Winter
1
Langsam rollte der Zug an, immer schneller rückten die Bilder des letzten vertrauten Ortes in die Ferne, wurden undeutlicher und dann schon zu leisen Ahnungen, während mit jeder Sekunde neue Details am vorderen Rand des Fensters aufblitzten, kaum alle wahrnehmbar sich schon wieder einreihten in die zurückweichende Landschaft, dann in die Erinnerung.
Kinderschuhe stapften fröhlich durch die gefrorenen Tränen eines vergessenen Gottes, ihre unbekümmerten Träger formten unentwegt schlechte Abbilder ihrer selbst aus der glitzernden Kälte.
2
Jene, die jetzt aus den Fenstern blickten, sich die Zeit der Reise zu vertreiben, wunderten sich vielleicht, wie blass die Blätter der Bäume jetzt waren, im Winter. Herr Herbert hingegen nahm die Welt außerhalb des gemütlich geheizten Zuges nur sehr gleichmütig wahr, konzentrierte sich wieder auf seine Skizze, die Arbeit fiel ihm immer schwerer, der Bleistift schien sich ihm zu widersetzen, kratzte am Papier, beinahe verzweifelt drückte Herr Herbert ihn immer härter in dieses leere Weiß, das in seinen Augen fast schmerzte und langsam formten sich aus den wirren, feinen Linien auf dem weißen Paper die Konturen einer jungen Frau, ihr Haar hing ihr in nassen Strähnen ins Gesicht, es regnete, ihre Züge waren viel zu zart, zu schön, als dass sie in dieser Welt existieren konnte ohne zu zerbrechen und erfrieren, und da erkannte Herr Herbert ihr Gesicht: Sie war Anna, jene Frau, die er seit Jahren immer wieder malte, alleine aus seiner Phantasie, die einzige Liebe seiner alten Jahre, seit seine Frau ihn verlassen und ihm damit die Seele aus dem Leib gerissen hatte, die Bilder von ihr wurden zu seinen Besten gezählt, und tatsächlich war sie das einzige Motiv, das ihn noch bewegte. Seine verkrampften Finger lösten sich vom Bleistift, er lehnte sich erleichtert zurück in seinem Sitz, sein Blick wanderte aus dem Fenster.
Herr Herbert spielte in Gedanken wieder und wieder die morgige Treffen mit dem Galeristen durch, wartete nur, dass diese farblose Landschaft, eingehüllt vom Weiß des Winters – es war kaum auszumachen, wo die Weite des verschneiten Landes in den trüben Himmel überging – wieder der Stadt wich, endlich würde er in Trügberg ausstellen, im Beisein der Zeitungen, würde jene zum Schweigen bringen, die ihn nur noch an den Preisen seiner Bilder maßen, er würde sein Werk im Triumph vollenden … nein, die Zeitungen waren ihm gleichgültig, aber er musste dort ausstellen, den Menschen, wieder eine Lüge: sich selbst zu beweisen, dass er nicht alt wurde, dass dieser junge, lebendige Künstler immer noch in diesem schon im Verfall begriffenen, fetten Leib wohnte – Herbert betrachtete Annas Bild, wagte es sogar, mit seinen Finger über ihre zarten Züge zu streicheln, zaghaft formten seine Lippen ein Lächeln, alles würde sich fügen …
3
Der Zug rollte langsam durch einen winzigen Bahnhof, war fast schon wieder an ihm vorbei, als ein junger Mann den schmalen Fußweg heraufhetzte, (auf dem Schnee fast das Gleichgewicht verlor und sich mit den Armen rudernd gerade noch vor einem Fall retten konnte,) Herr Herbert wünschte sich, der Zug wäre weitergefahren, noch bevor der elegant gekleidete Junge einstieg und, noch außer Atem, unter den missbilligenden Blicken des Herrn Herbert eben jenem gegenüber Platz nahm.
„Herrliches Wetter heute, meinen Sie nicht auch, mein Herr?“ – „Wenn man Wetter mag.“ Etwas gekränkt schwieg der Fremde, Herr Herbert vermied es, den Jungen anzusehen, er wollte nicht riskieren, sich eingehender mit ihm unterhalten zu müssen, vertiefte sich wieder in seine Skizzen, aber etwas irritierte Herrn Herbert, er konnte sich nicht mehr auf seine Arbeit konzentrieren, als hätte diese kleine Störung die ganze Welt ein klein wenig aus dem Gleichgewicht gestoßen, sie brachte ihn aus der Fassung und machte ihn unruhig, zornig fast, warf seine Planung über den Haufen, und als eine dicke Frau einen kleinen Speisewagen mit einem dampfenden, verbeulten Suppentopf durch den Waggon schob, griff sein Gegenüber diese sofort als Vorwand auf, wieder ein Gespräch anzuknüpfen:
„Da kommt der Esswagen – nehmen Sie auch vom Einheitsbrei?“ Mürrisch brummte Herr Herbert sein Gegenüber an: „Zweifelsfrei: diese vorgekauten Halbwahrheiten liegen nicht so schwer im Magen.“ Schweigend aßen sie beide ihre Teller leer, denn richtete Herr Herbert seinen Mantel als Kissen her – an ein Zeichnen war ohnehin nicht mehr zu denken – und machte es sich darauf bequem.
„Wie können Sie jetzt nur schlafen?“ Unruhig sprang Herr Herbert auf: „Habe ich denn eine Wahl?“, entsetzt fast, ließ sich zurück auf die Bank fallen. Etwas betreten schwieg der Fremde einige Zeit, nur um sich gerade dann wieder zu Wort zu melden, als Herr Herbert schon von den süßen Schwingen des Schlafes umfangen wurde: „Nun sieh’ dir doch unseren Erzähler an – der ist ja völlig übermüdet.“ Nur widerwillig blinzelte der andere, stieß dem Fremden in Gedanken einen Dolch ins Herz, kämpfte sich schließlich hoch, um – „Oh, und jetzt ist er eingenickt.“ – „Tatsächlich.“ – „Dann können wir jetzt endlich tun und lassen, was uns einfällt!“ – „Leise! Wer weiß, was dem einfällt, sollten wir ihn wecken.“ – „So weit wollen wir es nicht kommen lassen, so, ganz behutsam decken wir ihn zu, singen ihm ein kleines Schlaflied …“
Zwischenspiel
„Es tut mir leid, Herr Herbert, aber diese Bilder sind leblos, schale Kopien verbrauchter Ideen, nur noch die Bilder dieser Frau bezeugen deine Kraft, das Leben auf die Leinwand zu zwingen, aber es reicht nicht für eine Ausstellung im Kunsthaus, die Kritik würde dich zerreißen.“ Mechanisch schüttelte Herr Herbert die Hand seines Gegenübers, taumelte benommen zur Tür, in der einen Hand noch die schwere Mappe mit den Skizzen, nutzlos jetzt, da sie ihm keinen Halt mehr bieten konnte, in der Gewissheit seiner Niederlage schien sich jeder Schritt ins Unendliche zu dehnen, schon war ihm, als liefe er auf der Stelle, in seiner Scham ertrug Herr Herbert diesen plötzlich viel zu engen, niedrigen Raum nicht länger, doch die rettende Tür wich vor ihm zurück, plötzlich am Ende eines langen Tunnels, dann erreichte er sie doch, keuchend, streckte seine fiebrig zitternde Hand nach der Klinke aus, sank schwerfällig zu Boden, die Welt um ihn drehte sich, dann Dunkelheit, dann nichts mehr.
Sommer
4
Als ein durchdringender Ton die Fahrgäste Morpheus Armen wieder entriss war es bereits später Morgen und die warme Sommersonne – das lebendige Grün der Wälder begann schon zu verdorren unter der schweren Glut – schien ins Abteil, sodass sich alle wunderten, nicht von selbst erwacht zu sein. Um Kosten einzusparen geht die Dame mit dem Frühstückswagen bereits vor dem Weckruf durch die Abteile, Kaffee von gestern anzubieten, und so blieb Herr Herbert – „Was für ein Glück, nur ein böser Traum.“ lachte er befreit, sein Herz raste noch und kalter Schweiß stand auf seiner Stirn und zugleich fühlte er sich doch unendlich erleichtert – alleine mit seinem leeren Kopf und seiner steigenden Verwirrung, immer noch im Zug zu sitzen, der aufdringliche Fremde von gestern war verschwunden, ohne einen Beweis seiner Existenz zurückzulassen als die Erinnerung an ihn und so blieb niemand, den er hätte fragen können nach dieser seltsamen Verspätung.
Verschlafen rieb Herr Herbert seine Augen, schlug schlechtgelaunt nach seinem Wecker, der nicht geschellt hatte, sodass er später nicht mehr wusste, ob der Wecker erst durch seine unsachgemäße Behandlung oder von selbst kaputt gegangen war, schluckte seinen Ärger über die verlorene Zeit hinunter und nahm seine Skizzen zu Hand, fest entschlossen, sich nicht weiter – nicht einmal von seinem leeren Magen – stören zu lassen, und unter den warmen Sonnenstrahlen, die durchs schmierige Fenster ins Abteil fielen, vergaß Herr Herbert schnell seinen Ärger und kam mit der Arbeit zügig voran, zum ersten Mal seit langer Zeit, ergeben fügte der Bleistift sich seinem Willen, glitt widerstandslos über das Papier, ließ sich willig führen von seiner Hand, und Herr Herbert malte so leicht und gedankenlos wie schon Jahre nicht mehr.
5
Ohne dass jemand ein Halten des Zuges bemerkt hätte, war ein dicker Junge, vielleicht sechzehn, zugestiegen, auf dem runden Kopf die Schirmmütze einer dilettantischen Rockband, Herr Herbert trat an ihn heran, grüßte ihn freundlich. „Hat diese Linie denn oft Verspätungen?“ Verständnislos glotzte der Junge ihn an, nahm dann die Kopfhörer ab, aus denen Gitarren und Schlagzeug dröhnten. Ungeduldig wiederholte Herr Herbert seine Frage, worauf sein Gegenüber ihm nur frech entgegengrinste: „Verspätung? Nee, nicht dass ich wüsste.“ – „Aber dieser Zug sollte doch schon heute morgen Trügberg erreichen!“, erwiderte Herr Herbert mit flehender Stimme, packte ihn verzweifelt an der Schulter. „Hey, lassen Sie mich los, sie alter Irrer!“, entwand sich den Händen des verstörten Herrn Herbert, sprang von der Bank auf und schob seinen massigen Leib den leeren Gang hinunter.
„Verschwinden Sie!“ rief Herr Herbert dem Fremden zornig hinterher, aber als er mit seinem Bleistift einen Gegenstand gefunden hatte, den er nach dem Lümmel werfen konnte, hatte sich die Tür des Abteils hinter ihm bereits wieder geschlossen.
6
Als der Zug im nächsten Bahnhof einfuhr, stürzte Herr Herbert fluchtartig aus dem Abteil, für eine Sekunde lang schien ihm die Station, das kleine Wartehäuschen durch die flimmernde Hitze seltsam vertraut, mit einer kurzen Handbewegung verscheuchte er diesen Gedanken, hastete weiter, riss die Tür zur schmutzigen Telefonzelle gleich nebenan auf, nahm keuchend den Hörer ab, seine Finger fanden die richtige Nummer von selbst, nach einigen bangen Sekunden meldete sich seine Agentin, völlig außer Atem, die trockene, zähflüssige Luft quälte sich nur langsam in seine Lungen hinab, in seiner Brust fühlte er ein anschwellendes Stechen, versuchte er ihr die Verspätung zu erklären, sie solle in der Galerie anrufen, ihn entschuldigen, „Aber Herr Herbert, Sie haben doch schon …“ entgegnete sie verwirrt, für einen kurzen Moment wurde er von der Schwärze überwältigt, als er wieder zu sich kam, ertönte nur noch das Freizeichen aus dem Lautsprecher.
Verwirrt ließ Herr Herbert den Hörer fallen, starrte ihn einige Sekunden lang gedankenverloren an, wie er am Kabel hin- und herbaumelte, wandte sich um, taumelte wie ein Schlafwandelnder zurück in sein Abteil, in dem immer noch sein Koffer stand.
7
Der Schweiß lief seine Stirn hinab, als diese junge Frau im kurzen geblümten Sommerkleid, das eng um ihre schmalen Hüften lag, neben ihm Platz nahm, ihr dunkles Haar zurückstrich, ihr frisches Parfum ließ seinen Atem stocken, und weil er vor ihr nicht schweigen konnte, brach er mit dem Dümmsten hervor, das ihm einfiel, er wäre Maler, auf der Reise zu einer Ausstellung in Trügberg, in seiner Ledermappe wären – aber sie hatte die Ledertasche schon auf ihre weichen, bruchstückhaft entblößten Schenkel gelegt, dieser Zug fahre ohnehin nicht nach Trügberg, entgegnete sie und öffnete – ohne seine Proteste zu beachten – mit einer entschlossen endgültigen Bewegung die Tasche und begann, seine Skizzen durchzublättern, da erkannte Herr Herbert Anna in ihr, und plötzlich schämte er sich seiner Bilder, jedes Leben schien gewichen aus ihnen, er glaubte schon, den süßen, fauligen Gestank der Verwesung an ihnen zu riechen, es waren nur noch die zittrigen, plumpen Linien eines Kindes unsicher verwoben zu unhaltbaren Motiven, verzweifelt sprang Herr Herbert hoch, sie dürfe diese Bilder nicht sehen, niemand dürfe sie sehen, Herr Herbert riss ihr den Koffer aus den Händen, warf ihn zum Fenster hinaus, [hastig sammelte er die Blätter auf, die zu Boden gefallen waren, schleuderte sie hinterher,] schluchzte verzweifelt –
Verstört starrte er Anna einige Sekunden lang an, jene Frau die er seit Jahren malte und doch niemals nur berühren konnte, auf die er geduldig gewartet hatte all die Jahre ohne ernste Hoffnung, nur wenn er sie zeichnete, lebte er noch auf, die Bilder mit ihrem Gesicht zu betrachten war zu seiner letzten Freude geworden, schon wollte er sie an sich ziehen, sie umarmen und küssen, ihre Hände und ihren Hals und ihre Lippen, aber der dürre, grauhaarige Schaffner, der etwas unsicher und verloren jetzt schon einige Male an Herrn Herberts Schulter tippte um die Fahrkarten zu kontrollieren, zwang ihn zart aber beharrlich zurück in die Realität, kraftlos zerrte er die Brieftasche aus dem Mantel, einen Moment widersetzte sie sich noch seinen ungeschickten Bemühungen, fiel ihm dann fast aus seiner zitternden Hand, selbst seine Fahrkarte – sie galt für die Rückfahrt – hatte sich gegen ihn gewandt, schwarz auf weiß bestätigte sie sein Scheitern. Als Herr Herbert wieder aufsah, war die schöne Frau verschwunden, hatte sich als Schwarzfahrerin wohl rechtzeitig aus dem Staub gemacht, aber der Schaffner schien sie kaum wahrgenommen zu haben, sah vielmehr Herrn Herbert geringschätzig an, schüttelte seinen Kopf, als wäre dieser verrückt, als gäbe es keinen Grund, diese Skizzen aus dem Zug zu werfen, Herr Herbert aber fühlte sich plötzlich viel zu alleine, ihn noch zur Rede zu stellen.
8
Widerstandslos ließ Herr Herbert sich vom Schaffner zurück auf die schäbige Bank drücken, er schien um Jahrzehnte gealtert, jede Bewegung war ihm unmöglich geworden, würde ihm – so ahnte er – ein Jahr seines Lebens kosten. Eigentlich mochte er es nicht, in Fahrtrichtung zu sitzen, aber unter diesen Umständen war es aussichtslos, sich in eine angenehmere Lage bringen zu wollen, und als sich aus der Landschaft vor ihm langsam, erst nur als Ahnung, vertraute Züge herauslösten und immer mehr der Fremde in der Fensterkante verschwand, erfüllte ihn ein Gefühl tiefer Ruhe.
Mit seinem Scheitern war ihm dieses Leben unmöglich geworden, die letzten Jahre bedeutungslos, Herr Herbert fühlte sich unendlich einsam und wusste gleichzeitig, er könnte nie wieder einen Pinsel in die Hand nehmen, der Künstler in ihm war vor Jahrzehnten gestorben oder hatte nur in Anna weitergelebt. Noch wagte er es kaum, sich dem Gedanken hinzugeben: Diese Niederlage als Gelegenheit zu sehen, sich eine neue Existenz zu schaffen, bevor es zu spät war, sich mit seiner Frau zu versöhnen die gegangen war, weil er seine Leidenschaft für sie nur in der Malerei ausdrücken konnte. Als der Zug im Bahnsteig einfuhr konnte er schon die Menschen erkennen, die ihm zuwinkten, Herr Herbert rieb sich die Augen, schon waren diese Personen wieder verschwunden, erleichtert atmete er noch einmal durch und stieg dann aus.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.07.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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