Florian Schäfer

Sein Weg

...Er streift durch die Straßen einer fremden Stadt. Keine Menschen Seele begegnet ihm. Es ist dunkel, Regen fällt prasselnd auf ihn. Die Straße ist endlos. Kalter Wind bläst ihm entgegen. Ist es die Wirklichkeit oder nur ein Traum? Er weiß es nicht. Langsam steigt Einsamkeit in ihm auf. Er ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Getrieben von Schmerz und Leid, was ihn immer weiter gehen lässt. Die Wunden scheinen verheilt, doch die Narben bleiben.
Er starrt mit seinen stahlblauen Augen in die Ferne. Ein weißes, unbekanntes Licht erhellt den Horizont. Ist dies die Hoffnung, die er schon fast aufgegeben hatte? Ist es seine Rettung aus der Dunkelheit? Er bleibt skeptisch und schlendert bedrückt weiter auf das unbekannte Licht zu.
Je näher er kommt, desto mehr wird er geblendet. Doch seine Augen sind kalt. Seine Gefühle erloschen. Ohne sich vor dem Licht zu schützen, steht er endlich vor einer leuchtenden Gestalt. Was ist das für ein Wesen? So rein, so klar. Ist es ein Mann oder eine Frau? Er kann es nicht erkennen und es ist ihm auch egal. Irgendetwas fasziniert ihn jedoch an dieser eigenartigen Gestalt.
Sein Blick streift durch die dunkle Umgebung. Der schwarze Himmel, die beängstigenden Schatten der verfallenen Häuser und ein alter Holzstuhl vor einem verwahrlosten Geschäft.
Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, will er weiter gehen. Es gelingt ihm nicht, die Lichtgestalt zu umgehen. Seltsamerweise stellt sie sich ihm immer in den Weg, sodass er nicht an ihr vorbei kommt. Er ist überrascht von dieser Handlungsweise. Warum tut dieses Wesen so etwas? Anscheinend verfolgt sie irgendein Ziel, was ihm unbekannt ist. Da er nicht weiß, wie er seinen Weg fortsetzen soll, holt er sich den modrigen Stuhl und trägt ihn vor das helle Licht. Langsam lässt er sich darauf nieder. Seine Augen signalisieren die Gleichgültigkeit, die er empfindet. Für ihn spielt Zeit keine Rolle mehr. Ob er nun einige Minuten oder Tage vor der Gestalt ausharren muss, ist für ihn nicht von Bedeutung.
Er lauscht dem beruhigenden Plätschern des Regens, der auf ihn nieder fällt. Die Faszination für das Lichtwesen scheint langsam zu schwinden. Es ist weder die Rettung noch die verlorengeglaubte Hoffnung. Es ist eher ein Hindernis auf der trostlosen Straße seiner Existenz.
Plötzlich wird ein kaum wahrnehmbares, elektrisierendes Summen hörbar. Es scheint sich stetig zu steigern. Als es nicht mehr lauter zu werden scheint, versucht er, es einzuordnen. Es hört sich an wie eine Ladung Starkstrom, die durch eine poröse Leitung fließt.
Überfallartig entsteht ein lauter Knall und ein vielfach helleres Licht, was ebenfalls von der Gestalt ausgeht. Von diesem Ereignis aus den Gedanken gerissen, den linken Arm schützend vor die Augen haltend, bleibt er weiterhin regungslos auf dem Stuhl sitzen.
Als er merkt, wie das Licht schwächer wird, nimmt er den Arm herunter und erblickt ein wunderschönes Mädchen. Erstaunt über ihre Schönheit, glaubt er, sie schon einmal gesehen zu haben. Er ist sich sicher, sie zu kennen, aber er weiß nicht woher und warum.
Das Mädchen steht aufrecht vor ihm, ohne nur einen Ton von sich zu geben. Die einzige Regung, die sie zeigt, ist ein verspieltes Lächeln und ein bezauberndes Leuchten in ihren Augen.
Ihm fehlt immer noch jede Erinnerung an sie. Warum erinnert er sich nicht? Ist es mit etwas verbunden, was er verdrängt hat? Er hat absolut keine Ahnung.
Da er nicht weiter weiß, entscheidet er sich, mit dem Mädchen zu reden. Er fragt, was sie von ihm will. Seine Stimme klingt rau, fest und bestimmend. Als Antwort erhält er nur einen herzlichen Blick von den funkelnden, braunen Augen des Mädchens. Ihre Kleidung besteht aus einer weißen Hose und einem weißen Pullover. Es lässt sich nicht sagen, woher sie kommt. Es gibt keine besonderen Merkmale auf der Kleidung, die eventuell darauf hinweisen könnten.
Komischerweise scheint sie auch nicht nass zu werden. Die dunkelblonden Haare sind trocken, genau wie ihr zartes Gesicht. Alles merkwürdige Tatsachen, die er sich nicht erklären kann. Er hat das Gefühl, einen Engel vor sich zu haben. Es stellt sich nur die Frage, welche Aufgabe dieser Engel hat und warum er gerade auf dieser einsamen Straße steht, die praktisch ins Nichts führt.
Hat er nicht schon genug durchgemacht? Was hat er getan, um selbst jetzt noch mit Unwissenheit gestraft zu werden? Er versteht es nicht. Eine Welt, die in Trümmern liegt und dann dieser wunderschöne Engel. Das passt einfach nicht zusammen. Er steht kurz auf, dreht den Stuhl um und setzt sich breitbeinig darauf. Seine Arme legt er auf die Rückenlehne. Der Regen scheint nicht mehr aufhören zu wollen. Sein Gesicht ist durchnässt, seine Gesichtszüge hart. Es ist lange her, dass er sie brauchte. Kein Grinsen, keine Stirnfalte, nicht ein mal ein Augenzucken. Er braucht diese Dinge nicht mehr. Äußerlich kalt und hart wie ein Stein, aber tief in seinem Inneren ist er immer noch ein Mensch. Dieser innere Teil seines Wesens könnte der Schlüssel sein. Der Schlüssel, zu den Antworten seiner Fragen.
Doch er verabscheut diese menschliche Seite an sich. Sie hat ihm so viel Schmerz zugefügt und ihn gepeinigt. Nein, der Preis ist zu groß, selbst wenn es die Lösung sein sollte. Vielleicht besteht die Aufgabe des Engels darin, ihn wieder zu einem vollen Menschen zu machen. Er denkt eine Weile darüber nach. Als er längere Zeit darüber gegrübelt hat, kommt er zu dem Schluss, dass er die Absicht des Mädchens nie begreifen wird. Das Gewirr an Fragen in seinem Kopf, der wunderschöne Engel, die dunkle Straße, es ergibt für ihn einfach keinen Sinn.
Er sieht das Mädchen weiterhin mit seinen ausdruckslosen Augen, wie hypnotisiert, an. Ohne jeglichen Grund reicht sie ihm plötzlich die Hand. Er zögert einen Moment und ergreift dann vorsichtig die geschmeidige Hand des Engels. Sie ist warm und weich, das genaue Gegenteil von seiner Hand, welche kalt, rau und vom Regen durchnässt ist.
Er spürt, wie die Wärme ihres Körpers auf seinen übertragen wird. Er fühlt sich, als wäre er von den Toten auferstanden. Seine Erinnerung kehrt zurück, seine Verwirrung löst sich auf und die Antworten auf seine Fragen scheinen so offensichtlich. Die Wärme strömt weiter durch seinen leeren Körper, bis sie schließlich zu seinem Herzen gelangt. Es ist schmerzhaft für ihn seit einer Ewigkeit wieder das Gefühl von Leben in seinem Herzen zu spüren.
Nachdem der Prozess abgeschlossen ist, bemerkt er, dass er auch weiße und vor allem trockene Kleidung trägt. Seine Augen tauen auf, der matte Glanz löst sich und weicht einem leuchtenden Strahlen. Er schaut zum Himmel hinauf und meint, einen trüben aber klar erkennbaren Sonnenschein sehen zu können.
Sein Blick fällt zurück auf das Mädchen. Sie löst den Händedruck und umarmt ihn. Er hat das Gefühl, zu schweben. Er steht von dem Stuhl auf und erwidert die Umarmung. Warum er dies tut, weiß er nicht, er weiß nur, dass es gut ist.
Er schließt seine Augen, dem Rhythmus ihres Herzens lauschend. Es ist immer noch kein Wort zwischen ihnen gefallen. Keiner von beiden ist auf die verbale Kommunikation angewiesen. Durch ihr Verhalten und ihre Gefühle zueinander drücken sie alles aus, was sie wollen. Es ist klarer, inniger und liebevoller als es irgendeine Sprache je sein wird.
Mittlerweile ist die Erinnerung an dieses Engelsgeschöpf zurück gekehrt. Die Erinnerung stammt aus einer Zeit, die er jetzt als grausam empfindet. Es war für ihn ein Kapitel der Liebe. Die Liebe zu einem Mädchen, das genauso schön war, wie das, was vor ihm steht. Doch das liegt weit hinter ihm. Es ist ein Stück seiner Vergangenheit geworden.
Was jetzt zählt, ist die Gegenwart. Sie sind beide in weißes Licht gehüllt und schweben hoch hinauf zu den bedrohlich, grauen Wolken. Er empfindet weder Kälte noch Wärme, nur ein wohliges Gefühl. Als sie die dunkle Wolkenschicht unter sich zurück lassen, strahlt über ihnen die Sonne und der Himmel leuchtet in einem satten Blau. So wie sie dort oben schweben, löst er seine linke Hand, streicht sanft die goldenen Haare des Mädchens zurück, die über ihrem Ohr liegen und flüstert leise in ihr nun unbedecktes Ohr: “Es ist wahr, du bist es, deren Namen Freiheit symbolisiert...“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.07.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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