Jörg Öhler

Der Nachtwächter

WUZZ.
Plötzlich war der Strom weg und nichts ging mehr. Alex runzelte die Stirn und stieß einen missbilligenden Grunzlaut aus. Zuerst nicht wegen des Stromausfalls an sich, sondern weil er nun das Ende des Films verpassen würde. Zugegebenermaßen ein nur mittelmäßiger Streifen, aber es hätte ihn doch interessiert, wie er wohl geendet hätte.
Doch sein Ärger über das verpasste Ende verebbte schnell und er fragte sich, wie zur Hölle gerade hier der Strom ausfallen konnte. Schließlich war das hier eines der modernsten Bauwerke der Stadt, voll gestopft mit der neusten Technik. Selbst wenn jemand die Hauptstromleitung gekappt hätte, so müsste doch mindestens ein Notstromgenerator einspringen. Schließlich war eine autarke Stromversorg-ung elementar für dieses Gebäude.
Und gerade weil ein Stromausfall hier eigentlich gar nicht sein konnte, wurde aus seinem Ärger langsam aber sicher ein immer größeres Misstrauen. Er seufzte leise in Anbetracht der Probleme, die wohl auf ihn zukommen würden und erhob sich langsam aus seinem Sessel. Als er sich streckte, um die Müdigkeit aus seinen Knochen zu vertreiben, stieß er mit seinem Kopf unsanft an die Deckenlampe, die genau so wie sein Fernseher und der Rest der elektronischen Einrichtung dieses Zimmers den Geist aufgegeben hatte. Manchmal verfluchte er seine Körpergröße von fast zwei Metern. In seinem Beruf als Sicherheitsbeamter war sie zwar zusammen mit seinem Körpergewicht von stolzen 230 Pfund recht vorteilhaft, aber manchmal war eine so hünenhafte Statur einfach nur lästig. Er schnallte sich in der Dunkelheit sein Pistolenhalfter um, zog seine Jacke an und ließ den Strahl seiner Taschenlampe prüfend durch den Raum wandern. Ein hoch auf die Batterien! Allerdings wusste Alex nicht, wie viel Kapazität sie noch hatten und er entschloss sich nur davon Gebrauch zu machen, wenn es unbedingt notwendig sein sollte. Außerdem schadete das Licht nur seiner Fähigkeit, etwas im Dunklen wahrzunehmen.
Diese Geschichte hier ließ seine ganzen alten Instinkte wieder aufleben, die er sich in seiner Zeit als Polizist angeeignet hatte.
Wieso fiel in einem Gebäude wie diesem, dass einer Cryonic- Firma gehörte, der Strom aus? Ohne eine intakte Stromversorgung konnten die ganzen toten Spinner, die sich von seinem Arbeitgeber hatten einfrieren lassen nicht sehr lange frisch gehalten werden. Also müssten doch eigentlich sofort entsprechende Maßnahmen eingeleitet werden. Dass aber seit mehr als zwei Minuten nichts passierte, um all die Leichen davon abzuhalten aufzutauen, brachte in ihm sämtliche Alarmglocken dazu aufzuläuten. Zwar ließ ihn der Gedanke an den Gestank von 500 nicht mehr tiefgefrorenen Leichen in einer heißen Julinacht erschaudern, aber viel wichtiger war die Tatsache, dass sich jemand am Notfallsystem zu schaffen gemacht haben musste. Und dass dieser jemand sehr wahrscheinlich noch hier war.
Alex konnte sich nicht vorstellen, was es irgendwem bringen sollte, all die Leichen aufzutauen. Der einzige Grund dafür hier den Strom abzuschalten war der, ungehindert in den Tiefkühlbereich zu kommen.
In ihm stieg der grausame Verdacht auf, dass es nicht die Toten waren, die einen Einbrecher dort interessieren könnten. Wenn sich diese Ahnung bestätigen sollte, saß er wirklich bis zum Hals in der Scheiße. Er hatte auf einmal Probleme damit, am Klos in seinem Hals vorbeizuatmen.
Sollte tatsächlich jemand davon Wissen, dass er die Leichen als Versteck benutzte und dieses Wissen nun zur eigenen Bereicherung ausnutzen wollte, würde sich das ziemlich negativ auf Alex’ Zukunftsplanung auswirken. Spätestens in einer Woche würde er mit Betonschuhen an den Füßen auf dem Grund des Wannsees liegen. Die Mafia war in puncto finanzielle Verluste sehr sehr nachtragend. Aber das hatte er schon damals gewusst als er damit begonnen hatte, sich mit der ehrenwerten Gesell-schaft einzulassen. Zwar hatte ihn das seinen Polizeijob gekostet, aber diesen Preis war er bereit gewesen zu bezahlen. Das Geld hatte letztlich den Ausschlag gegeben.
Der Tod war ihm allerdings etwas zu teuer.
Fieberhaft überlegte er, wer wohl davon Wind bekommen haben könnte, dass er im Gefrierschrank von CryoTec Drogen für Michelangelo „Das Messer“ Panucchi versteckte. Ihm fiel niemand spezielles ein. Doch Alex wusste auch, dass er nicht gerade der Schweigsamste war, wenn er einmal einen über den Durst getrunken hatte.
Letztendlich spielte es aber auch gar keine große Rolle, wer ihn beklauen wollte. Hier ging einzig und allein um seien Arsch.
Alex begann still vor sich hinzufluchen als er darüber nachdachte, dass er vor fünf Minuten noch mit Jean Claude Van Damme mitgefiebert hatte und nun selbst in so einer scheißverzwickten Situation steckte, die ihn sein Leben kosten könnte. Er musste diesen Schweinehund aufhalten, der ihn beklauen wollte. Zielstrebig und mit ausgeschalteter Taschenlampe, um den anderen nicht vorzu-warnen, ging er in Richtung Gefrierabteilung.
Anstelle der offenen Türe, die er erwartet hatte, war hier aber alles ruhig. Etwas zu ruhig, aber das lag daran, dass die Kühlanlage nicht lief. Obwohl die Türe geschlossen und von innen nicht zu öffnen war, blieb das dumpfe Gefühl in seiner Magengegend. Er musste da rein gehen und sich versichern, dass wirklich alles in Ordnung war. Es stand einfach viel zuviel auf dem Spiel.
Mit einem leisen Knarren öffnete er die schwere Eisentüre des Gefrierbereichs. Jedes Mal wenn er diesen Raum betrat, dankte er dessen Erbauern dafür, dass die Tür nicht zufallen konnte. Bei -60°C und ohne Schutzanzug, von dem man annahm, dass ein einfacher Wachmann so etwas nicht benötigte, war es keine sehr angenehme Vorstellung, hier eingesperrt zu sein.
Seine entsicherte Waffe hielt er in der einen Hand, die Taschenlampe direkt darunter in der anderen, als er den Raum betrat. Die Kältewelle, die ihm entgegenschlug zeigte ihm, dass die Toten hier noch relativ frisch gehalten wurden.
Mit einer Mischung aus Angst und Konzentration knipste er die Taschenlampe an und sah sich gespannt um. Außer den Leichen und ihm war niemand da. Und es gab auch keine Anzeichen dafür, dass schon jemand hier gewesen war.
In seiner relativ langen Polizistenkarriere hatte Alex schon einige brenzlige Situationen erlebt, er konnte sich aber an keine erinnern, nach der er so extrem erleichtert gewesen war.
Nachdem der größte Teil der Anspannung so plötzlich von ihm abgefallen war, musste er unwillkürlich lächeln. Er musste sich das ganze Horrorszenario wohl nur eingebildet haben. Das kam davon, wenn man zu viele drittklassige Actionfilme ansah.
Seine Hochstimmung verflog so schnell wie sie gekommen war, als er hinter sich Schritte hörte. Außer ihm sollte doch niemand hier sein!
Er drehte sich um und sah gerade noch, wie die Türe ins Schloss geworfen wurde und hörte, wie jemand ein paar Mal rhythmisch dagegen schlug. Für Alex hörte sich das wie ein höhnisches Lachen an. Als wäre das noch nicht genug, ging die Beleuchtung an, und die Kühlung begann wieder zu arbeiten. „Was zur Hölle geht hier verdammt noch mal vor!!?“, brüllte Alex mehr verzweifelt als wütend.
Wie auf ein Stichwort quäkte sein Funkgerät.
„Ciao Alex. Hattest du wirklich gedacht, ich würde nicht erfahren, dass du in die eigene Tasche arbeitest, indem du den Stoff streckst?“, erklang eine Stimme, die zwar durch atmosphärisches Rauschen verzerrt war, aber dennoch nur einem einzigen Menschen gehören konnte. „Eigentlich habe ich dich fast schon gemocht. Aber ich kann es dir nicht durchgehen lassen, dass du mich bescheißt. Das ist schlecht für die Disziplin und den Respekt. Das verstehst du doch, oder?“
Alex sackte zusammen. Es war völlig unnötig zu antworten. „Das Messer“ war bestimmt schon auf dem Weg nach draußen. Und er selbst war so gut wie tot. Vor morgen früh würde ihn hier niemand finden. Das waren noch 9 Stunden. Die Kälte hier drinnen würde ihr übriges tun.
Nachdem er alle Alternativen durchgegangen war, und sich sicher war, dass es keinen anderen Ausweg gab, wurde er ganz ruhig. Er nahm seine Pistole aus dem Halfter und steckte sich den Lauf in den Mund. Er würde bestimmt nicht qualvoll an der Kälte verrecken, die sich schon durch seinen ganzen Körper zog. Wenn er schon sterben musste, dann auf seine eigene Art.
Als er abdrückte verfluchte er seine Raffgier, die ihn einmal Mehr in so eine Scheißlage gebracht hatte. Das Beste daran war wohl, dass es ein nächstes Mal nicht geben würde.
Nach diesen letzten Gedanken begann sein Gehirn sich an der Wand hinter ihm zu verteilen. Kein schöner Anblick, aber das interessierte Alex schon längst nicht mehr.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.07.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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