Simone Wagner

Meeresrauschen


Das Meer hatte sie schon immer magisch angezogen. Als Kind war sie einmal mit ihren Eltern am Mittelmeer. Sie hatten sich ein Tretboot geliehen und waren damit ein bisschen herumgefahren. Ihr kam es wie eine stundenlange Reise vor. Plötzlich tauchte vor ihnen ein unvorstellbar großes Schiff auf, es musste der fliegende Holländer oder die Santa Maria gewesen sein. Vermutlich war es ein kleines Fischerboot, aber das Bild des mystischen Schiffs war in ihrer Erinnerung so gigantisch und deutlich, wie sie es als Kind wahrgenommen hatte.
Schon an diesem Tag vor vielen Jahren war ihr die Rolle, die das Meer in ihrem Leben spielen sollte so klar wie heute. Nur hatte sie es sich damals anders vorgestellt. Es sollte sie weit weg zu großen Abenteuern tragen. Weit weg tragen sollte es sie heute jedoch auch.
Sie ging langsam durch den Sand, als wollte sie sich jedes Sandkorn, das ihre Füße berührte, einprägen. Sie blickte auf das Wasser, das für sie immer ein Symbol der Sehnsucht war und nun ihre letzte erfüllen sollte. Sie war ruhig und entspannt wie seit Monaten nicht mehr und doch stimmten sie die Erinnerungen an die glücklichen Tage ihrer Kindheit, die der salzige Geschmack auf ihren Lippen hervorrief etwas melancholisch.
Wann war sie so traurig geworden? War es wirklich die Welt, die sie mit jeder Erkenntnis über ihre Härte mehr zum verzweifeln brachte? War es das Gefühl nie die Heldin sein zu werden, die am Ende der Geschichte alle rettet? War es ihre augenblickliche Situation, die aus Warten, Langeweile und Unausgefülltheit bestand? War es die Liebe, die sie nicht mehr suchte, nur, um nicht feststellen zu müssen, dass sie nicht da war?
All das spielte keine Rolle mehr, als sie wie vor einem Weg, den sie nun betreten würde vor dem riesigen Gewässer stand und noch einmal die letzten Strahlen der untergehenden Sonne in sich aufsog. Sie spürte das Wasser an ihren Zehen, als sie Stimmen hinter sich hörte. Sogar hier, an der Stelle des Strandes, die ihr vor Touristen sicher schien, weil das nächste Hotel weit entfernt war, konnte sie nicht ungestört sein. Es war eine ältere Dame mit einem kleinen Kind, die sie in ihrer Ruhe unterbrachen. Die beiden hatte sie gesehen, aber gingen ohne sie zu grüßen weiter, als hätte sie gemerkt, dass sie unerwünscht waren. Sie sah ihnen nach und konnte noch hören, wie die ältere Dame, die sie für die Großmutter des Mädchens hielt, mehr zu sich selbst, als zu dem voraus laufenden Kind sagte: „ Es ist so schön hier mit dir spazieren zu gehen. Irgendwann wirst du hier vielleicht wieder gehen, mit deinem Freund oder sogar deinen Kindern. Ich werde dann nicht hier sein, um dir zu sagen du sollst dich in Acht nehmen und nicht so schnell laufen. Aber ich mache mir keine Sorgen. Denn egal wie viele Aufgaben das Leben für dich bereithält, ich weiß, du wirst deinen Weg immer irgendwie gehen.“
Sie hatte ihren Blick wieder dem Meer zugewandt, doch die Tränen in ihren Augen verrieten, dass die Worte der Frau zu ihr durchgedrungen waren.
Sie dachte an ihre eigene Großmutter, die immer so stolz auf sie war, an ihre Eltern, die an sie glaubten, wenn sie es selbst längst nicht mehr tat, an ihre Freunde, die gerne mit ihr an diesem Strand spazieren gehen würden. Der zarte Hauch des Windes, den sie erst jetzt bemerkte war wie eine sanfte Hand, die ihr endgültig wies sich umzudrehen und von dem geliebten Meer Abschied zu nehmen. Ihr war, als hätte sie einen guten Freund verloren, der sie so lange getröstet hatte. Sie trauerte um den Freund, weil sie wusste, sie würde seinen Trost vermissen, aber sie dankte der unbekannten Frau für ihr neues Leben.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.06.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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