf vor Wut und Schmerz, als der Tod sie mit sich reißt. Sie ist verschwunden mitten ins Nichts. Ich weine, schreie und flehe und kann nicht mehr damit aufhören…

Jemand schüttelt mich. Ich bekomme einen riesigen Schreck, meine Ganze Mathegruppe schaut mich mit einem nervösen und besorgten Blick entgegen. „Du bist eingeschlafen, was hast du geträumt, dass du so geweint und geschrieen hast, und das mitten im Mathematikunterricht!“ sagt meine Lehrerin und fühlt mir die Stirn, offenbar denkt sie ich hätte Fieber. Ich bleibe stumm weil ich nicht daran denke, diese grausame Geschichte meiner Klasse zu erzählen. Alle schauen mich gespannt an, ich kann es kaum ertragen, sie schauen wie neugierige dumme Kühe. Ich werde erlöst vom Direktor, der wie gescheucht in die Klasse stürmt und mich bittet mit ihm nach draußen zu kommen. Sein teigiges Gesicht verzieht sich zu einer Trauergrimasse. Schnell, als würde er es hinter sich bringen wollen sagt er: „ Es tut mir leid. Aber gerade hat mich der Direktor angerufen, vom Gymnasium deiner Schwester. Deine Schwester ist heute vor der Schule umgekommen.“ „Ist vor der Schule umgekommen …!“ Ich muss lachen, vielleicht weil ich es nicht glauben kann. Für mich ist meine Schwester noch am Leben, bei vollem Bewusstsein, sie kann nicht einfach…oder doch? Ich weine, schreie und flehe und kann nicht mehr aufhören. Meine Schwester im Zug, mit ihrem Herz in der Hand.

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