Kristian Koch

Zugfahrt

Es war ein kalter morgen.
Mein Atem bildete kleine weiße Wölkchen als ich aus dem Zugfenster blickte.
Blass erhellte sich der Himmel im Osten und in den Tälern lagen weiße Nebelschwaden wie ein Leichentuch.
Schwarze Tannen säumten die Bahnstrecke.
Schwarz, traurig, blickten sie auf uns hinab und knarrten mitleidig.
Ich blickte durch das Stacheldrahtvergitterte Fenster und dachte nach.
Wir waren schon lange unterwegs. Gestern früh waren wir losgefahren.
Ja, in der Nacht zuvor hatte es an meiner Tür geklopft.
Als ich nicht öffnete wurde sie eingetreten.
Männer in Uniformen stürmten in meine Wohnung. Sie schlugen mich und sie nahmen mich mit.
Dann steckten sie mich in diesen Zug.
Natürlich war ich nicht allein hier.
Dicht zusammengedrängt standen die Menschen in diesem Waggon.
Männer, Frauen, Alte und Kinder. Sogar Mütter mit ihren Säuglingen waren hier.
Es stank nach Urin und Erbrochenem. Niemand durfte den Zug verlassen.
Einige waren auf der Fahrt umgefallen. Einfach so. Tot.
Langsam erhob sich im Osten der rote Sonnenball über die Hügel.
Ein Mädchen stand neben mir. Ich sah das ihre Lipen schon ganz blau waren von der Kälte.
Sie schaute mich mit große braunen Kinderaugen an.
Ich zog meine Jacke aus und legte sie dem kind um die Schultern.
“Wie lang brauchen wir noch?“ fragte ihr dünnes Stimmchen.
“Wir sind bestimmt bald da.“ antwortete ich. Ich hoffte das ich log.
Ich hoffte der Zug würde niemals anhalten.
Niemand den sie geholt hatten war jemal zurückgekommen. Niemand wußte etwas.
Es gab nur Gerüchte. Schlimme Gerüchte.
Ich hoffte der Zug würde ewig Weiterfahren.
Er fuhr aber nicht ewig weiter.
Als die Sonne schon hoch am Himmel stand wurde der Zug langsamer.
Ängstlich starrten wir einander an.
Was kam da auf uns zu?
Der Zug hielt an einem Bahnsteig an.
Schon öffneten sich die großen Türen unseres Wagens.
“Los! Alles aussteigen! Los! Los!“
Rauhe, kalte, herzlose, laute Männerstimmen erschallten von draußen.
Wer nicht schnell genug auf den Bahnsteig trat, den schlugen sie mit ihren Holzknüppeln.
Als wir alle auf dem Bahnsteig standen kam eine Gruppe Menschen.
Menschen, kaum noch so zu nennen.
Sie waren blaß, totenblaß und so dürr.
Sie sahen uns mit ihren eingefallenen, toten Gesichtern mitleidig an.
Sie Mußten die Toten aus unserem Zug, und das waren nicht wenige, herausbringen und sie auf dem Bahnsteig zu einem Haufen aufschichten.
Einer von ihnen begann leise ein jüdisches Totenlied zu singen.
Er wurde gleich auf dem Bahnsteig, neben den Toten aus unserem Zug erschossen.
Kinder weinten und Mütter versuchten verzweifelt ihnen die Augen zu zu halten.
Noch auf dem Bahnsteig wurden wir in zwei Gruppen eingeteilt. Die die arbeiten konnten und die anderen, schwachen, kranken, alten.
In einer langen verzweifelten Kolonne maschierten wir durch ein Tor.
“ARBEIT MACHT FREI!“ stand in eisernen Lättern darüber.
Nun wenn ich gedacht hatte die “Anreise“ wäre schlimm gewesen täuschte ich mich.
Sie war nichts im Vergleich zu dem was mir noch bevorstand.
Ich habe überlebt. Im Gegensatz zu sechs millionen anderen Menschen, die hier in Auschwitz und in anderen Lagern einen grausamen Tod fanden.
Ich hatte die Geschehnisse von damals schon fast verdrängt, als mich gestern eine Frau besuchte.
Sie sah mich aus großen braunen Augen an und kramte dann aus ihrer Tasche eine alte zerschlissene Jacke.
Meine alte Jacke.
Wir umarmten einander und weinten.














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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.07.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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