Uwe Härtel

Der Mann am Imbiss



Heute früh um 7 Uhr habe ich ihn gesehen. Er stand an einem der drei runden
Tische, vor einer Imbissbude an einer großen, belebten Kreuzung irgendwo im
Ostteil von Berlin. Es war ein sonniger Montag Morgen mit milden Temperaturen
und ohne nennenswerten Wind. Ich fuhr mit meinem Fahrrad über die Kreuzung
an diesem Imbiss vorbei und sah ihn. Dort stand er, einen Arm auf den Tisch
gestützt, mit ausdruckslosem Blick den dichten Verkehr beobachtend und trank Bier.
Seine Hand umklammerte die braune Flasche, als wäre sie sein einzigster und
somit wertvollster Besitz.
Er war noch nicht sehr alt, vielleicht Mitte 30. Ich sah ihn also dort stehen,
nur einen Augenblick lang. Dennoch kenne ich vielleicht seine Lebensgeschichte.

Mitte der 80er Jahre begann er nach 10jähriger Schulausbildung eine Lehre zum
Facharbeiter. Nach 2,5 Jahren Lehrzeit arbeitete er im 3-Schicht-System in einem
großen Volkseigenen Betrieb. Er war sehr fleißig und verdiente gutes Geld.
1987 bekam er seine erste eigene Wohnung in einem der modernen Neubauten im Bezirk
Lichtenberg. Er hatte viele Freunde, verstand sich gut mit seinen Kollegen und es
sah sogar so aus, als würde sich die kleine Brünette von Nebenan für ihn interes-
sieren. Sein verdientes Geld sparte er auf, vielleicht würde er sich eines Tages
ein Auto bestellen oder mal einen Luxusurlaub am Balaton gönnen.
Dann kam der 9. November 1989 und ab diesem Tag wurde alles anders. Wo zuvor eine
Mauer stand, öffneten sich nun weite Tore und zeigten neue Wege zu bis dato
ungeahnten Möglichkeiten und Verlockungen.
Seine Ersparnisse waren nur noch die Hälfe wert. Aber zu seine Freude lernte er,
das er auch Geld ausgeben konnte, das er noch gar nicht verdient hatte. Schließlich
machten es all seine Freunde ja auch so. Er kaufe neue Möbel und ein gebrauchtes
Auto. Er lud seine Brünette Nachbarin zu einem Urlaub auf Mallorca ein. Er besuchte
unzählige Partys, auf denen er mit anderen die neue Freiheit feierte.
Ein Jahr später wurde sein Betrieb abgewickelt. Aus der einst riesigen Volkseigenen
Fabrik wurde eine winzige GmbH und 90% der Angestellten verloren ihre Arbeit. Er
lernte einer der wichtigsten Institutionen der neuen Republik kennen: Das Arbeitsamt.
Dort erfuhr er, das sein Facharbeiterabschlu0 nicht anerkannt und somit vollkommen
wertlos war. Er nahm an einer Umschulung teil. Nach deren Abschluss stellte das
Arbeitsamt überrascht fest, das die Anzahl der Umgeschulten den Bedarf an Fach-
kräften in diesem Sektor um mehr als das doppelte überstieg. Er wurde in eine ABM
eingegliedert. Als sein Arbeitslosengeld zur Arbeitslosenhilfe wurde, trat seine
Bank an ihn heran und forderte die Tilgung seines über Jahre hinweg angestauten
Dispokredits. Da er nicht zahlen konnte, wurden ihm sein Auto und ein Teil der Möbel
wieder fortgenommen.
Hilfesuchend wandte er sich an seine Eltern, doch bestritten ihren Lebensabend von
einer kleinen Rente und hatten selbst genügend Probleme. Er fragte seine Freunde,
ob sie ihm Geld leihen könnten, diese jedoch wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben.
Die kleine Brünette von Nebenan war längst nach Westdeutschland umgezogen. Seine
Wohnung wurde saniert und die Miete verdoppelte sich fast. Er lernte eine weitere
Institution der neuen Welt kennen: Das Sozialamt.
Und er fand neue Freunde. Leute, die von ähnlichen Schicksalen zu berichten wussten.
Sie alle hatten früher nie wirklich an die anti-imperialistische Propaganda der SED
geglaubt, die sich nun für sie auf so bittere Weise nun noch bewahrheitete.
Von seinen neuen Freunden lernte er, wie man Probleme mit Alkohol löst. Schon bald
trafen sie sich jeden Tag am Imbiss. Sie tranken gemeinsam und redeten über Gott
und die Welt. Zeit hatten sie ja – nach Abschaffung der ABM war es das einzige,
das ihnen allen reichlich zur Verfügung stand.
Im Laufe der Jahre wurde das Trinken für ihn zur Gewohnheit. Der Imbiss hatte fast
rund um die Uhr geöffnet und der Verkäufer, ein äußerst verständnisvoller Mensch,
war längst ebenso zu einem Freund geworden. Die Beamten von Sozial- und Arbeitsamt
vermochten ihm nicht mehr zu helfen. Er wusste: Arbeit gibt es nur für Leute, die
Mitte zwanzig waren, 10 Semester studiert hatten und 25 Jahre Berufserfahrung vor-
weisen konnten.
Vor einem Jahr kam er erst am Nachmittag zum Imbiss, als andere schon da waren.
Mittlerweile war er Früh meist der erste und wartete geduldig auf seine Freunde.
Er trank sein Bier und blinzelte müde in die Sonne. Eigentlich schmeckte ihm das
Bier m diese Zeit überhaupt nicht, aber dennoch trank er es. Er musste es trinken,
jeden Tag, auch schon am Morgen, es ging einfach nicht mehr anders.
Er hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich vorwurfsvoll zu fragen, was er wohl
wann in seinem Leben falsch gemacht hatte.
Der Verkehr der morgendlichen Rush-Hour strömte an ihm vorbei, wie einer träger Fluss
aus einer anderen, abstrakten Welt. Am Rande des Flusses tauchte ein Fahrradfahrer auf
und warf ihm einen kurzen, traurigen Blick zu – nicht mitleidig, einfach nur einen Blick,
traurig ob des Wissens oder zumindest der Ahnung über all das, was ihm möglicherweise
widerfahren sein könnte.
Leute wie er wurden oftmals als die Verlierer der Einheit bezeichnet. Es gab viele von
ihnen, das wusste er. Er wusste auch, das es genau so gut hätte umgekehrt sein können:
das der Typ, der da mit seinem Fahrrad, sehr wahrscheinlich auf dem Weg zur Arbeit, an
ihm vorüber fuhr, an seiner Stelle an diesem Imbiss stehen könnte, um früh um 7 Uhr sein
Bier zu trinken.
Es war eben Schicksal, das es so war und nicht umgekehrt.
Ein kurzes bitteres lächeln überflog seine Lippen, als der dem Fahrradfahrer zuprostete,
was dieser allerdings nicht mehr sehen konnte, denn in diesem Moment hatte ich die
Kreuzung bereits passiert.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.06.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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