Peter Speil

Der Mord an Dagmar Kleinbusch

Vorwort

Diese Geschichte schildert, wie verdrängte Erlebnisse später wieder hochkommen können und sich gespeicherter Hass an Menschen entlädt, die mit den früheren Vorfällen überhaupt nichts zu tun haben. Oft genügt schon ein Wort, eine kleine unbedachte Geste, um die jahrelang aufgestaute Wut eines anderen Menschen zu entladen. Die Geschichte beschreibt den bestialischen Mord an einer Schülerin. Bis heute blieb der Mörder unentdeckt. Seinerzeit verliefen alle Spuren im Sande. Je länger eine Straftat zurückliegt, umso schwieriger ist sie aufzuklären. Welcher Zeuge erinnert sich nach 16 Jahren noch an scheinbar unbedeutende Kleinigkeiten. Die einzige Möglichkeit, den Täter zur Rechenschaft zu ziehen ist, dass er sich selber verrät oder eine neue Straftat begeht, die ihm nachgewiesen werden kann. Oder gibt es gar die Möglichkeit, dass der Mörder sich durch seinen Mord selber bestraft hat?

Der Mord an Dagmar Kleinbusch

Heinz Gothe* wurde am 1.7.1969 in einem kleinen Dorf in der Nähe von Rosenheim geboren. Er war ein ganz normaler Junge, bis zu dem Zeitpunkt, als für ihn der Ernst des Lebens begann. Das war im Alter von fast sechs Jahren, als er eingeschult wurde. Zu diesem Zeitpunkt konnte noch Niemand ahnen, dass ein roter Fleck auf der Unterseite seines linken Unterarms seinen Lebensweg vorzeichnen würde. Heinz hatte einen hartnäckigen Hautausschlag. Dieser äußerte sich nur an dieser einen Stelle. Aber er war nicht zu heilen. Der rote Fleck bedeckte fast die gesamte Fläche seines linken Unterarms. Während er im Winter nur rot war, wurde es im Sommer schlimmer. Wenn es heiß wurde, bildeten sich eitrige Blasen. Immer wieder brachen einige auf. Dann lief Eiter heraus. Die anderen Kinder nannten ihn Monster oder Bestie. Aber auch die Erwachsenen sparten nicht mit dummen Bemerkungen. Manche fragten ihn sogar, ob er Pestbeulen hat. Die ganze Tragweite der Erniedrigungen erkannte er erst im Lauf der Jahre. Bestimmtes Aussehen oder Verhalten schien tierische Instinkte bei den Menschen zu wecken. Dessen war er sich bald ganz sicher. Heinz wurde immer mehr zum Einzelgänger. Es ließ sich aber nicht vermeiden, dass er mit Menschen in Kontakt kam. Im Alter von fünfzehn Jahren verließ er die Schule. Er lernte Fernsehtechniker. Bereits zu diesen Zeitpunkt dachte er immer öfter darüber nach, dass er, wenn er erst bei der Bundeswehr dient, Zugang zu gefährlichen Waffen bekommt. Waffen, mit denen er den ganzen Ort, in dem er geboren wurde, vernichten kann. Doch dazu sollte es nicht kommen. Im Sommer 1986 traf er im Supermarkt Dagmar Kleinbusch*. Sie war auf dem frisch gewischten Boden ausgerutscht und hingefallen. Heinz half ihr aufzustehen. Er war sehr zuvorkommend, sprach aber fast nichts. Dagmar verbrachte ihre Ferien im Ort und ahnte nichts von seinen Problemen. Gerade wenn es um Frauen ging, war Heinz sehr verunsichert. Einerseits wünschte er sich nichts sehnlicher als eine Freundin, andererseits dachte er immer: „Das wird ja doch nichts! Wenn sie erst mal meine >Pestbeulen< sieht, dann ist eh alles aus.“
So verabschiedete er sich höflich, ohne ein weiteres Treffen mit ihr abzumachen.
Vier Tage später ging er um halb Zehn Uhr Abends zu einem Waldstück in der Nähe des Dorfes. Er wollte sich den Sonnenuntergang ansehen. Als er zehn Minuten gegangen war, sah er, dass ihm ein Mädchen auf seinem Weg entgegenkam. Nachdem er erkannte, dass es das Mädchen aus dem Supermarkt war, wollte er schon in den Wald gehen, um einen Kontakt mit ihr zu vermeiden, besann sich dann doch eines anderen. Auch das Mädchen erkannte ihn und grüßte ihn freundlich. Schon bei ihrem ersten zusammentreffen mit Heinz hatte sie gemerkt, dass er nicht sehr gesprächig ist. Ihr gefiel es aber, dass er so zuvorkommend war. Sie sprach ihn an. Nach einem kurzen Gespräch sagte ihr Heinz, dass er sich am Waldrand den Sonnenuntergang ansehen will. Sie schlug vor, ihn zu begleiten. Unsicherheit überkam ihn. Trotzdem war die Versuchung größer, mit einem Mädchen zusammen zu sein. Gemeinsam verließen sie den Weg und gingen ca. zweihundert Meter am Waldrand entlang. Obwohl sich das Mädchen ganz natürlich und ungezwungen gab, wurde Heinz zunehmend verunsicherter. „Was soll ich ihr sagen, wenn sie mich nach dem Verband an meinem Arm fragt?“ dachte er.
Sicher wäre es zwecklos gewesen, sie zu belügen. Früher oder später hätte sie es doch erfahren, was sich unter ihm befand. Sie redeten eine halbe Stunde miteinander. Als die Sonne schon fast untergegangen war, stellte sie die verhängnisvolle Frage: „Hast du dich verletzt? Was ist mit deinem Arm passiert?“
Heinz fühlte, wie es ihm fast die Kehle zuschnürte. Mit viel Überwindung antwortete er: „Die Leute nennen es >Pestbeulen<.“
Fast im selben Moment wurde ihm klar, dass er es nicht so übertrieben hätte ausdrücken sollen. Doch es war schon zu spät: Dagmar wich erschrocken zur Seite. Sie fürchtete eine Ansteckung, mit was auch immer. Plötzlich stiegen all die erlittenen Gemeinheiten, die er durch seine Mitmenschen hatte erdulden müssen, in ihm auf. Er sah das Mädchen aus der 6. Klasse vor sich, das zu ihm gesagt hatte: „Dich sollte man in Quarantäne stecken, damit du niemanden anstecken kannst!“
Auch den alten Mann, der ihm unterstellt hatte, es seien Pestbeulen, die er da am Unterarm hat, sah er nun wieder kurz vor sich. Dann sah er seine Mitschüler wieder vor sich, die ihn in der 1. Klasse Monster genannt hatten. Keiner wollte neben ihm am Tisch sitzen. So saß er all die Jahre seiner Schulzeit alleine an einem Tisch. Nach der Schule ging die Tyrannei erst richtig los. Obwohl er weit hinter ihnen ging, verprügelten sie ihn oft, wenn sie der Meinung wahren, dass er keinen ausreichenden Abstand zu ihnen einhält. Sie fassten ihn aber nicht mit ihren Händen an, sondern verprügelten ihn immer mit langen Stöcken, um sich nicht anzustecken. Er nahm an, dass die Anderen dies auch aus Wut darüber taten, weil sie in der Schule gezwungen waren, in seiner Nähe zu sein.
Ohne dass es ihm selber bewusst geworden wäre, verfinsterte sich seine Mine schlagartig. Als Dagmar erkannte, dass Wut in ihm aufstieg, rutschte sie noch ein Stück zur Seite und sagte: „Komm mir nicht zu nahe und fass mich ja nicht an!“
Heinz hatte gar nicht daran gedacht, sie anzufassen. Dass sie plötzlich gegen ihn eingenommen war, verärgerte ihn noch mehr. Im selben Moment sah er einen seinen früheren Mitschüler vor sich. Er hatte einen langen Stock in der Hand und drohte, auf ihn einzuschlagen. Da griff Heinz nach einem Stein, ungefähr zweimal so groß wie seine Faust, welcher am Waldrand am Boden lag. Als das Mädchen das sah, rief sie entsetzt: „Nein!“ und wollte aufspringen. Aber Heinz war schneller. Noch immer sah er den Angreifer vor sich. Diesmal würde er schneller sein als er. Er schlug dem Mädchen den Stein an den Kopf, direkt über dem rechten Ohr. Sie war nur halb aufgestanden, als der Stein sie traf. Sie schrie laut auf, taumelte und fiel zu Boden. Heinz hörte nun die Rufe seiner ehemaligen Klassenkameraden: „Wir kriegen dich. Du entkommst uns nicht! Wir verprügeln dich jeden Tag, wenn es sein muss!“
Da holte Heinz erneut aus, um sich seiner Peiniger zu erwehren. Dagmar hielt schützend ihre Hände vors Gesicht, aber Heinz drückte sie zur Seite und schlug ihr den Stein ein zweites mal auf den Kopf. Nun blieb Dagmar ohnmächtig liegen. Da sah Heinz das Gesicht des alten Mannes wieder vor sich, welcher gesagt hatte, er hätte Pestbeulen. Da hob Heinz erneut den Stein, um es ihm heimzuzahlen. Wieder schlug er mit großer Kraft den Stein auf den Kopf von Dagmar. Nun trat Blut aus. Ihr Schädel war gebrochen. Immer mehr seiner Peiniger sah er nun vor sich. Er beschloss, es allen heimzuzahlen. Immer wieder schlug er auf das schwer verletzte Mädchen ein. Erst nach zehn Minuten, welche ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, hielt er inne – der Spuk war vorbei. Entsetzt begriff er, was er angerichtet hatte. Das Gesicht des Mädchens war blutüberströmt und nicht mehr wieder zu erkennen. Seine Hände waren blutverschmiert. Panik überkam ihn. Sein einziger Gedanke war: „Nichts wie weg von hier, bevor mich Jemand sieht.“
Er ging in den Wald hinein. Obwohl er zu keiner vernünftigen Überlegung mehr fähig war, nahm er doch instinktiv den blutigen Stein mit. Nach einigen Minuten kam er an eine Quelle. Das Wasser sprudelte aus dem Boden und bildete einen kleinen Tümpel von ungefähr sechzig Zentimetern Durchmesser. Fieberhaft wusch er seine Hände und sogar sein Gesicht. Immer wieder und wieder wusch er sich erneut. Sogar den Stein wusch er immer wieder ab, so als ob er damit die grauenhafte Tat ungeschehen machen könnte. Langsam wurde es dunkel. Bevor er ging warf er den Stein in das ca. vierzig Zentimeter tiefe Wasser. Auf dem Heimweg überlegte er, ob nicht auch seine Kleidung Blutflecken aufweisen könne. Nun war es zu dunkel, um das festzustellen. Zuhause angekommen, schlich er sich gleich auf sein Zimmer und wechselte seine Kleidung. Er untersuchte die getragenen Stücke auf Blutflecken. Zu sehen war nichts, aber er wusste nur zu gut, dass man selbst kleinste Spuren nachweisen kann. Noch in der selben Nacht, als seine Eltern bereits lange schliefen, verbrannte er die getragene Kleidung im Küchenofen. Als er sich in sein Bett legte, hatte die Panik bereits etwas nachgelassen. Dafür kam jetzt die Angst vor Entdeckung auf.
„Hat mich Jemand gesehen? Wie lange wird es dauern, bis man das Mädchen findet?“ fragte er sich selbst. Da kam ihm zum ersten mal der Gedanke, dass das Mädchen vielleicht noch am Leben war, als er es verließ. Bei weiterem Überlegen hielt er das aber wieder für sehr unwahrscheinlich. Schließlich war der Kopf des Mädchen stark deformiert und an einer Stelle glaubte er bereits das Gehirn gesehen zu haben. Letztendlich war er aber nicht sicher, ob es tatsächlich das Gehirn war oder ob es sich um Blut handelte. Zu aufgeregt war er gewesen. Schlafen konnte er in dieser Nacht nicht eine einzige Minute. Er wälzte sich im Bett von einer Seite auf die andere. Einschlafen war unmöglich. Am nächsten Morgen sah er verheerend aus. Seine Mutter fragte ihn, was passiert sei. Er antwortete nur, dass er schlecht geschlafen habe. Damit war sie erst mal zufrieden. Heinz hatte gelesen, dass es den Täter immer wieder an den Ort seines Verbrechens zieht. Er fühlte sich nicht als Verbrecher. Das war ein bedauerlicher Unfall. Er wollte das Mädchen gar nicht töten. Nun ertappte er sich schon bei dem Gedanken, dass sie tot war. Das war doch gar nicht sicher. Aber was war, wenn sie noch lebte? Sie könnte aussagen, wer ihr das angetan hat. Am liebsten wäre er gleich losgegangen, um zu sehen, ob sie noch an dem Platz lag, an dem er sie verlassen hatte. Nur mit Mühe konnte er diesen Wunsch unterdrücken. Seine Vernunft war stärker. Nun hieß es Abwarten. Erste Nachwirkungen seiner Tat stellten sich gleich am nächsten Tag ein. Er konnte an nichts anderes mehr denken. Als er seinem Meister in der Werkstatt helfen musste, ein Fernsehgerät zu tragen, war er so unkonzentriert, das es ihm aus den Händen glitt. Der Meister konnte es alleine nicht mehr halten, so dass es auf den Boden knallte und die Bildröhre zerbrach. Ein Riesenkrach mit dem Meister war die Folge. Er beschimpfte ihn aufs übelste und forderte ihn auf, früher aus der Disco heimzugehen.
Die besorgten Eltern des Mädchens sprachen gleich am nächsten Tag bei der Polizei vor. Die Beamten versuchten sie zu beruhigen. Vor einer Suche sollten sie alle anderen Möglichkeiten in Betracht ziehen und selber suchen, bzw. alle Bekannten ihrer Tochter fragen. Schließlich war hier auf dem Lande noch nie etwas Schlimmes passiert. Die Sache würde sich sicher bald in Wohlgefallen auflösen. Als Dagmar auch einen Tag darauf nicht aufzufinden war, begann die Polizei nachzuforschen. Am dritten Tag stellte die Polizei einen kleinen Suchtrupp, bestehend aus freiwilligen aus dem Dorf zusammen. Dieser durchsuchte das Dorf, die Umgebung des Dorfes, angrenzende Wiesen, Maisfelder, Getreidefelder und auch den Wald. Gegen drei Uhr Nachmittags fand der Suchtrupp die tote Dagmar am Waldrand. Der Fund sprach sich noch am selben Tag im ganzen Ort herum. Nun hatte Heinz Gewissheit. Gegenüber seinen Eltern heuchelte er Betroffenheit. Dass man nun nicht einmal mehr auf dem Lande seines Lebens mehr sicher sein könne und so weiter. Jetzt war ihm klar, das seine Tat nicht mehr gut zu machen war. Auch in dieser Nacht schlief er sehr schlecht. Am nächsten Morgen war ein Bild von Dagmar in der Zeitung. Ein ganz normales Passfoto. Sie hatte lange blonde Haare. Vor wenigen Wochen war sie vierzehn Jahre alt geworden. Bei dem Gedanken daran, dass sie ihn vielleicht gemocht hätte, musste er die Tränen unterdrücken. Um dieses Gefühl loszuwerden, redete er sich immer wieder ein, dass sie ihn sicher auch bald verspottet hätte. So konnte er leichter damit umgehen.
In den nächsten Tagen befragte die Polizei viele Leute aus dem Dorf, aber auch aus dem Nachbardorf, ob sie das Mädchen gesehen hatten. Eine Frau aus dem Nachbardorf gab an, das Mädchen gegen neun Uhr Abends auf dem Weg gesehen zu haben. Danach konnte Niemand mehr Angaben machen. Da das Mädchen weder bestohlen noch vergewaltigt worden war, stand die Polizei vor einem Rätsel. Auch den Grund für die Heftigkeit der Attacke konnte sich Niemand erklären. Ein Verrückter schien die Tat begangen zu haben. Nach einigen Tagen erschien ein weiterer Artikel in der Zeitung. Darin wurde das Ergebnis der Obduktion bekannt gegeben. Der Kopf des Mädchens war regelrecht zersplittert. Die Polizei fand Fußabdrücke von Turnschuhen einer bekannten Marke, sowie einige Fasern eines roten T-Shirts. Die Spuren führten sie jedoch nicht weiter.
Nachdem der Vater von Heinz den Artikel gelesen hatte, sagte er: „Dem Kerl würde ich alle Knochen einzeln brechen. Danach würde ich ihn am nächsten Baum aufhängen!“
Die Mutter entgegnete ihm: „So eine Bestie hätte man schon kurz nach der Geburt mit dem Kopf in einen Eimer Wasser stecken und ertränken sollen.“
Bei diesen Worten zuckte Heinz zusammen. Nachdem eine Woche vergangen war und kein Polizist bei Heinz vorgesprochen hatte, nahm er an, dass kein Verdacht gegen ihn vorliegt. Trotzdem kam er nicht zur Ruhe. Immer wieder kam es vor, dass sich die Leute im Dorf über die Gräueltat unterhielten. Einer sagte zum anderen: „Wenn ich den Kerl erwischen würde, würde ich ihm solange den Hals zudrücken, bis er verreckt ist!“
Wenn Heinz solche Äußerungen hörte, trat ihm immer öfter fast unmerklich der Schweiß auf die Stirn. Dann entfernte er sich möglichst schnell von den Leuten. Wenn er alleine war, dachte er immer wieder über seine Tat nach. Unerklärlich war ihm immer noch, warum er zu Dagmar gesagt hatte, er habe >Pestbeulen< anstatt zu sagen, er habe einen Hautausschlag. Des weiteren konnte er nicht begreifen, wie er so überreagieren konnte, nur weil sie vor ihm zurückgewichen war. Bei so einer furchtbaren Aussage würde Jeder zurückweichen. Auch warum gerade in diesem Augenblick die Gesichter seiner früheren Peiniger vor ihm auftauchten, war ihm schleierhaft. Bei diesen Überlegungen blieb es nicht. Immer öfter verfolgte ihn seine Tat im Traum. Anfangs sah er sich mit blutigen Händen neben seinem Opfer sitzen. Noch als er darüber nachdachte, was er tun soll, kamen Polizisten und legten ihm Handschellen an. Am Ende des Traumes wachte er immer schweißgebadet auf. Dann musste er in seinem Zimmer das Licht einschalten, um langsam begreifen zu können, dass er wach ist. In einem anderen Traum stand er vor Gericht. Als er erkannte, dass der Richter der Vater des Mädchens war und die Schöffen ihre Verwandten waren, befürchtete er das Schlimmste. Und tatsächlich: Der Richter verkündete das Urteil: „Zerquetscht seinen Kopf und werft sein Hirn den Vögeln zum Fraß vor!“
Sogleich wurde er aus dem Gerichtssaal geführt. Draußen wurde sein Kopf in eine große Presse gesteckt. In dem Moment, als der Pressbalken auf seinen Kopf niederging, wachte er auf.
Nach einigen Wochen begannen sich die Bilder seiner Tat mit denen seiner Peiniger aus seiner Kindheit in seinen Träumen zu vermischen. In einem Traum verfolgten ihn seine Mitschüler mit Hacken in den Händen. Sie drohten, ihm den Schädel zu spalten. Einer hatte ihn bereits erreicht und hielt ihn an seiner Jacke fest. Ein anderer holte mit seiner Hacke zum tödlichen Schlag aus. Da wachte er auf. Bei seiner Arbeit wurde er immer unkonzentrierter. Der Meister trug ihm auf, den Stecker des Fernsehgerätes, an dem er arbeiten wollte, vom Stromnetz zu trennen. Gedankenverloren zog Heinz den Stecker eines zweiten Gerätes aus der Steckdosenleiste. Der Meister glaubte, nun am Gerät arbeiten zu können. Als er nach wenigen Minuten einen Anschluss im Gerät berührte, erhielt er einen starken Stromschlag. Daraufhin kündigte er Heinz fristlos.
Nun hatte er sehr viel Zeit zum nachgrübeln. Nach einigen Wochen beschloss er, den Ort seiner Gräueltat zu besuchen. Andere hatten das auch getan. Aus purer Neugierde. Er würde also nicht auffallen, wenn er sich etwas an der Stelle umsah. Eines Morgens ging er zu der Stelle, an der er Dagmar erschlagen hatte. Er wusste noch ganz genau, wo sie gesessen hatte. Niemals würde er diese Stelle je vergessen können. Nichts erinnerte dort mehr an seine schreckliche Tat. Schon lange hatte der Regen die Blutspuren in den Boden gewaschen. Er blickte einige Zeit auf die Stelle, an der es geschehen war. Zu seiner Überraschung stellten sich keine Bilder seiner Tat ein. Auch war er nicht aufgeregt. Stattdessen sah er Dagmar auf dem Boden sitzen. Sie sah ihn ruhig an und sagte dann zu ihm: „Warum hast du das getan? Ich habe dich gemocht!“
Nach diesen Worten war die Stelle so leer wie vorher. Heinz verließ rasch die Stelle. Schließlich wollte er nicht auffallen. Sicher hatte seine Fantasie ihm einen neuen Streich gespielt. Zuhause angekommen, dachte er lange über das erlebte nach. Warum war er am Tatort nicht nervös geworden? Langsam wurde ihm klar, dass sich Nervosität nur dann bei ihm einstellte, wenn er glaubte, andere würden ihn gleich für seine Tat zur Rechenschaft ziehen. Im Grunde war es die Angst vor seinen Mitmenschen, die ihn soviel Kraft kostete. Die Tat selbst schien nicht so schwer zu wiegen, obwohl sie ihn auch sehr belastete. Nur auf eine andere Art. Sie erfüllte ihn eher mit Wehmut und Reue. Denn nach und nach begriff er immer deutlicher, dass er möglicherweise seine eigene, glückliche Zukunft, die er zusammen mit diesem Mädchen gehabt hätte, zerstört hatte.
Heinz wollte es nun genau wissen. Nach einigen Tagen suchte er erneut die Stelle seiner Bluttat auf. Wieder deutete rein äußerlich nichts mehr auf das grauenvollen Ereignis hin. Heinz war ruhig und gefasst. Er ahnte, dass nun gleich etwas geschehen würde. Nachdem er einige Minuten auf die Stelle sah, an der Dagmar gesessen hatte, sah er sie tatsächlich dort sitzen, genauso wie an jenem Abend. Sie sah ihn an und fragte: „Warum hast du unsere gemeinsame Zukunft zerstört?“
Da konnte er sich nicht mehr beherrschen und fing an zu weinen. Laut schluchzend entfernte er sich rasch von der Stelle. Erst nachdem er einige Minuten gegangen war, gelang es ihm, sich wieder zu fassen. Als er wieder fähig war, einen klaren Gedanken zu fassen, ging er sogleich in den Wald hinein. Niemand sollte ihn in der Nähe der Stelle weinen sehen, an der die schreckliche Tat geschah.
Ab diesem Tag ließen seine Albträume nach. Allmählich begriff er, dass es seine Vergangenheit war, die ihm seine Zukunft zerstört hatte. Er malte sich nun immer lebhafter aus, was er mit Dagmar zusammen alles hätte erleben können. Der Verlust schmerzte ihn sehr. War seine Vorstellung nicht ein wirklicherer Albtraum, als diejenigen, welche er Nachts träumte?
Um nicht aufzufallen ließ er wieder einige Tage verstreichen, bevor er den Ort seiner Tat erneut besuchte. Auch ging er nicht direkt darauf zu, sondern steuerte ihn auf seinem Spaziergang eher beiläufig an. Die Stelle am Waldrand lag so idyllisch da, wie eh und je. Wieder sah er einige Minuten auf die Stelle, an der Dagmar gesessen hatte. Nach einiger Zeit sah er sie wieder an der Stelle sitzen. Sie sah ihn an und sagte: „Denk immer an mich und vergiss mich nicht!“
Danach war sie verschwunden. Diesmal verließ er den Ort des Geschehens nicht fluchtartig. Er blieb noch einige Zeit lang stehen und dachte an sie. Danach entfernte er sich mit ruhigen Schritten. Er wurde ruhiger, wenngleich nicht glücklicher. Immer mehr schmerzte ihn der Tod von Dagmar. Immer mehr sah er ihren Tod als einen persönlichen Verlust an. Die schlimmen Erinnerungen aus seiner Kindheit verblassten regelrecht gegenüber dem Schmerz, den seine Vorstellung auslöste, die er sich von seiner nun verhinderten gemeinsamen Zukunft mit Dagmar machte.
Neugierig, was Dagmar bei seinem Nächsten Besuch zu ihm sagen würde, machte er nach einer Woche wieder einen Spaziergang. Wieder blickte er auf die Stelle, an der das Unfassbare geschehen war. Doch solange er auch auf die Stelle sah, nichts geschah. Langsam begriff er, dass alles gesagt zu sein schien, was gesagt werden musste. So ging er weiter. So oft er auch in den folgenden Jahren die Stelle seiner Untat besuchte, sie war leer. Zugleich blieb auch seine eigene Zukunft leer. Jedes mal, wenn er eine Frau sah, die ihm gefiel, musste er an Dagmar denken. So hatten seine Vergangenheit und auch er selbst, seine Zukunft zerstört. Auch noch nach vielen Jahren machte er, auf der Suche nach seinem Glück, immer wieder den gleichen Rundgang. Doch sein Leben blieb leer.

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Diese Geschichte schildert, wie verdrängte Erniedrigungen und Demütigungen wieder hochkommen und sich alter Hass an unschuldigen Menschen entlädt. Soll der Täter eingesperrt werden, oder hat er sich durch seine Tat selber bestraft?Peter Speil, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.02.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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