Romain Armand

ZWÖLF UHR MITTAGS



Scheppernd fällt die Wohnungstür ins Schloss. Muriels linke Hand, von der die Gewalttat in dieser Sekunde ausgegangen ist, bleibt unbeweglich, wie erstarrt, in der schwülen Luft des Spätsommervormittags auf Höhe stehen. Muriel lehnt ihren Körper an die sonnenbeschienene Wand, die durch die Helligkeit des Tageslichts noch widerwärtiger aussieht. Auf der ehemals hellblauen, längst verblichenen Tapete stehen Dutzende, unleserlich hingekritzelte Telefonnummern und Namen.

Namen von Agenten, Casting-Agenturen, Filmstudios, Produzenten, Schauspielkollegen, die ihr irgendwann einmal über den Weg gelaufen sind und die versprochen haben, an sie zu denken, wann immer sie einen Auftrag bekommen, den sie selber nicht machen können. Keiner von ihnen hat je zurückgerufen.

Vier Jahre bist Du jetzt in dieser verdammten, im Sommer permanent nach Autoabgasen stinkenden Stadt, Muriel, geistert eine Stimme durch ihren Kopf, die ihre Eigene sein muß. Vier Jahre, die so verdammt beschissen waren. Dabei hat alles ganz gut angefangen...

Jürgen P. hat ihr eines Abends in Berlin in einer Kneipe am Prenzlauer Berg von den Möglichkeiten als Schauspieler in den Staaten, speziell in Los Angeles, vorgeschwärmt, ihr erzählt, es gebe auch Mittel und Wege, problemlos die Green Card zu bekommen.

Und Muriel hat seine Karriere, seinen Namen vor Augen gehabt, ihren Zwei-Jahres-Vertrag an einem kleinen Berliner Theater, der gerade unter Dach und Fach war, noch in der gleichen Nacht einfach lachend aus dem offenen Wohnzimmerfenster ihres Appartments im fünften Stock flattern lassen, hat den Intendanten morgens um elf angerufen und gesagt, Hollywood ruft, ihr müßt ohne mich auskommen.

Jürgen P. hat ihr den Flug nach L.A. geschenkt, sie ein Vierteljahr lang in seinem Gartenhaus leben lassen. Er hat ihr ein paar kleinere Nebenrollen besorgt, sie als Komparsin in den Universal Studios eingeschleust. Ihr außergewöhnlich schönes Gesicht, die ausdrucksvollen graublauen Augen und das pechschwarze, glänzende, mittellange Haar hat sie als ihr Kapital gesehen.

Irgendwann hat Jürgen P. ihr gesagt, es sei jetzt Zeit für sie, auf eigenen Füßen zu stehen und sich eine Wohnung zu suchen. Zu diesem Zeitpunkt hat sie nicht glauben können, daß die großen Film-Angebote ausbleiben würden. Sie hat ein Sechs-Zimmer-Appartment in Beverly Hills angemietet, das Geld für die nötigen Möbel würde bald auf ihrem Konto sein.

Werbeverträge für Haarshampoo hat sie ebenso abgelehnt wie die Möglichkeit als Körperdouble für eine Hollywooddiva zu agieren. Ich werde doch ein Star, hat sie trotzig gedacht. Ihr Stolz hat die schmalen Karrierepfade mit der Zeit immer mehr zuwachsen lassen. Doch die großen amerikanischen Prachtalleen der Filmgeschichte waren ihr niemals, nicht mal für Sekunden zugedacht.

Sie hat das Geld für die monatliche Miete nicht aufbringen können. Der Umzug nach Santa Monica war schmerzlich. Anderthalb Zimmer-Appartment an einer der befahrensten Straßen der Stadt. Irgendwann würde sie es streichen müssen, hat sie am Tag des Einzugs gedacht, sich aber nicht dazu aufraffen können.

Vier Jahre Demütigungen, vier Jahre immer wieder die Begegnungen mit fettleibigen, schwitzenden Produzenten, die sie auf ihren Parties als optisches Juwel und als Toy-Girl gern dabei haben wollten, ihre aufgeschwemmten Gesichter an ihre Haut gedrückt haben, und lesbischen Agentinnen, die mit welken, lüsternen Fingern ihr junges Fleisch berührt haben, an ihrem schauspielerischen Talent aber nicht das geringste Interesse hatten.

Eintausendvierhundertdrei Tage in dieser gesichtslosen Stadt, in einem Hollywood, das nicht mal mehr einen Hauch des früheren Glamours in seinen Straßen versprüht...

Im Gegensatz zu vielen ihrer ebenfalls arbeitslosen Kollegen hat Muriel nie zu trinken angefangen. Doch in den letzten Monaten ist es immer häufiger vorgekommen, dass sie ihr karg möbliertes Anderthalb-Zimmer-Appartment tagelang nicht verlassen hat.

Sie hat auf ihrem Bett gesessen, mit fest an den Oberkörper herangezogenen Beinen, hat ihre Arme wie Eisenketten um sie herum gelegt, um sie am Weglaufen zu hindern, und einfach nur gewartet. Gewartet auf das Klopfen an ihrer Tür, das einen Freund verheißt. Gewartet auf das Klingeln des Telefons, auf einen großen Auftrag, auf die Rolle, die sie über Nacht zum Star macht.

Ihr Blick hat sich längst nicht mehr an dem mit alten Zeitungen übersäten Fußboden aufgehalten, hat die Teller mit Essensresten neben dem Herd, auf denen der Schimmel langsam, aber beharrlich Fuß gefasst hat, nicht registriert. Die wummernden Bässe aus der Nachbarwohnung, in der russische Einwanderer sich der amerikanischen Lebenskultur angepasst haben, hat sie als Geräuschkulisse ebenso teilnahmslos über sich ergehen lassen wie die Rush-Hour-Straßenkulisse, die sich direkt unter ihrem Fenster abgespielt hat.

Der Glanz in ihren Augen, der ihr in ihren Berliner Tagen positive Kritiken mit Worten wie Lebensfreude, personifiziertes Glück oder Optimismus in Reinkultur eingebracht hatte, ist erloschen. Ihre Haare staubgrau und stumpf, ihr Gesicht von allzu langer Schlaflosigkeit gezeichnet, ihr Stolz gebrochen.

Und dann, vorgestern, als sie wie an den Tagen zuvor wieder einmal seit Stunden reglos auf ihrem Bett sitzt und die Zahlenreihen an der verdreckten Wand anstarrt, ohne sie zu sehen, passiert das Unfassbare.

Ihr schon stumm geglaubtes Telefon klingelt plötzlich. Sie hat es erst beim dritten Klingeln registriert, sich suchend nach dem Apparat umgeschaut.

Ja, Muriel hier, hat sie müde in die Muschel hineingehaucht. Jürgen hat sie empfohlen. Er hat gesagt, sie können was! Wir machen ein Remake von „Zwölf Uhr mittags“, hat die Stimme am anderen Ende gesagt, wenn Sie Interesse haben, das Casting ist in den Universal Studios, im ehemaligen Flintstones-Bereich, um die Mittagszeit. Melden Sie sich an der Pforte!

Ja, hat sie nur geantwortet und einfach aufgelegt. Jürgen, hat sie minutenlang immer wieder wie eine Sprechübung in den Raum hinein gesprochen, Jürgen, jetzt werde ich ein Star! Der neue „Zwölf Uhr mittags“-Star! Und hat dann schallend zu lachen begonnen. Tränen haben sich einen Weg auf der fahlen Haut ihres Gesichts gebahnt.

Heute morgen ist Muriel schon um neun Uhr aufgestanden. Sie hat geduscht, ihre Haare gerichtet, sich eine halbe Ewigkeit lang geschminkt. Sie hat sich für ein rotes Kleid entschieden, es jedoch wieder ausziehen müssen, weil die Motten Löcher hineingefressen haben. Kurz vor zehn hat sie im knöchellangen, weißen Sommerkleid an der Straßenecke ein Taxi herangewunken. Wo wollen Sie hin, Lady, hat der Fahrer, ein bulliger Schwarzer mit dicker Hornbrille, gefragt. Zu den Universal-Studios hat sie gesagt und sich im Fond des Taxis auf den abgewetzten Ledersitz gesetzt.

Das Taxi ist schon eine Weile unterwegs, als Muriel mit abwesendem Blick plötzlich dem Fahrer auf die Schulter tippt. Fahren Sie mich zu einem Laden mit Outdoor-Zubehör sagt sie und bewegt dabei ihre Lippen kaum.

Sie hat das Taxi vor dem Laden warten lassen. Als sie die Papiertüte mit ihrem Einkauf auf den Rücksitz wirft, und daneben Platz nimmt, sieht der Fahrer fragend in den Rückspiegel. Fahren Sie einfach wieder dorthin, wo Sie mich vorhin abgeholt haben, sagt Muriel mit leiser Stimme.

Der Fahrer nickt freundlich, als sie ihm vor ihrer Haustür zwei Zwanzig-Dollar-Noten in die Hand drückt und dann ohne ein weiteres Wort im Hauseingang verschwindet.
Mit schweren Schritten geht sie die Treppen hinauf zu ihrer Wohnung.

Kleine Schweissperlen finden den Weg auf ihre Stirn. Sie sucht den Wohnungsschlüssel, öffnet die Tür, geht hinein und läßt die Tür krachend ins Schloss fallen.

Sie lehnt an der Wand, betrachtet das Interieur ihrer Wohnung. Ihr Bett, dessen Laken sie vor Ewigkeiten das letzte Mal gewechselt hat, ihren überdimensionalen Esstisch, über ihm ein tonnenschwerer uralter Kronleuchter, den ihr Vormieter in der Wohnung gelassen hat, an einen riesigen Haken gehängt, die vier Holzstühle drumherum. Die schäbige Holzkommode, die so viele Narben hat wie ihre Seele. Der verdreckte Herd, der Kühlschrank, der so leer ist wie ihr Innerstes.

Muriel geht zum Fenster, öffnet es, schaut lange hinaus in die gleißende Mittagssonne, die den Raum jetzt wie die Scheinwerfer am Drehort beleuchtet. Geankenverloren schreibt der Zeigefinger ihrer rechten Hand das Wort Star auf die verstaubte Fensterscheibe. Dann durchquert Muriel wieder den Raum, greift nach der Papiertüte, die sie auf der Taxifahrt begleitet hat.

Es ist zehn vor zwölf, als sie einen ihrer Stühle kraftlos auf den Tisch hebt, dann auf einen Zweiten mit den Füßen steigt, um den Weg auf die Tischplatte und den anderen Stuhl zu schaffen. In der linken Hand hält sie das Kletterseil, das sie aus der Papiertüte genommen hat.

Der Minutenzeiger springt genau in der gleichen Sekunde, in der Muriel mit einem kräftigen Tritt den Stuhl unter ihren Füßen fortstößt, auf 12 Uhr mittags.

Direkt unter Muriels Wohnzimmerfenster fährt Jürgen P. sein Chrysler Cabrio im gleichen Augenblick rückwärts in eine der Parklücken.

An der Pförtnerloge der Universal Studios warten weit über zweihundert Muriels darauf, heute zum Star zu werden.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.08.2004. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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